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Rot-grüne Innen- und Rechts­po­litik

vorgängevorgänge 12412/1993Seite 99-107

Niedersachsen setzt auf Reform und weitgehende Liberalisierung

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 99-107

Die Zeiten sind denkbar schlecht für eine liberale Innen- und Rechtspolitik, wie sie die Bundesrepublik so dringend nötig hätte: Den Auswirkungen wachsender sozialer Unsicherheit soll offenbar, so stehen die Zeichen, mit der Keule der sogenannten Inneren Sicherheit begegnet werden. Das sich angesichts eines dramatischen Sozialabbaus ausbreitende Gefühl sozialer Unsicherheit scheint erfolgreich umfunktioniert worden zu sein in eine alles überwuchernde Kriminalitätsfurcht, die von konservativen und rechtsgerichteten Parteien und Massenmedien fleißig bedient und geschürt wird.

Die tatsächlich wachsende Kriminalität, die politisch dramatisierte „Organisierte Kriminalität” und der aufflammende Neonazismus und Rechtsterrorismus liefern den Strategen der „Inneren Sicherheit” die wohlfeilen Legitimationen für den Ausbau des „Verfassungsschutzes”, die weitere Aufrüstung der Polizei und eine Verschärfung des Straf- und Haftrechts. Der schon populäre Hang zu einfachen strafrechtlichen und polizeilichen „Lösungen” (besser: Scheinlösungen), nimmt rapide zu — auch Kräfte aus dem liberalen Bürgertum und der verbliebenen „Linken” sind davon keineswegs mehr ausgenommen (s. Gössner, in: vorgänge 2/ 1993). Das Thema „Kriminalitätsbekämpfung” und „Innere Sicherheit” wird im Laufe der kommenden Wahlkämpfe eine herausragende Rolle spielen. In dieser schwierigen Situation versucht nun die rot-grüne Regierungskoalition in Niedersachsen an ihrem in der Koalitionsvereinbarung beschlossenen Reformprogramm festzuhalten und — gegen den zunehmenden Rechts(d)ruck —Ansätze liberaler Rechts- und Innenpolitik durchzusetzen.

Ich möchte dies an drei Beispielen aufzeigen: An den Reformgesetzen zum Datenschutz, „Verfassungsschutz” und zur Gefahrenabwehr sowie an den Plänen für eine umfassende Polizeireform. Unberücksichtigt bleiben hier die Novellierung der Landesverfassung sowie die Bemühungen um eine Reform des Straf- und Strafprozeßrechts, wie sie in den Empfehlungen der niedersächsischen Reformkommission zum Ausdruck kommen (vgl. Strafrecht — ultima ratio, Baden-Baden 1992).

Datenschutz im Aufschwung

Im Juni 1993 wurde vom Landtag ein neues Datenschutzgesetz verabschiedet, das endlich — zehn Jahre nach dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts — dem informationellen Selbstbestimmungsrecht der BürgerInnen dieses Landes auf die Sprünge zu helfen vermag. Zusammen mit anderen Verbesserungen in diesem Bereich ergibt sich folgende „Reform-Bilanz”:

  1. Die Stellung und damit die Unabhängigkeit des Landesdatenschutzbeauftragen (LID) wurde verfassungsrechtlich gestärkt: Er wird nicht mehr von der Regierung ernannt, sondern mit Zwei-Drittel-Mehrheit vom Landtag gewählt;
  2. seine Kontrollkompetenzen wurden über den öffentlichen Bereich hinaus auf die Privatwirtschaft ausgeweitet;
  3. die bislang völlig unzureichende personelle Ausstattung des LfD wurde auf ein erträgliches Maß angehoben;
  4. der Datenschutz gilt von nun an nicht nur für automatisierte Dateien, sondern wird auch auf Aktenbestände ausgedehnt;
  5. erstmals wird neben dem Auskunftsrecht für betroffene BürgerInnen ein — wenn auch einschränkbares — Akteneinsichtsrecht normiert;
  6. erstmals müssen alle öffentlichen Stellen, die Personendaten automatisiert verarbeiten, einen behördlichen Datenschutzbeauftragten bestellen.

Trotz dieser fortschrittlichen Regelungen ist das neue Gesetz nicht unbedingt „revolutionär” zu nennen: Denn den Gefahren neuer Datenverarbeitungstechniken, verstärkter Vernetzung und zunehmenden grenzüberschreitenden Datenaustauschs kann auch mit diesem Gesetz kaum angemessen präventiv begegnet werden. Allerdings wurde ein vielversprechender Anfang gewagt: Auf Initiative der grünen Landtagsfraktion und des LfD erfolgte die Aufnahme einer Regelung, die im Falle der Einführung oder wesentlichen Änderung eines automatisierten Datenverarbeitungsverfahrens obligatorisch eine Technikfolgen-Abschätzung vorschreibt: Die negativen sozialen Folgen und bürgerrechtlichen Nebenwirkungen moderner Technologien müssen vor deren regulären Einsatz ergründet und „durch technische oder organisatorische Maßnahmen wirksam beherrscht werden” ( § 7 Abs. 3 NDSG).

Thilo Weichert, Referent beim LfD, hält das neue Reformwerk für ein „gediegenes Datenschutzgesetz”, das sich — bei aller Kritik —,,,in vieler Hinsicht positiv von Gesetzen anderer Länder unterscheidet“. Und der Datenschutzbeauftragte Gerhard Dronsch kommentiert die Lage mit den Worten: „In Niedersachsen besteht für den Datenschutz zur Zeit Anlaß zu Optimismus.”

„Verfas­sungs­schutz” rechts­s­taat­lich „gezähmt”

Der Landtag hat im Oktober 1992 mit den Stimmen der rot-grünen Koalition ein neues „Verfassungsschutz“-Gesetz verabschiedet. CDU und FDP stimmten dagegen. Dieses Gesetz beschreitet in einigen wesentlichen Punkten neue Wege und hebt sich in weiten Teilen von all den anderen „Verfassungsschutz“-Gesetzen des Bundes und der Länder positiv ab; es darf mit Fug und Recht als das „liberalste” Verfassungsschutzgesetz der Bundesrepublik bezeichnet werden. Jürgen Seifert, der an den Beratungen zum VS-Gesetz (und zum Polizei-Gesetz) beteiligt war, hob besonders hervor, daß Bürgerrechtsorganisationen angehört sowie kritische Wissenschaftler und Praktiker an den Beratungen beteiligt wurden.

Nachdem die grüne Forderung nach Auflösung des „Verfassungsschutzes” (VS) in Niedersachsen schon während der Koalitionsverhandlungen mit der SPD gescheitert war, mußte — notgedrungen — der wahrlich schwierige Versuch unternommen werden, diesen per se kaum kontrollierbaren Geheimdienst mit all seinen negativen Implikationen wenigstens rechtsstaatlich zu „zähmen”, seine Transparenz zu erhöhen und die demokratische Kontrolle zu verbessern. Damit sollten insbesondere auch Konsequenzen aus den unsäglichen Skandalen der Vergangenheit gezogen werden („Celler Loch”, Affären des Agenten Mauss …).

Wie gut dieser Versuch gelungen zu sein scheint, läßt sich nicht zuletzt an den Reaktionen der CDU-Landtagsfraktion ablesen. Schon bei der Einbringung des Gesetzentwurfs in den Landtag sprach sie von einem „Verfassungsschutzauflösungsgesetz”; den Grünen sei es mit diesem Gesetz (die CDU spricht wörtlich von einer „Mißgeburt”) gelungen, die künftige Arbeit des VS zu erschweren, in Teilen unmöglich zu machen und den VS darüber hinaus personell und finanziell auszutrocknen, sprich: zu reduzieren. Der VS wurde in der Tat von 350 auf 248 Bedienstete abgespeckt (im nachrichtendienstlichen Bereich unter 200, was m.E. immer noch zu viel ist), seine Haushaltsmittel um über 20 Prozent gekürzt. Abermals die CDU im 0 -Ton: „Das neue Verfassungsschutzgesetz schadet den Bemühungen aller Demokraten, dem Rechtsextremismus den Boden zu entziehen … Gerade in dieser Zeit … hätte der Verfassungsschutz eigentlich verstärkt und nicht geschwächt werden müssen … Rot-grün zerschlägt den Verfassungsschutz zu einem Zeitpunkt, wo täglich neue Angriffe auf den Staat (!) stattfinden …” Auf den Staat, wohlgemerkt, nicht etwa auf AusländerInnen, Kinder, Obdachlose und Behinderte …

Und ausgerechnet der „Verfassungsschutz”, der seit jeher die „Gefahren des Kommunismus und Linksextremismus” übersteigert und die des Neonazismus systematisch verharmlost hat, soll nun plötzlich — mangels anderer Legitimationen — Garant für die Eindämmung dieser Gefahr werden? Ausgerechnet der VS, dessen Gründungspersonal weitgehend NS-belastet war,der in den achtziger Jahren kaum vor den Gefahren von Neonazismus und Rechtsterrorismus warnte, obwohl diese schon damals u.a. 30 Todesopfer und viele z.T. schwer Verletzte forderten (übrigens dreimal soviele wie von sogenannten Linksterroristen verursacht, auf die bekanntlich eine wahre Terroristenjagd veranstaltet wurde); aber selbst nach der deutschen Vereinigung hat der „Verfassungsschutz” noch nicht einmal rechtzeitig laut und deutlich vor dem aufflammenden Neonazismus gewarnt, zumindest hat er in seiner auf links fixierten Einäugigkeit (die er mit Polizei und Justiz lange Zeit teilte) falsch gewichtet (was sich inzwischen in Niedersachsen zu ändern scheint). Und schon gar nicht war der VS in der Lage, diese Entwicklung auch nur einzudämmen. Jedes politikwissenschaftliche Institut kann fundierter und mit wesentlich besseren analytischen Fähigkeiten solche Phänomene erforschen und erklären.

Der VS hat jedenfalls als „Frühwarnsystem”, das er nach Auffassung seiner Protagonisten eigentlich sein soll, auf der ganzen Linie versagt. Diesen Aufgabenbereich nun als neue Legitimation für den VS zu reklamieren, scheint ein Public- Relation Trick, der auf antifaschistische Akzeptanz spekuliert. Eine starke antifaschistische, soziale und demokratisch legitimierte offene Politik ist auch in diesem Bereich eher in der Lage, das vorhandene Gefahrenpotential zu verringern, als den Ausbau bzw. die Aufrechterhaltung eines geheimen und schwer kontrollierbaren staatlichen Gefährdungspotentials.

Zurück zum neuen niedersächsischen VS-Gesetz. Es sind insbesondere folgende Punkte, die der Verdammnis durch die rechtsgerichteten Kritiker anheimfallen:

Der Versuch einer einschränkenden Konkretisierung der VS- Tätigkeit: So reicht — außer bei Spionageabwehr — für ein gezieltes Tätigwerden des VS nicht mehr das bloße Vorliegen von „Bestrebungen” gegen den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung”, sondern solche Bestrebungen müssen entweder auf Gewaltanwendung gerichtet sein oder aber sie müssen sich in „aktiv kämpferischer, aggressiver Weise” gegen bestimmte Verfassungsgrundsätze richten. Diese Einschränkung ist insofern positiv zu werten, als sie ein Anknüpfen für das Tätigwerden des VS wenigstens tendenziell von der Gesinnungsebene auf die Verhaltensebene verlagert. Nicht mehr und nicht weniger.

Kommentar der Bundesregierung und des Bundesamtes für Verfassungsschutz: Mit dieser einschränkenden Abweichung würde die Zusammenarbeitspflicht aller VS-Behörden verletzt; damit sei die Eingriffsschwelle für ein Tätigwerden des VS zu hoch angesetzt, weshalb die „Extremisten” objektiv begünstigt würden. Inzwischen sehen sich die Kritiker vom Oberverwaltungsgericht (OVG) Lüneburg bestätigt: In einem umstrittenen Eilbeschluß hat das OVG dem Land Niedersachsen (vorläufig) untersagt, die rechtsradikale Partei „Die Republikaner” weiter mit nachrichtendienstlichen Mitteln des VS überwachen zu lassen; die Eingriffsschwelle des niedersächsischen Verfassungsschutzgesetzes mit seiner „Agressions- Klausel” sei im Falle der niedersächsischen REP’s nicht erreicht. Dieser Beschluß, der den Druck gegen das liberale VS-Gesetz verstärkte, scheint politisch motiviert. Denn es geht auch anders: So hat das Verwaltungsgericht Stuttgart für Baden-Württemberg (wo im VS- Gesetz keine „Aggressions-Klausel” existiert) entschieden, daß die erhöhte Eingriffsschwelle — zumindest für die Beobachtung von Parteien — bereits aus der Verfassung folge (das sogenannte Parteienprivileg); und diese Schwelle sei im Fall der baden-württembergischen REP’s erreicht, so daß sie weiter vom VS mit nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden dürfen.

Doch zurück zu Niedersachsen: Zum ersten mal in der deutschen Geheimdienst-Geschichte werden in einem VS-Gesetz die zulässigen nachrichtendienstlichen Mittel in einem abschließenden Katalog aufgelistet: V-Leute und verdeckt ermittelnde Beamten, Observationen und Bildaufzeichnung, heimliches Mithören mit und ohne Einsatz technischer Mittel, Beobachtung des Funkverkehrs auf nicht für den allgemeinen Empfang bestimmten Kanälen, verdeckte Ermittlungen und Verwendung von (fingierten) Legenden, von Tarnpapieren und Tarnkennzeichen, Überwachung des Brief-, Post- und Fernmeldeverkehrs (nach dem G-10-Abhörgesetz des Bundes von 1968).

Wenn dem VS die nachrichtendienstlichen Mittel schon nicht untersagt werden können (was die beste aller Lösungen wäre), so entspricht dieses Novum einer abschließenden Aufzählung doch wenigstens einer alten bürgerrechtlichen Minimalforderung, die auf mehr Normenklarheit und Transparenz abzielt. In bisherigen VS-Gesetzen werden nachrichtendienstliche Mittel, wenn überhaupt, nur beispielhaft aufgeführt (mit Ausnahme Brandenburgs, das insoweit dem niedersächsischen Beispiel gefolgt ist), so daß gesetzlich offen bleibt, was in der Praxis alles unter diese Mittel gefaßt werden kann. Mit dem niedersächsischen Numerus clausus wird demgegenüber erreicht, daß keine Mittel, die über diesen Katalog hinausgehen, angewandt werden dürfen — also z.B. die Sprengung des „Celler Lochs”, die seinerzeit als nachrichtendienstliches Mittel gerechtfertigt wurde, wäre nun eindeutig gesetzeswidrig.

Bundesregierung sowie die niedersächsische CDU/FDP-Opposition rügen, die Regelung sei zu unflexibel, müsse doch bei jeder Innovation das Gesetz geändert werden. Der Handlungsspielraum sei „in kaum mehr hinnehmbarer Weise” eingeschränkt und dem Gegner werde auch noch Einblick in das geheime VS-Arsenal gewährt.

Personen, die aufgrund ihres Berufes das besondere Vertrauen ihrer Mitmenschen genießen (Zeugnisverweigerungsberechtigte), dürfen vom VS nicht (mehr) als V-Leute bzw. Auskunftspersonen mißbraucht werden. Hierzu gehören: Geistliche, Rechtsanwälte, Ärzte, Apotheker, Journalisten, Abgeordnete u.a. Eine solche Regelung, die erstmalig in einem VS-Gesetz auftaucht, scheint notwendig, um die eigens geschützten, besonderen Vertrauensverhältnisse nicht zur Makulatur werden zu lassen.

Beim Einsatz von nachrichtendienstlichen Mitteln wird künftig der Schutzbereich des Artikel 13 GG ausdrücklich gewahrt, das heißt: Lausch- und Spähangriffe mit technischen Mitteln innerhalb von Wohnungen sind dem niedersächsischen VS verboten, die Unverletzlichkeit der Wohnung ist also insoweit geschützt.

Alle Bürger und Bürgerinnen dieses Bundeslandes haben das Recht, ohne Nennung eines „konkreten Sachverhalts” Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten Daten zu verlangen. zwar kann der VS im Einzelfall nach wie vor die Auskunft verweigern, doch sind die Verweigerungsgründe gegenüber Regelungen anderer Länder wohltuend reduziert: Die Feststellung, daß „eine Gefährdung der Aufgabenerfüllung durch die Auskunftserteilung zu besorgen” sei oder die Daten „ihrem Wesen nach” geheimgehalten werden müßten, reicht nicht mehr aus, weil sonst jede Auskunft verweigert werden könnte. Ein Akteneinsichtsrecht wird den Betroffenen allerdings nicht gewährt. Kommentar der CDU: Der VS werde zu einer „Auskunftei degradiert” und dadurch in seiner Arbeitsfähigkeit gefährdet.

Die parlamentarische Kontrolle des VS wird endlich verbessert: Jede Fraktion erhält mindestens einen Sitz im neuen Kontroll-Ausschuß des Landtages, womit gesichert wird, daß auch kleine Fraktionen an der VS-Kontrolle beteiligt werden;  seine Kontrollrechte wurden wesentlich erweitert und auf aktive Informations(zugangs)rechte ausgedehnt. Neben dem Recht auf Unterrichtung durch die Landesregierung (auf das sich die meisten anderen VS-Gesetze beschränken) hat der Ausschuß das Recht auf Einsicht in Akten und andere Unterlagen, Zugang zu Einrichtungen der Verfassungsschutzbehörde sowie auf Anhörung von Auskunftspersonen; diese Rechte sind bereits auf Antrag nur eines Mitglieds geltend zu machen.

Dem VS wird nach dem neuen Gesetz mehr Transparenz abverlangt: So hat er in seinen öffentlichen Berichten die Summe der Haushaltsmittel sowie die Gesamtzahl seiner Bediensteten anzugeben; ferner ist allgemein über die Anwendung der eingesetzten nachrichtendienstlichen Mittel zu berichten.

Der CDU geht diese verbesserte Kontrolle und Transparenz entschieden zu weit; sie sei verfassungswidrig. Darauf der grüne Landtagsabgeordnete Hannes Kempmann: „Es ist
schon ein Stück aus dem Tollhaus: Ausgerechnet Parlamentarier, deren Aufgabe die Kontrolle der Regierung ist, wehren sich hier gegen eine Verbesserung ihres Rechtes auf Kontrolle des VS”.

Zu diesem Reformgesetz meint ein CDU–Abgeordneter noch anmerken zu müssen: . „Ich verstehe das Interesse der Grünen; Wenn man den Verfassungsschutz schon nicht abschaffen konnte, dann wollte man es wenigstens erreichen, ihn in Teilen lahmzulegen. Das ist gut gelungen, hervorragend gelungen.” Immerhin: auch ein Kompliment! Zwar kann ich dieser Einschätzung keinen so rechten Glauben schenken, doch werte ich das Verdikt aus der rechtskonservativen Ecke dennoch als Ansporn, an dem Entwurf einer geheimdienstfreien Gesellschaft weiterzuarbeiten.

Polizei­re­form und rot-grüne Gefah­re­n­ab­wehr

Nach den skandalträchtigen achtziger Jahren (Mauss-Affären, SoKo „Zitrone”; geheimpolizeiliche Verstrickungen) und wegen struktureller Mängel sowie gesellschaftlicher Erfordernisse soll die Polizei im rot-grün regierten Niedersachsen einer grundlegenden Reform unterzogen werden. Das Ziel: „eine betont grundrechtsorientierte und bürgerfreundlich arbeitende Polizei (Bürgerpolizei)“. Darauf hatten sich Grüne und SPD in ihrer Koalitionsvereinbarung geeinigt. Eine eigens berufene Polizei-Reform-Kommission, zusammengesetzt aus Praktikern und Wissenschaftlern, arbeitete über zwei Jahre lang und legte im Frühjahr 1993 ihre Arbeitsergebnisse vor, die ab Herbst 1993 umgesetzt werden sollen. Dann wird sich zeigen, so der Regierungspräsident von Hannover, Hans-Albert Lennartz (Grüne), „wie die Landesregierung die Chance wahrnimmt, die in der Bundesrepublik bislang einmaligen Ansätze dieser Reformkommission umzusetzen«.

Es soll prinzipiell kein Bereich von der umfassenden Polizeireform „verschont« werden: Veränderung des Berufsbildes hin zu einer „Bürgerpolizei« , weitgehende Dezentralisierung der Organisationsstruktur und Reduzierung der Hierarchieebenen (von vier auf drei); Gewährleistung  innerer Transparenz und demokratischer Verfahrensweisen;  bürgernahe Bearbeitung von Kriminalität durch Schutz– und Kriminalpolizeikräfte in Teamarbeit (Integration von SchuPo und KriPo);  Fachhochschul-Ausbildung und Öffnung des polizeilichen Ausbildungssystems hin zur Gesellschaft; Stärkung eigenständigen Denkens, der Kritikfähigkeit, Eigenverantwortung und sozialen Kompetenz; Maßnahmen zur Entkriminalisierung, Entpoenalisierung und informellen Konfliktregelung; Verstärkung der gesellschaftlichen Präventionsarbeit durch sog. Präventionsräte und restriktiver Einsatz polizeilicher Gewaltmittel; Reduzierung der geschlossenen Einheiten der Bereitschaftspolizei von bisher 9 auf 7 Einsatzhundertschaften), Entkasernierung und Einbindung in den polizeilichen Einzeldienst; Entwicklung von Deeskalationskonzepten und Streßbewältigungsprogrammen; Einführung der zweigeteilten Laufbahn, Verbesserung der öffentlichen Kontrolle.

Albrecht Funk, kritischer Polizeiwissenschaftler an der Freien Universität Berlin und zeitweise Mitglied der Reform-Kommission, bewertet deren Reformvorschläge folgendermaßen: Was die Kommission zur Ausbildung, inneren Führung, geschlossenen Einsätzen entwickelt habe, „geht weit über das hinaus, was in deutschen Polizeien bis jetzt angedacht worden ist“. Er hoffe, daß „die Arbeit Maßstäbe setzt in der deutschen Diskussion und zu einer gewissen Umorientierung einer bis jetzt noch völlig eindimensionalen Sicherheits- und Kriminalitätsdiskussion” führen möge. Die Reformbemühungen der rot-grünen Regierungskoalition werden weitgehend auch von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) im DGB mitgetragen; nicht jedoch vom rechtskonservativen Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) , der im Falle einer Umsetzung der Reform das Ende der Kriminalpolizei nahen und Niedersachsen zum „Schlaraffenland für Kriminelle” verkommen sieht.

Ein weiteres schwieriges Kapitel innerer Sicherheitspolitik wurde im Dezember 1992 auf den parlamentarischen Weg gebracht: Der Entwurf eines neuen Polizeigesetzes unter der Bezeichnung „Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz”. Ende 1993 soll es verabschiedet werden.

Längst schon erschallen kräftige Stimmen aus Kreisen der Polizei, der CDU und FDP, die gegen diesen Entwurf mobilisieren: Das geplante Gesetz erschwere — zumal in Zeiten der „organisierten Kriminalität und des Rechtsterrors — eine wirksame Bekämpfung der Kriminalität”, sei von „überzogenem Datenschutz” gekennzeichnet und führe letztlich zur Verunsicherung der Polizei.  Die FDP führt es auf den Einfluß der grünen Landtagsfraktion zurück, daß der Entwurf den Anschein erwecke, „als müsse man die Gesellschaft mehr vor der Polizei als vor den Kriminellen schützen”. Der Entwurf dokumentiere ein „gestörtes Verhältnis zu Staat und Polizei”: „Sie schwächen die Polizei . . . Sie haben den Verfassungsschutz kaputtgemacht, und die Polizei wollen Sie kaputtmachen” — schallt es im Landtag dem grünen Abgeordneten Hannes Kempmann von seiten der CDU entgegen.

Was nun regt die Kritiker dermaßen auf? Dieser Gesetzentwurf ist der Versuch, eine schwierige Balance  zustande zubringen. Einerseits folgt er dem bedenklichen bundesweiten Rechtstrend, den polizeilichen Aufgabenbereich weit zu gestalten und die sog. Gefahrenvorsorge und Straftaten-Verhütung miteinzubeziehen — was im übrigen bundesweit längst Polizei-Praxis ist (Abkehr von den eingrenzenden Kriterien der „konkreten Gefahr”, des sogenannten Störers und des Verdachts einer strafbaren Handlung); außerdem sollen geheimpolizeiliche Mittel und Methoden legalisiert werden, die in der Praxis bundesweit ebenfalls Anwendung finden und legalisiert sind — gleichwohl dem Grundsatz, Polizei solle prinzipiell offen, berechenbar und kontrollierbar arbeiten, zuwiderlaufen. Diese Entwicklung ist offensichtlich auch in einem rot-grün regierten Bundesland nicht mehr zu revidieren.

Angesichts dieser starken Tendenz ins Vorfeld sollen in Niedersachsen wenigstens besonders umstrittene Geheimmittel und -methoden, wie der „Verdeckte Ermittler” und die „Rasterfahndung” nicht legalisiert werden; und für die im Entwurf abschließend normierten verdeckten Methoden (längerfristige Observation, Einsatz verdeckter technischer Mittel für Lausch- und Spähangriffe, unter engsten Voraussetzungen auch in oder aus einer Wohnung, Verwendung von V-Leuten und die Polizeiliche Beobachtung) mußten relativ hohe Eingriffsschwellen und bessere öffentliche Kontrollmöglichkeiten gefunden werden, weil diese Maßnahmen schwerwiegende Eingriffe in die Intimsphäre und Bürgerrechte bedeuten.

Dies ist — nach langen und schwierigen Verhandlungen — weitgehend gelungen (allerdings in den zuständigen Parlamentsausschüssen stark umstritten). Nur drei Beispiele (ausführlicher s. Gössner, in: Bürgerrechte & Polizei 2/ 1992): Die Behandlung festgehaltener Personen wird entscheidend verbessert: Die Neufassung des Entwurfs sieht nämlich ausdrücklich das Recht der festgehaltenen Person vor, auch eine „Rechtsanwältin, einen Rechtsanwalt oder eine Person ihres Vertrauens zu benachrichtigen und zu ihrer Beratung hinzuzuziehen”. Damit ist eine Regelung gefunden worden, die der schlechten Polizeipraxis in diesem Bereich entgegenwirken kann und die über die Regelungen in anderen Polizeigesetzen erheblich hinausgeht. Erstmalig in der Polizeirechtsgeschichte soll nun ausdrücklich normiert werden, daß die Polizei — ähnlich wie schon im neuen VS-Gesetz geregelt — zeugnisverweigerungsberechtigte Personen — wie Rechtsanwälte, Ärzte, Journalisten, Drogenberater und deren Berufshelfer —„nicht von sich aus“ als V-Personen in Anspruch nehmen darf; außerdem konnte durchgesetzt werden, daß im beruflichen Tätigkeitsbereich jener zeugnisverweigerungsberechtigten Personen V-Leute nicht verwendet werden dürfen.

Ebenfalls erstmalig in der Polizeirechtsgeschichte werden aus den äußerst negativen Erfahrungen mit dem in manchen Deliktbereichen grassierenden V-Leute-Unwesen endlich gesetzliche Konsequenzen gezogen: So wird nun künftig normativ ausgeschlossen, daß V-Leute als Lockspitzel bzw. agents provocateurs verwendet werden. Eine solche Regelung soll nicht nur verhindern, daß — wie es nicht selten passiert — andere zu Straftaten angestiftet werden, sondern es soll auch verhindert werden, daß aus „kleinen Fischen” (etwa Kleindealern), meist mit viel „Vorzeige-Geld”, „große Fische” gemacht werden — Polizei eigenen produzierte Fänge, die dann der staunenden Öffentlichkeit als große Fahndungserfolge präsentiert werden. Über diese Einschränkungen hinaus wird auf die Regelung des gezielten polizeilichen Todesschusses, die im bisherigen Polizeigesetz enthalten ist, verzichtet. Die Vorschriften zu polizeilichen Razzien und zu Kontrollstellen auf Straßen und Plätzen werden mit Verfahrenssicherungen und engeren Schranken versehen (u.a. trifft das Verwaltungsgericht die Entscheidung, wobei die Anordnung Bestimmungen über Ort, Zeit und Anzahl der Kontrollstellen enthalten muß). Außerdem werden Kontrolle und Transparenz der Polizei wenigstens ansatzweise verbessert: Die Landesregierung wird künftig dem Parlament jährlich einen Bericht erstatten müssen, in dem sie u.a. auf den Einsatz besonderer polizeilicher Mittel und Methoden einzugehen hat, also etwa auf die Einrichtung von Kontrollstellen, auf Observationen, den verdeckten Einsatz von technischen Mitteln oder auf die Verwendung von V-Leuten.

Im Vergleich zu anderen Polizeigesetzen und entgegen dem bundesweiten Trend in Richtung weiterer Gesetzesverschärfungen, bietet der vorliegende Gesetzesentwurf, trotz mancher gravierender Mängel, gute — auch innovative — Ansätze liberaler Rechtspolitik. Es ging auch hier, wie Jürgen Seifert feststellt, um „Millimeterarbeit”. Einer effektiven Gefahrenabwehr steht indes — entgegen mancher Panikmache von interessierter Seite — nichts im Wege, auch nicht der Bekämpfung schwerer Kriminalität und des Rechtsterrorismus, wenn der politische Wille vorhanden ist (hierfür wurde vom Kabinett ein Sonderprogramm zur Kriminalitätsbekämpfung in Höhe von 150 Mio. DM beschlossen; außerdem ist die Polizei vom allgemeinen Sparerlaß des Landes ausgenommen). Wer das Gegenteil behauptet, schürt in unverantwortlicher Weise Ängste, was in Zeiten wachsender sozialer Unsicherheit und Ungerechtigkeiten auf besonders fruchtbaren Boden fällt.

Wir müssen uns endlich von der fixen Idee verabschieden, als gebe es eine polizeiliche „Lösung” politisch und ökonomisch verursachter sozialer Probleme und Konflikte, die mit immer neuen Gesetzesverschärfungen und staatlichen Aufrüstungsmaßnahmen in den Griff zu bekommen seien. Denn mit einer solchen „Sicherheits-„Konzeption wird der Polizei-Einsatz zum Politik-Ersatz, wird neue Unsicherheit produziert.

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