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Kronzeu­gen­-Pro­zesse als Folge der deutschen Vereinigung

vorgängevorgänge 12412/1993Seite 34-37

Das Starnmheimer Polit-Verfahren gegen Ingrid Jakobsmeier

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 34-37

Kaum wahrgenommen von der Öffentlichkeit wird gegenwärtig eine Serie von Prozessen gegen (ehemalige) Mitglieder der „Rote Armee Fraktion” (RAF) abgewickelt. Allesamt sind sie bereits verurteilt worden und sitzen ihre langjährigen oder lebenslänglichen Freiheitsstrafen ab. Allesamt werden sie von Kronzeugen aus der ehemaligen DDR belastet, alle Verfahren vom Problem der Doppelbestrafung. Werden diese Prozesse den Anforderungen an ein faires Verfahren gerecht?

Am 18. Oktober 1993 hat der 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Stuttgart nach sechsmonatiger Verhandlungsdauer in Stammheim die 39jährige Ingrid Jakobsmeier wegen Mordversuchs und vorsätzlicher Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion sowie wegen Beihilfe zum Mordversuch zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt. Der Staatsschutz-Sondersenat des Oberlandesgerichts hält die Angeklagte für schuldig, im Rahmen ihrer RAF-Mitgliedschaft als Mittäterin an dem Sprengstoff-Anschlag der Gruppe auf den US-Militärflughafen Ramstein im Jahre 1981 beteiligt gewesen zu sein,  der Anschlag richtete sich gegen das „elektronische Nervenzentrum“ des US-Militärstützpunktes und verletzte 17 Personen. Außerdem wird Jakobsmeier für schuldig gehalten ebenfalls 1981 zu dem fehlgeschlagenen Attentat auf den NATO-General Frederik Kroesen in Heidelberg Beihilfe geleistet zu haben.

Ingrid Jakobsmeier ist damit zum zweiten Mal für Handlungen verurteilt worden, die ihr im selben Zeitraum und im selben Lebenszusammenhang angelastet werden. Bereits 1986 ist sie u.a. wegen Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden, die sie inzwischen verbüßt hat; diese Strafe wird in das neue Strafmaß einbezogen, so daß die Verurteilte regulär noch weitere sechs Jahre abzusitzen hätte — im günstigsten Fall wird sie nach Verbüßung von zwei Dritteln im Herbst 1994 freikommen.

Das neue Urteil weicht nicht unerheblich vom Antrag der Bundesanwaltschaft ab, die wegen zweifachen Mordversuchs auf Lebenslänglich plädierte. Damit hat sich das Gericht in gewisser Weise aus der Affäre gezogen, die sich angesichts einer recht mißlichen Beweissituation immer deutlicher abzeichnete.

Kronzeugen: RAF-Aussteiger aus dem DDR-Asyl

Daß dieses und die anderen Verfahren gegen längst Verurteilte überhaupt eröffnet werden konnten hat mit dem Anschluß der DDR an die BRD zu tun: Die neuen Vorwürfe beruhen nämlich auf Aussagen einiger in der Ex-DDR untergetauchten RAF-Aussteiger, die sich mit Hilfe der Stasi im „Arbeiter- und Bauernstaat” eine neue, kleinbürgerlich-realsozialistische Existenz aufbauen konnten, Familien gründeten und Kinder in die Welt setzten. Sie hatten viel zu verlieren: Nach ihrer Entdeckung erwarteten sie, so die Pläne der Bundesanwaltschaft, lebenslange Freiheitsstrafen. Um dieser drohenden „Lebensperspektive” zu entgehen, offenbarten sich einige der RAF-Pensionäre den Ermittlungsbehörden und belasteten ihre früheren Genossen und Genossinnen zum Teil schwer. Im Jakobsmeier- Verfahren stützte sich das Gericht überwiegend auf den RAF-Aussteiger Henning Beer als Hauptbelastungszeuge der Anklage. Das birgt Probleme, die mit der gesetzlichen Zulassung und gerichtlichen Anerkennung von Kronzeugen zusammenhängen. Denn damit wird zugelassen, was sonst in rechtsstaatlich gestalteten Strafprozessen absolut verpönt ist: der „gekaufte“ Zeuge. Selbst tief in Schuld verstrickt kauft er sich durch den Verrat seiner Mitgenossen vom Staat frei und hilft auf diese Weise der Staatsanwaltschaft aus der Beweisnot-Patsche.

Hinzu kommt das Problem der Kronzeugen-Gewinnung in der ehemaligen DDR. Die Verhaftung der späteren Kronzeugen erfolgte in einer historisch bislang einmaligen politisch-rechtlichen Situation zweier grundsätzlich eigenständiger Staaten. Die Umstände wie die westdeutschen Ermittler des Bundeskriminalamtes und des Generalbundesanwalts sowie die Geheimen des „Verfassungsschutzes“ im Jahre 1990 diese DDR-Staatsbürger in der noch existierenden DDR zu Kronzeugen machten, sind bis heute nicht vollständig geklärt. Fest steht nur, daß in der DDR eine Kronzeugenregelung, wie sie in der BRD seit 1989 Gesetz ist, nicht existierte. Gleichwohl wurde schon damals den Verhafteten die bundesdeutsche Kronzeugenregelung nahegebracht.

Zu fragen ist also: Wurden den Betroffenen damit gesetzlich nicht vorgesehene Vorteile versprochen, was einen Verstoß gegen 136a StPO („Verbotene Vernehmungsmethoden“) bedeuten würde? Dies hätte zur Folge, daß die so gewonnenen Aussagen nicht verwertet werden dürften. Sind die Betroffenen unter psychischen Druck gesetzt worden, wie sah der Handel um die Wahrheit“ im einzelnen aus? Wie steht es um die Glaubwürdigkeit von Zeugen, die um eigener Vorteile willen andere belasten? Denn: Wo der Verrat um des persönlichen Vorteils willen gefordert ist, da sind falsche Bezichtigungen geradezu vorprogrammiert.

Der Beweiswert eines solchermaßen „gekauften” Zeugen sinkt gen Null —  worauf Jakobsmeiers Verteidiger Martin Heiming und Thomas Scherzberg in ihrem vergeblichen Antrag auf Einstellung des Verfahrens hingewiesen haben: „Mit einem Kronzeugen ist kein faires Verfahren möglich.“

Kronzeugenrabatt

Der in der DDR zum Montageschlosser ausgebildete RAF-Aussteiger Henning Beer wurde nach seiner Verhaftung und Kürung zum Kronzeugen vom Oberlandesgericht Koblenz 1991 wegen gemeinschaftlich versuchten Mordes an sieben Menschen, wegen Beihilfe zum versuchten Mord an 21 Menschen, vorsätzlicher Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion, wegen schweren Raubes und Verstoßes gegen das Waffengesetz und wegen Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung” zu einer Jugendfreiheitsstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilt.

Obwohl das Koblenzer OLG festgestellt hat, daß Beer mit 20 Jahren in die RAF aufgenommen worden sei (1978) und von da an bis 1981 an den abgeurteilten Straftaten beteiligt gewesen sei, wurde er nicht nach Erwachsenen-, sondern lediglich nach Jugendstrafrecht verurteilt; diese Vergünstigung — auch als Kronzeugenrabatt zu kennzeichnen — ersparte ihm ein Lebenslänglich, das angesichts der Schwere der vorgeworfenen Straftaten im Bereich des Möglichen gewesen wate. Doch auch unter Anwendung des Jugendstrafrechts ist ihm nicht die Höchststrafe von 10 Jahren aufgebürdet worden, sondern er kam mit sechseinhalb Jahren davon. Inzwischen ist er bereits vorzeitig aus der Haft entlassen worden.

Freie richter­liche Beweis­wür­di­gung

Allerdings hat Beer in der Verhandlung gegen Jakobsmeier die ihm zugedachte Rolle als Hauptbelastungszeuge nur ungenügend gespielt, denn er hat den erwarteten Beweis nicht geliefert. Jedenfalls konnte er eine unmittelbare Tatbeteiligung der Angeklagten an den ihr vorgeworfenen RAF-Aktionen nicht bestätigen. Daß Ingrid Jakobsmeier keine Entscheidungsträgerin in der Gruppe war, lediglich an den gemeinsamen Diskussionen beteiligt gewesen sei, wie alle anderen hinter den politischen Zielen gestanden und Kontakte zur „Unterstützer-Szene“ hergestellt habe — das waren noch die klarsten Aussagen des Kronzeugen. Alles andere: eigene Mutmaßungen und ihm nahegelegte Schlußfolgerungen.

Doch der Sondersenat des OLG, der Beer für glaubwürdig hielt, hat in seinem Urteil aus diesen Aussagen und einigen Indizien im Wege der „freien richterlichen Beweiswürdigung” gleichwohl Beweise konstruiert: Jakobsmeier habe mit ihrem Verhalten vor und nach den Anschlägen sowie mit ihrer Gesinnung, „fanatische Haltung“ gezeigt, daß sie „ohne wenn und aber“ hinter den Anschlägen gestanden habe und diese auch wollte.

Doppel­be­stra­fungs­verbot oder: Zweimal hält besser?

Spätestens hier taucht die Frage auf: Ist Ingrid Jakobsmeier für diese Beschuldigungen nicht bereits in ihrem ersten Verfahren bestraft worden? Es geht dabei um das Problem des sog. Strafklage-Verbrauchs nach Art. 103 Grundgesetz, wonach niemand wegen derselben Tat mehrfach bestraft werden darf.

Ingrid Jakobsmeier ist 1986 u.a. wegen ihrer Mitgliedschaft in der „terroristischen Vereinigung” RAF seit 1981 zu neun Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Im zweiten Verfahren wurden ihr nun die beiden Anschläge aus dem Jahre 1981 zur Last gelegt, an denen sie als RAF-Mitglied angeblich beteiligt gewesen sein soll — Taten, die zum Zeitpunkt ihrer ersten Verurteilung bereits bekannt waren und in der ersten Anklageschrift sowie im Urteil von 1986 auch Berücksichtigung gefunden hatten. In diesem rechtskräftigen Urteil wurde festgestellt, daß sich Jakobsmeier als Mitglied der RAF „nachhaltig und fortdauernd für deren Belange” eingesetzt, „vielerlei Tätigkeiten für diese Vereinigung” verrichtet und „die Begehung auch schwerster Straftaten” wie Mord und Sprengstoffanschläge gebilligt habe.

Die Jakobsmeier im zweiten Prozeß zur Last gelegten Taten fanden bereits in diesem Urteil Erwähnung, ohne jedoch ihre direkte Beteiligung nachweisen zu können. Doch diese Beweislücke konnte, nach üblichem Muster in RAF–Prozessen, mit der rechtsstaatlich bedenklichen Konstruktion der Kollektivität überbrückt werden. In den Urteilsgründen von 1986 ist dazu folgendes zu lesen: „Die ,RAF‘ ist straff organisiert. Ihr innerer Zusammenhalt gründet sich auf unbedingte Unterordnung des einzelnen Mitglieds unter die allgemeinen Ziele der Vereinigung und den Gruppenwillen. Entscheidungen der Gruppe, die ihren Willen nach dem Prinzip grundsätzlicher Gleichberechtigung der Mitglieder in Form von Kollektiventscheidungen bildet, gelten ihren Anhängern als verbindlich”.

Auf diese Weise wurden alle Mitglieder der sog. Kommandoebene zu Mittätern an den der RAF zugerechneten Taten befördert – gleichgültig, ob sie im Einzelfall direkt daran beteiligt waren oder nicht.

Ingrid Jakobsmeier sieht sich einer Doppelbenachteiligung ausgesetzt: Im ersten Urteil wurde festgestellt, daß sie nicht nur Mitglied einer „terroristischen Vereinigung” war, sondern daß sie auch die dieser Vereinigung zugerechneten schweren Straftaten – also u.a. die Anschläge in Ramstein und auf Kroesen – gebilligt und damit als eigene Taten gewollt habe; und nun wurde sie für eben diese beiden Tatkomplexe, für die sie sozusagen schon mal kollektiv belangt worden ist, nochmals speziell und individuell verurteilt. Das rechtsstaatliche Gebot der Rechtssicherheit gebietet aber, daß der Strafanspruch des Staates dann verbraucht ist, wenn aufgrund eines Strafverfahrens bereits über dieselbe Tat im gleichen historischen Kontext entschieden wurde. Daher lag hier, wegen Verstoßes gegen das Doppelbestrafungsverbot des Grundgesetzes, ein Prozeßhindernis vor, wie es die Verteidigung frühzeitig geltend machte.

Das Gericht zieht sich aus der Affäre

Doch das Oberlandesgericht Stuttgart hat sich über diese Probleme „souverän“ hinweggesetzt. In der mündlichen Urteilsbegründung betonte der Vorsitzende Richter, der Senat habe strafmildernd u.a. berücksichtigt, daß die Angeklagte sich vom aktiven Kampf der RAF losgesagt habe. Mit seinem vom Antrag der Bundesanwaltschaft (Lebenslänglich) abweichenden Urteil von 15 Jahren Freiheitsentzug hat sich das Gericht angesichts der aufgezeigten Probleme in einen Kompromiß gerettet bzw.

aus der Affäre gestohlen: So konnte es den Prozeß bis zum bitteren Ende durchziehen und das Nicht-Lebenslänglich gleichzeitig als „konsequente Fortsetzung” einer „Versöhnungsstrategie” verkaufen. Das Urteil kann allerdings auch als Signal verstanden werden, wie die weiteren Verfahren, trotz aller rechtsstaatlichen Bedenken, durchgezogen werden können. Die gesamte Kronzeugen-Prozeßserie gegen bereits verurteilte Gefangene aus der RAF bleibt jedenfalls ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die eine politische Lösung dieses gewaltgesättigten Kapitels westdeutscher Geschichte anstreben.

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