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Entgrenzung der Staats­ge­walt

Die CDU und die Innere Sicherheit

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 68-79

Innere Sicherheit hat sich in den letzten Monaten zu einem der Top-Themen der öffentlichen politischen Diskussion entwickelt. CDU und SPD kündigten an, sie zum zentralen Topos im Bundestagswahlkampf 1994 zu machen. Der im Sommer dieses Jahres vorgelegte Antrag des Bundesvorstandes der CDU für den 4. Parteitag im September 1993 mit dem Titel: „Kriminalität entschlossen bekämpfen  — Innere Sicherheit stärken” liest sich vor diesem Hintergrund als ein Schritt der Wahlkampfvorbereitung. Es hat mit der besonderen populistischen Qualität von Diskursen über Innere Sicherheit zu tun, daß gerade dieses Thema in Wahlkampfzeiten so beliebt ist und daher von der CDU zu besetzen versucht wird. Die Verantwortlichen in den großen Massenparteien scheinen das erkannt zu haben und sich darin einig zu sein, daß trotz oder vielleicht auch wegen der aktuell besonders vielfältigen und gravierenden gesellschaftlichen Probleme insbesondere das Thema Innere Sicherheit dazu geeignet ist, die Stammwählerschaft zu stabilisieren und die — zunehmend bedeutsamer werdenden — Wechselwähler zu gewinnen.

Innere Sicherheit als Wahlkampf­t­hema

Bereits der Titel des CDU-Papiers verdeutlicht, was hier wie im übrigen auch in der allgemeinen Diskussion unter Innerer Sicherheit verstanden wird, nämlich die „Sicherheit der Bürger vor Verbrechen. Ist von Innerer Sicherheit die Rede, geht es nicht etwa um die vielfältigen Gefahren, denen die Mitglieder einer Gesellschaft durch innere Bedrohungen ausgesetzt sind, sondern um einen kleinen Ausschnitt von Risiken, die als Kriminalität angesehen werden. Innere Sicherheit umfaßt also nicht Gesundheitsgefahren durch genehmigte Umweltverschmutzung, nicht soziale Verelendung durch Massenentlassungen und Kürzungen von Sozialleistungen, auch nicht Vernichtungsbedrohungen durch den legalen Betrieb von Kernkraftwerken. Mit der Überschrift „Innere Sicherheit“ werden weder sämtliche Gefahren innerhalb einer Gesellschaft noch ein von den Phänomenen und ihrer Entstehung her auch nur irgendwie homogener Ausschnitt derselben angesprochen.

Was Problemen Innerer Sicherheit gemeinsam ist und was sie von anderen Gefährdungen und Schädigungen unterscheidet, ist die Art der Ursachenkonstruktion und die Art der staatlichen Verarbeitung. Als Probleme Innerer Sicherheit gelten solche Schädigungen, Gefährdungen und Beeinträchtigungen, deren Zustandekommen dem Handeln individueller Rechtsbrecher angelastet und deren Bekämpfung daher primär in Form von strafrechtlicher Sanktionierung oder polizeilich-präventiver Verhinderung und Beendung gesehen wird. Bei den in dieser Weise als  Kriminalität gerahmten Verhaltensweisen handelt es sich nicht um solche, die durchgängig eine besondere Gefährlichkeit im Vergleich Verhaltensweisen aufweisen, sondern um eine nach diesen Kriterien sehr beliebige Auswahl von Gefahrenquellen.

Als Kriminalität gilt in einer Gesellschaft all das, was im historischen Prozeß der Rechtsetzung aus dem unbegrenzten Pool potentiell gefahren bringender Verhaltensweisen aussortiert und gedanklich von dem komplexen sozialen Kontext isoliert und individualisiert wurde. Eine Gefahr als durch kriminelles Verhalten verursacht anzusehen, bedeutet daher zweierlei: die Verantwortlichmachung einzelner Akteure für die Gefahr sowie die Moralisierung und moralische Ächtung des entsprechenden Verhaltens. So wird das Problem zu einem der moralischen Integrität einzelner Täter und der zugrundeliegende gesellschaftliche, soziale und interaktive Kontext verliert weitgehend an Bedeutung. Das Strafrecht tritt mit jenem moralischen Anspruch der Allgemeingültigkeit und Ausschließlichkeit auf, der eine Handlung nahezu vollständig von ihrem Kontext isoliert.

Das Konzept duldet per definitionem keine legitimen, allgemein geltenden Entstehungshintergründe im sozialen und gesellschaftlichen Handlungszusammenhang. Vielmehr wird den einzelnen Akteuren im Bereich Kriminalität eine übergreifende moralische Verhaltensfestigkeit und -sicherheit abverlangt. Maßnahmen der Kriminalprävention konzentrieren sich folglich auf die Stabilisierung dieser moralischen Qualitäten und auf die Institutionen, die für die Herausbildung derselben vermeintlich verantwortlich sind (Moralinstitutionen wie Familie, Schule, Medien etc.). Die Verarbeitung und Rahmung gesellschaftlicher Sicherheitsprobleme als Kriminalitätsgefahren stellt daher eine funktionale, vereinfachende Form der Entpolitisierung und Komplexitätsreduktion dar.

In anderen Politikfeldern und Problemzusammenhängen (wie z.B. soziale Ungleichheit, Armut, Verteilung und befriedigende Verteilung von Wohnraum oder Erwerbsarbeit) ist es weitaus komplizierter, schnelle, einfache und populäre Antworten zu finden: Problemursachen können hier schwieriger entziffert, isoliert und individualisiert werden. Denn zum einen handelt es sich bei den relevanten Akteuren um Interessen- und damit um zu berücksichtigende Wählergruppen (Wohnungseigentümer und Mieter, Produktionsmittelbesitzer und abhängig Beschäftigte etc.); zum anderen haben sich deren Interessen historisch mit je unterschiedlichem Gewicht strukturiert und verdinglicht, wodurch sie als „unhintergehbare“ Sach- und Systemzwänge in Erscheinung treten. Für  Maßnahmen zur Behebung der aktuellen Wohnraumprobleme etwa bestehen in diesem Sinne praktisch zwei gleichermaßen unbefriedigende Optionen: entweder wird massiv in die Interessen und die Autonomie der Wohnraumproduzenten und -besitzer eingegriffen und man riskiert, daß diese Personengruppe nicht nur als Wählerpotential verloren geht, sondern gleichzeitig ihre ökonomische (Verweigerungs-)Macht einsetzt und die Situation noch mehr verschärft; oder aber man akzeptiert die „Verkleidung” der Interessenpositionen als Sachzwänge (um mehr Wohnraum zu bekommen, muß Vermietung profitabel sein, müssen Mieten entsprechend hoch sein, darf der Mieterschutz eine bestimmte Grenze nicht überschreiten etc.). Das wiederum hat zur Folge, daß kaum noch Spielräume für effektive Maßnahmen verbleiben. Werden hingegen gesellschaftliche Probleme als solche der „Inneren Sicherheit” gerahmt, stellt sich die Situation entschieden einfacher dar. Indem man Innere Sicherheit als die Sicherheit (fast) aller Gesellschaftsmitglieder konstruiert, kann man, ohne relevante Wählergruppen zu verprellen, entsprechenden Verstößen vermeintlich dadurch entgegentreten, daß man sie möglichst lückenlos und konsequent ahndet oder unterbindet, Die Gefahrenquelle wird in diesem Konzept über Individualisierung isolier-, greif- und handhabbar. Im Extremfall kann sie sogar per lebenslanger Freiheitsstrafe scheinbar eliminiert werden.

Dieses Modell von Gefahrenbekämpfung und Sicherheitsproduktion funktioniert in der Praxis allerdings nur schlecht, denn normative Orientierungen stellen nur einen, jeweils sehr unterschiedlich gewichtigen Teilaspekt von Handlungsorientierungen dar. Für die Handelnden besteht jederzeit die Möglichkeit, Normen zu relativieren, zu vernachlässigen oder auch einen Normbruch von der Norm zu distanzieren. Gleichwohl besitzt das Modell aber doch eine bestechende Simplizität, die sich in keinem anderen Politikbereich finden läßt. Bereits dieser Aspekt prädestiniert das Thema „Innere Sicherheit” für den Wahlkampf. Hinzu kommt, daß mit Innerer Sicherheit nicht ein begrenzter und spezieller Problemzusammenhang angesprochen wird, sondern ein Bereich, in dem sich eine Vielzahl von Problemen überlagert (Wirtschaftskriminalität, Alltagskriminalität, Umweltkriminalität etc.). Darüber hinaus ist es möglich, mit dem Thema Innere Sicherheit die gesamte wahlberechtigte Bevölkerung anzusprechen (nicht nur eine bestimmte Interessengruppe), an Emotionen der Angst ebenso wie der Wut und des Neides anzuknüpfen, einfache Lösungsmuster anzubieten und in Form der Forderung nach mehr und konsequenterer Strafverfolgung und Polizeipräsenz Tatkraft und Entschlossenheit zu signalisieren. Die ansonsten so komplexen und widersprüchlichen gesellschaftlichen Zielsetzungen und Interessenlagen sind im Bereich Innerer Sicherheit auf wundersame Weise verschwunden, und diese Reduktion ist zu einem gesellschaftlichen Konsens erstarrt. Da weder CDU noch SPD für die tieferliegenden Probleme der Gesellschaft vorweisen bzw. sich zu solchen deshalb nicht durchringen können, weil sie damit ihren Status als Massenpartei gefährden würden, ist die Innere Sicherheit für beide Parteien ein idealer Schauplatz, um sich die Wählerschaft zu sichern und den Parteienwettstreit zu inszenieren. Mit den Konzepten Kriminalität und Innere Sicherheit wird dabei weder eine begründbare Auswahl der drängendsten sozialen Probleme erfaßt, noch ist über die entsprechende Verarbeitung eine Problemlösung oder auch nur Abmilderung zu erwarten.

Das Ziel dieser Konzepte scheint weniger die Sicherheit der Bürger, als vielmehr die Sicherstellung eines altgedienten Feindbildes zu sein. Kriminalität eignet sich gerade deshalb so gut als Fokus für die Inszenierung von Bedrohung, da sie die Voraussetzungen eines idealen Feindes mitbringt: Der Feind läßt sich in Form von gefährlichen Kriminellen personifizieren. „Kriminelle” sind Feinde, hinter denen keine gesellschaftlich mächtige Gruppe steht. Die Verunsicherung durch Massenkriminalität und Organisierte Kriminalität rechtfertigt Sondervollmachten für die Kontrollinstanzen, die über offizielle Verlautbarungen im politischen Diskurs legitimiert werden können. Der Feind „Kriminalität” bleibt immer am Leben; das bedeutet, daß der Kampf noch erfolgreicher geführt werden könnte, „würden die Generäle mit noch mehr Vollmachten und Mitteln ausgestattet”. Kriminalität kann zugleich überwunden und erhalten werden, das heißt, das Konzept besitzt hinreichend Profil, um als Kriminalität bekämpft zu werden; zugleich aber bleibt es unklar genug, um bei Bedarf aktualisiert zu werden, da Kriminalität gleichsam hinter der nächsten Ecke zu vermuten ist. Die Dramatisierung der Kriminalitäts-Bedrohung lenkt von anderen gesellschaftlichen (Groß-)Problemen ab. Dieses Konzept funktioniert nur deshalb so gut, weil Kriminalität an erfahrbare Problemsituationen anknüpft. [2]

Fragwürdig an dem Konstrukt Innere Sicherheit als Wahlkampfthema — wie als Thema des politischen Diskurses überhaupt — ist daher nicht nur, daß es von komplexeren und nach Lösung drängenden Problemen und Gefahren der Gegenwart ablenkt, sondern fragwürdig ist auch das Spiel mit den gefährlichen Waffen der Kriminalitätsbekämpfung, denn der Staat der maximalen Inneren Sicherheit ist und bleibt der Polizeistaat. Maximale Strafverfolgung und polizeiliche Gefahrenabwehr bedeuten die Preisgabe der Sphäre der bürgerlichen Freiheitsrechte, die Unterwerfung der Bürger unter die staatliche Gewalt und die Auslieferung der Bürger an das Wohlwollen der staatlichen Organe.

Bedrohungsszenario

Die umrissenen Charakteristika von Diskursen über Innere Sicherheit finden sich selbstverständlich auch im Antrag des Bundesvorstandes der CDU. Hervorstechend ist eine subtile, augenscheinlich überlegte Verknüpfung unterschiedlicher Elemente, die ein Szenario der Bedrohung zeichnen. Aufgegriffen werden dabei eben jene Symptome, welche bereits medial inszenierte Themen der Bedrohung darstellen. Die CDU-Programmatik trifft daher auf ein bereits weitgehend konsentiertes Bild von Bedrohlichkeit und knüpft auf diese Weise an eine in der Bevölkerung vorhandene Stimmung an. Themen wie Gewalt und Gewaltanstieg in der Gesellschaft, dramatisch zunehmende Eigentums-, Ausländer-, Drogen- und natürlich Organisierte Kriminalität dominieren das Szenario der Bedrohung: „Die anwachsende Kriminalität und die zunehmende Gewalt in unserer Gesellschaft muß uns mit großer Sorge erfüllen. Mehr als sechs Millionen Straftaten wurden 1992 in Deutschland registriert. Die Polizeilichen Kriminalstatistiken weisen in manchen Sparten dramatische Steigerungsraten aus. Dies gilt — nicht nur, aber vor allem — im Bereich der Eigentumsdelikte, die den Bürger im Alltag besonders betreffen. Dabei handelt es sich oftmals um Erscheinungsformen Organisierter Kriminalität. Viele Mitbürgerinnen und Mitbürger fühlen sich angesichts dieser Entwicklung verunsichert, bedroht und gefährdet. Sie erwarten zu Recht, daß der Staat alles daran setzt, um Kriminalität und Gewalt nachhaltig entgegenzutreten“ (S. 3).

Nun soll an dieser Stelle der Anstieg der polizeilich registrierten Kriminalität und auch die durchaus zunehmende Besorgnis weiter Teile der Bevölkerung über diese statistische Kriminalitätsentwicklung gar nicht in Frage gestellt werden. Gleichwohl ist zu berücksichtigen, daß beide Indikatoren keineswegs die objektive Bedrohung der Bevölkerung durch Kriminalität wiedergeben: Während schon die Kriminalstatistik zu großen Teilen eher ein Spiegel des Anzeigeverhaltens der Bevölkerung und der Arbeitsschwerpunkte der Polizei ist [3], geht das Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung primär aus der massenmedial vermittelten Bedrohungslage hervor. [4] In der Regel ist eine erhebliche Diskrepanz zwischen subjektivem Bedrohungsempfinden und der an anderen Indikatoren offiziell bemessenen Kriminalität zu verzeichnen. Die Ursache für das subjektive Unsicherheitsempfinden liegt in einem Komplex von Unsicherheitsfaktoren begründet, die nicht auf den Aspekt der Kriminalität reduzierbar, sondern in das Feld politisch-ökonomischer Bedingungen eingewoben sind. Soziale, ökonomische und ökologische Bedrohungen versetzen in eine Lage der Ungewissheit, der eine entsprechende Stimmung nachfolgt. Im politischen Diskurs — und so auch in dem vorliegenden CDU-Papier — kann diese Stimmung mit einer Ursachenzuschreibung im Sinne von Kriminalität kanalisiert und verkürzt werden. Die vorhandenen sozialen Bedrohungen geben somit den Nährboden ab, auf dem Kriminalitätsfurcht heraufbeschworen und verstärkt wird durch medial erzeugte Szenarien von Gefahren, die wiederum zugleich von politisch-ökonomischen Ursachen gesellschaftlicher Schieflagen ab-lenken. Indem z.B. Delikttypen, wie Einbruch, die klassischerweise als Einzeltaten aus dem Bereich der Alltagskriminalität deklariert wurden, mit Massenkriminalität und Organisierter Kriminalität in Verbindung gebracht werden, stilisiert man sie zu einem massenhaft bedrohlichen, nämlich organisierten Verbrechen.

Begleitet wird die solchermaßen vorgenommene Zuspitzung eines gesellschaftlichen Zerfalls in dem CDU-Papier durch ein entsprechendes Vokabular, welches die Gefahren einerseits schon in den Details zeichnet und andererseits zugleich sondiert zwischen Gut und Böse, Schlechtem und zu Erhaltendem. Diese Polarisierung wird dadurch pointiert, daß es die „Schwächeren in der Gesellschaft” seien, zu deren Schutz es eines starken staatlichen Gewaltmonopols bedürfe (S. 3). Damit wird ein eindeutig bestimmbarer Wertekanon suggeriert und als konsensfähiges Raster des Zusammenlebens („bewährte Grundwerte“) präsentiert: „Das Anwachsen der Massenkriminalität spiegelt einen gesellschaftlichen Wertewandel wider. Achtung vor Leib und Leben, fremdem Hab und Gut, Solidarität mit den Mitmenschen, Rechts- und Unrechtsbewusstsein haben abgenommen. Ohne einen allgemein gültigen und eingehaltenen Konsens über Recht und Ordnung kommt keine Gesellschaft aus. Wir halten es daher für dringend geboten, die Akzeptanz des rechtsstaatlichen Werte- und Normengefüges zu verbessern. Die Gültigkeit unserer bewährten Grundwerte,die Verbundenheit und das Verantwortungsgefühl gegenüber Familie, Gesellschaft und Staat sowie die Achtung auch der ungeschriebenen sozialen Verhaltensregeln haben langfristig einen erheblichen Einfluß auf die Kriminalitätsentwicklung” (S. 5).

Diesem konservativen Wertemodell entspricht die Vorstellung von einer ebenso eindeutig bestimmbaren gesellschaftlichen Ordnung, in der die Familie die „Keimzelle” des Staates und des gesellschaftlichen Miteinanders darstellt  —  ein Modell, das alternative, von der traditionellen Kernfamilie abweichende Lebensformen als suspekt und nicht in die normale Ordnung passend ausschließt. Auf staatlicher Ebene wird diese „gemeinschaftliche Gesellschaftlichkeit“ getragen
durch ein wiederum eindeutig bestimmbares Ordnungsgefüge, in dem das Recht und die staatlichen Ordnungsorgane ihren gesellschaftlich konsentierten, zugewiesenen Platz und die entsprechende ordnende Funktion einnehmen: „Wir Christliche Demokraten stehen ein für die wehrhafte Demokratie … Wir bekennen uns zum staatlichen Gewaltmonopol” (S. 3).

Auf diesem Boden ist es dann möglich, mit Vokabeln wie „Entschiedenheit” und „Konsequenz” die nicht nur rechtmäßige, sondern vor allem auch rechtschaffene Strafverfolgung einzuklagen. Dies geschieht mit Hilfe simpler Erklärungsmuster, denen zufolge etwa Arbeitslosigkeit und berufliche Ausbildungsdefizite als Entstehensquelle für kriminelle Bereitschaft hingestellt werden: „Berufliche Ausbildungsdefizite und Arbeitslosigkeit können die Anfälligkeit gegenüber kriminellen Einflüssen erhöhen“ (S. 5).

Auch fehlt die (Re-)Produktion von Stigmatisierungen nicht. Man zeichnet eine sanfte aber wirkungsvolle Verbindungslinie von Ausländern und Kriminalität, die aus der rechtsradikalen Propaganda wohlbekannt ist. „Der weitaus größte Teil der Ausländer achtet die Gesetze. Dennoch gibt der zunehmende Anteil ausländischer Straftäter an der Kriminalitätsentwicklung Anlaß zur Sorge. Er belastet das gute Miteinander von Deutschen und bei uns lebenden Ausländern. Es ist daher dringend geboten, daß gegen ausländische Straftäter unter voller Anwendung und Ausschöpfung der Ausweisungsvorschriften des Ausländerrechts vorgegangen wird. Wer das Aufenthaltsrecht für kriminelle Machenschaften mißbraucht, hat es verwirkt. Insbesondere ausländische Drogendealer müssen abgeschoben werden“ (S. 8).

Diese Art der Inszenierung sorgfältig ist  zugeschnitten auf bereits vorhandene Ängste und latente Bedrohungsgefühle in der Bevölkerung, verankert sich folglich auf dem Untergrund eines konsensträchtigen Gesellschaftsbildes. Gerade der latente Charakter solcher Bedrohungsgefühle und die Diffusität, die jeder Angst zu eigen ist, machen die Wirkung dieses Kriminalitätsdiskurses aus. Wie schon gesagt, handelt es sich hierbei um die Vereinfachung einer komplizierten gesellschaftlichen Lage, deren Wirkungszusammenhänge in der CDU-Programmatik ebenso ausgeklammert werden wie die Ursachen für die angesprochenen Probleme und das Lebensgefühl der Gesellschaftsmitglieder. Um nur einen einschlägigen Komplex schemenhaft zu skizzieren  —  der an dieser Stelle nicht ausführlich dargestellt werden kann , der das derzeitige Geschehen aber maßgeblich bestimmt —, sei au die mit der Vereinigung verbundene Politik verwiesen: Versprechen, die in diesem Bereich gemacht und nicht gehalten wurden, führ(t)en zu sozialen Spannungen, die nicht zuletzt auf dem Gefühl der östlich residierenden Mitbürger beruhten, um eben dieses Versprochene betrogen worden zu sein. Ein ebensolcher Eindruck stellt sich unmittelbar ein wenn die nachfolgende Wirtschaftspolitik soziale Ungerechtigkeiten bewirkt, die ebenfalls zulasten des östlichen Teils Deutschlands gehen. Für die gesamte bundesrepublikanische Bevölkerung schließlich ist der vielbeschworene „Aufschwung Ost“ (eine euphemistische Vokabel schon für sich genommen) ausgeblieben. Statt dessen hat sich der Appell an das „gemeinsame Teilen“ zu einem sozialen Konkurrenzkampf ausgeweitet, bei dem die jeweils weniger oder nicht Privilegierten den Kürzeren ziehen.

Kontrollszenario

Die Ablenkung von gesellschaftlichen Großproblemen (durch die Dramatisierung von Kriminalität) und die unangemessene Zuschreibung von Problemursachen (auf der Ebene individueller Rechtstreue und Moral) stellen nur einen, wohl den geringeren Teil der Gefährlichkeit solcher Kriminalitätsdiskurse dar. Viel bedrohlicher erscheinen da die vorgeschlagenen Maßnahmen und Umbauten des liberalen Rechtsstaates, die als notwendig zur Effektivierung der Kriminalitätsbekämpfung angesehen werden. Zu Beginn machen die CDU-Autoren deutlich was sie als das Ziel verstärkter staatlicher Kontrolle angesehen haben möchten: Die Christlich Demokratische Union Deutschlands tritt ein für eine konsequente Politik zum Schutz des Bürgers. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der sich alle frei bewegen und sicher fühlen können. Freiheit, Leib und Leben sowie öffentliches und privates Eigentum müssen als zentrale Rechtsgüter wirkungsvoll geschützt werden“ (S. 3).

Dagegen ist zunächst wenig einzuwenden,  und auch die bereits oben angeführten Forderungen nach einer moralischen Restauration von „bewährten“ Normen und Werten und nach einer Rückkehr zur Familie als „Keimzelle der Gesellschaft” können zwar als solche des vorigen Jahrhunderts kritisiert werden, sind ansonsten aber eher harmlos konservativ. Was dann aber im Anschluß an diese Ausführungen gefordert wird, ist keineswegs mehr als konservativ-bekanntes more-of-he-same zu verstehen, sondern als ein Ausblick in die „Brave New World“ einer kontrollierten Gesellschaft und als ein Vorschlag zur massiven Demontage des Rechtsstaates.
Um die Grenze zwischen Recht und Unrecht nicht verwischen zulassen, setzt sich die CDU für eine konsequente Strafverfolgung auch im Bagatellbereich ein: „Eine Entkriminalisierung sogenannter ‚Bagatelldelikte‘ sowie einen pauschalen oder an den Wertgrenzen orientierten Gebrauch der strafprozessualen Vorschriften über Einstellungen wegen Geringfügigkeit lehnen wir ab“ (S. 6). Das bedeutet: Gerade jugendtypische Bagatelldelikte, wie etwa Ladendiebstahl, Schwarzfahren oder ähnliches, sollen, entgegen aller kriminologischen Erkenntnis und strafrechtlichen Vernunft, ausnahmslos strafrechtlich sanktioniert werden. Darüber hinaus wird die Erhöhung des Entdeckungsrisikos und der Aufklärungsraten angestrebt, wozu die Präsenz der Polizei auf Straßen und Plätzen deutlich verstärkt werden soll (S. 6): durch Personalaufstockung, Aufgabenbereinigung und Aufgabenumschichtung (S. 23). Andere gesellschaftliche Gruppen und Institutionen sollen zudem in die Bekämpfung der Massenkriminalität einbezogen werden: „Familie und Schulen, Verein, Verkehrsbetriebe, in der Sozialarbeit tätige Institutionen, kommunale Behörden und die lokale Wirtschaft sind hier besonders gefordert. Sie sollen gemeinsam mit Polizei, Staatsanwaltschaften und Gerichten in entsprechende Aktionen eingebunden werden“ (S. 7). Eine solche konzentrierte Großoffensive unter der Regie vo Polizei und Staatsanwaltschaften weckt Assoziationen an das Bild von einer Stasi, das für die CDU ansonsten immer als antikommunistisches Feindbild Nr.1 herhalten mußte.

Die Vorstellung von einer umfassenden und möglichst lückenlosen Aufdeckung und Ahndung aller in der Gesellschaft vorkommenden kleinen und großen Verstöße gegen Strafrechtsnormen läßt, ungeachtet der Zweifel an der Realisierbarkeit, unweigerlich an die inzwischen fünfundzwanzig Jahre alten Einsichten des Kriminalsoziologen Popitz [5] denken. Popitz hatte die These entwickelt, daß es zum einen weder funktional noch möglich ist, jeden Normverstoß in einer Gesellschaft zu verfolgen, da die jeweilige Norm und ihr Gültigkeitsanspruch Schaden nehmen, wenn ihre massenhafte Mißachtung öffentlich wird, und daß zum anderen die ausnahmslose Ahndung aller Normverstöße das gesamte Strafrechtssystem (Polizei, Staatsanwaltschaften, Gerichtsbarkeit und Strafvollzug) in den Kollaps treiben würde. Popitz hatte daraus den Schluß gezogen, daß die Selektivität der Strafverfolgung und das so entstehenden Dunkelfeld funktional und überlebensnotwendig für das Strafrechtssystem seien.

Die CDU scheint sich dieser Problematik, zumindest was den letzten Punkt betrifft, durchaus bewußt zu sein, zieht daraus aber ganz andere Konsequenzen. Sie schlägt vor, den Weg der Beseitigung von „Arbeitsbehinderungen“ der Strafverfolgungsbehörden zu gehen und scheut sich dabei nicht davor zurück, die Eckpfeiler des liberalen Rechtsstaates in Trümmer zu legen. Im folgenden sollen, ohne Garantie auf Vollständigkeit, einige entsprechende Vorschläge der CDU vorgestellt werden: Alle Möglichkeiten zur Beschleunigung des Strafverfahrens sollen genutzt (S. 6) und die Möglichkeiten der Ablehnung des beschleunigten Verfahrens eingeschränkt werden (S. 7). „Die Vereinfachung des Beweisrechts, insbesondere die Beschränkung des Beweisantragsrechts in einem bestimmten Verfahrensstadium, sowie die Verbesserung der Möglichkeit der Ablehnung von Beweisanträgen (Prozessverschleppung)“ (S. 7, Hervorhebungen, d.A.) sollen durchgesetzt werden.

Hinter diesen beiden Punkten und ihrer harmlos anmutenden Terminologie (Beschleunigung und Vereinfachung des Strafverfahrens, Verhinderung und Verschleppung) verbirgt sich die Forderung nach einer massiven und sehr bedenklichen Verschiebung des Kräfteverhältnisses von Staatsanwaltschaft und Verteidigung (bzw. Angeklagte/r) im Strafverfahren, d.h. eine Verschiebung zuungunsten der letztgenannten Prozeßpartei, die hierdurch in einigen ihrer wichtigsten Verteidigungsressourcen beschnitten wird.

Die Daten aller Register, „die für die Beurteilung von Tat und Täter erforderliche Daten verwalten (Bundeszentralregister, Verkehrszentralregister, Führerscheinregister)“ sollen zusammengelegt werden (S. 8): „Der Datenschutz muß…in allen seinen Ausprägungen und bei allen Regelungen abgewogen werden mit anderen, vorrangigen Interessen der Bürger und der Gemeinschaft. Dazu gehört das Bedürfnis des Bürgers nach dem Schutz vor Kriminalität und nach Gewährleistung der inneren Sicherheit. Datenschutz darf nicht zum Täterschutz werden“ (S. 9).

Unter Verweis auf die Organisierte Kriminalität, die wohlgemerkt für die CDU auch hinter der Massenkriminalität steht und somit als allgegenwärtig konstruiert wird, wird „die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten für Rasterfahndung und der Befugnisse verdeckter Ermittler” (S. 14) gefordert. „Ihnen (den verdeckten Ermittlern, d. A.) müssen begrenzte, milieubedingte Normverletzungen gesetzlich zugestanden werden” (S. 14, Hervorhebungen, d. A.). Es soll also der als Täterschutz verleumdete Datenschutz weiter abgebaut werden, und das unbeeindruckt von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung” und zur kritischen Diskussion um die Probleme und Gefahren der Rasterfahndung im Zusammenhang der Terroristenfahndung. Damit nicht genug: verdeckten Ermittlern soll auch noch das Begehen von „milieubedingten” Straftaten erlaubt, Phänomene wie das „Celler Loch” also legalisiert werden.

Der Große Lauschangriff (diese despektierliche Bezeichnung wird nicht verwendet) soll natürlich auch legalisiert werden: „Die CDU erachtet es für dringend notwendig, die rechtlichen Voraussetzungen zum Einsatz technischer Mittel zu schaffen, damit Verbrecher in ihren Wohnungen abgehört und deren Gespräche aufgezeichnet werden können” (S. 13).

Die rechtsstaatliche Fessel der Voraussetzung eines hinreichenden Anfangsverdachts für die Durchführung von Ermittlungen soll gekappt und die Stellung des BKA gestärkt werden: „Um Terrorismus und Organisierte Kriminalität wirksam bekämpfen zu können, muß das Bundeskriminalamt in die Lage versetzt werden, Ermittlungen schon vor dem konkreten Anfangsverdacht aufnehmen zu können. Notwendig ist daher die Schaffung von Rechtsgrundlagen für Initialermittlungen des Bundeskriminalamtes und die Zuweisung originärer Zuständigkeiten im Rahmen der Terrorismusbekämpfung und der Bekämpfung Organisierter Kriminalität” (S. 15).

Die letzte Forderung einer Ausweitung polizeilicher Ermittlungen auf den Bereich unterhalb der Schwelle eines konkreten Anfangsverdachts verdeutlicht, daß Maßnahmen wie der große Lauschangriff sich keinesfalls nur gegen zweifelsfrei identifizierte „Verbrecher” richten und nur deren Privatsphäre berühren sollen, sondern gegen jeden gerichtet sind, der aus welchem Grund auch immer den Ermittlungsbehörden verdächtig erscheint.

Selbst die Trennung zwischen Polizei und Verfassungsschutz wird trotz deutscher GESTAPO- und STASI-Vergangenheiten über den Haufen geworfen. Unter Verweis auf Organisierte Kriminalität, illegalen Drogen- und Waffenhandel, sowie „gewalttätigen politischen Extremismus” wird die Verrechtlichung der Informationsweitergabe vom Verfassungsschutz zu den Strafverfolgungsorganen (S. 15) und die Beteiligung des Verfassungsschutzes bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität (S. 16) gefordert: „Wir treten dafür ein, dem Verfassungsschutz durch Gesetz die Möglichkeit einzuräumen, durch Abhörmaßnahmen über das Entstehen krimineller Vereinigungen, über die Vorbereitung volksverhetzender Aufrufe und die Aufstachelung zum Rassenhaß schon im Planungsstadium zielgerichtete Informationen zu beschaffen. Der Informationsaustausch zwischen Verfassungsschutz Polizei und Justiz muß verbessert werden: “ (S. 20)

Die Möglichkeit der Anordnung von Vorbeugehaft soll ausgebaut und stärker genutzt sowie der § 112a StPO (weitere Gründe für die Anordnung von Untersuchungshaft) dahingehend novelliert werden, daß eine U-Haft-Anordnung erleichtert wird: „Gegen Straftäter, die der Begehung einer politisch motivierten Straftat mit Gewaltanwendung dringend verdächtigt werden, muß zukünftig bei Wiederholungsgefahr in weit größerem Umfang als bisher durch den Haftrichter Untersuchungshaft angeordnet werden … Um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder die Fortsetzung einer Straftat, insbesondere im Rahmen gewalttätiger Ausschreitungen, zu unterbinden, muß die Polizei potentielle Gewalttäter vorbeugend in Gewahrsam nehmen können” (S. 18f).

Soweit das Horrorszenario der Demontage des Rechtsstaates unter der Überschrift „Effektivierung der Strafverfolgung”. Aber damit nicht genug, die Kriminalisierungsschraube soll auch von der Tatbestands- und Strafandrohungsseite her angezogen werden: Das Strafmaß für Gewaltdelikte („vom Widerstand gegen Vollzugsbeamte, über Landfriedensbruch bis hin zu Körperverletzung und Raub”) soll angehoben (S. 11), der Versuch der Körperverletzung unter Strafe gestellt werden (S. 11). Körperverletzungs- und Beleidigungsdelikte sollen zu Offizialdelikten werden, gegen die auch ohne besonderes öffentliches Interesse und ohne Strafverfolgungsinteressen des Opfers von Amts wegen eingeschritten werden kann bzw. muß (S.11). Im Drogenbereich wird „der resignativen Flucht in die ‚Legalisierung’” (auch weicher Drogen) eine Absage erteilt. Statt dessen wird die lebenslange Freiheitsstrafe bei bandenmäßiger Betäubungsmittelkriminalität gefordert und sollen neue Straftatbestände „des Mitführens von Waffen beim Begehen von Betäubungsmittelkriminalität”, „für das Einsetzen von Kindern beim Betäubungsmittelhandel” und für die „Abzweigung von Chemikalien zum Zwecke der illegalen Betäubungsmittelherstellung” (S. 18) eingeführt werden. Im Bereich des sogenannten gewalttätigen politischen Extremismus wird allen Bestrebungen, „durch Änderungen des Straftatbestandes der Nötigung die Störung friedlicher Versammlungen oder die Blockade des Straßenverkehrs, öffentlicher Einrichtungen u.ä. straffrei zu stellen”, eine Absage erteilt (S. 19, Hervorhebungen, d. A.). Vielmehr soll der Straftatbestand des Landfriedensbruchs so novelliert werden, „daß sich auch derjenige strafbar macht, der sich im Falle von Gewalttätigkeiten und Bedrohungen aus einer Menschenmenge heraus nicht aus ihr entfernt oder sich ihr anschließt, obwohl die Polizei dazu aufgefordert hat, auseinanderzugehen … Extremistische Organisationen” sollen sich zukünftig die Aktivitäten ihrer Mitglieder zurechnen lassen (S. 19f).

Demontage des Rechts­s­taates

Die meisten der zentralen Vorschläge sind nicht neu, und um sie wurden in den letzten Jahren teilweise umfangreiche Diskussionen geführt (z.B. Lauschangriff, Verfahrensbeschleunigungsgesetz, Trennung von Polizei und Verfassungsschutz, Datenschutz vs. Täterschutz).

Was erschreckt, ist in erster Linie die Ballung und nahezu lückenlose Auflistung all dessen, was in den letzten Jahren in die Diskussion gebracht wurde. Das Papier zeugt von einer polizei- und strafrechtszentrierten und vor allem radikal anti-rechtsstaatlichen Perspektive der Autoren. Es kommt ein Staatskonzept zum Ausdruck, das vollkommen unberührt ist von jedem Anflug von liberaler Staatstradition. Indem Innere Sicherheit, sprich Kriminalitätsbekämpfung, als erste gesellschaftliche Aufgabe gesetzt wird und die Macht des Staates und seines Gewaltmonopols gleichgesetzt werden mit dem Maß der Inneren Sicherheit in der Gesellschaft, bedeutet die Steigerung der Inneren Sicherheit die Entfesselung der Staatsgewalt von ihren rechtsstaatlichen Begrenzungen.

Durch die populäre, von verschiedenen politischen Kräften getragene Errichtung von Legitimationsfiguren wie dem Organisierten Verbrechen, den großen Drogenkartellen und der weitgehend politisch motivierten Gewaltkriminalität wird es offensichtlich auch gegenüber eher linksliberalen Kreisen in der Gesellschaft möglich, die Demontage des Rechtsstaates und die Entgrenzung der Staatsgewalt zu propagieren. Die Verlockung ist im Kriminalitätsbereich allerdings auch besonders groß, denn die Zielpersonen der vorgeschlagenen Überwachungsmaßnahmen und Sanktionierungen sind vermeintlich immer nur die anderen, gegen die als Problemverursacher gar nicht konsequent genug vorgegangen werden kann. Wer sich nichts zu Schulden kommen läßt, braucht scheinbar auch nicht die staatlichen Organe und deren Maßnahmen der Kriminalitätsbekämpfung zu fürchten.

Gerade dieser Vorstellung ist entschieden entgegenzutreten, denn wenn, wie von der CDU gefordert, die Voraussetzungen für staatliche Eingriffe (sei es die Überwachung der Privatsphäre oder die Anordnung von Vorbeugehaft) immer mehr heruntergeschraubt und die verfahrensmäßigen Sicherungen gegen ungerechtfertigte Verurteilungen abgebaut werden (Verfahrensbeschleunigung, Reduzierung der Rechte der Verteidigung), wird natürlich jede/r mögliches Objekt staatlicher Repressionsmaßnahmen. Insbesondere trifft das für diejenigen zu, die sich etwa an den inzwischen eigentlich etablierten Formen außerparlamentarischen Protests beteiligen (z.B. an Sitzblockaden, oder an Demonstrationen, bei denen es eventuell zu Ausschreitungen kommt), oder die, die auch nur ab und an mal ihr Haschisch- Pfeifchen rauchen und ihren entsprechenden Bedarf auf dem Schwarzmarkt decken müssen.

Die staatlichen Eingriffe (Festnahme, Anwendung physischen Zwanges etc.) sind dabei nicht vernachlässigbare Bagatellen, die man halt in Kauf zu nehmen hat, sondern Beeinträchtigungen, die oft massiver und gravierender sind als das, was mit ihnen verhindert werden soll. Staatliche Gewalt bleibt Gewalt, die nicht allein wegen ihres mutmaßlich guten Zweckes frei davon ist, zur Gefahr für die Gesellschaft zu werden. Aus diesem Grunde gibt es ja (noch!?) die Begrenzungen staatlicher Eingriffsbefugnisse in den Grundrechtsbereich der bürgerlichen Freiheitsrechte, auch wenn sie aus der Sicht der Apparate zu Recht als Arbeitsbehinderungen gesehen werden können, und es muß entgegen der vorgetragenen CDU-Auffassung die Freiheit der Bürger zumindest tendenziell als Gegensatz zu der Autorität des Staates gesehen werden.

Besonders brisant ist dieses Verhältnis im Bereich der freien politischen Betätigung der Bürger. Den Verfassungsschutz stärker mit der Strafverfolgung zu verkoppeln, die Polizei und das BKA zu ermächtigen, ohne Anfangsverdacht Initiativermittlungen durchzuführen, um z.B. den Terrorismusverdacht gegen bestimmte Personen oder Organisationen abzuklären, eröffnet der Bespitzelung Oppositioneller Tür und Tor. Auch wenn bei politisch motivierter Gewalt im Moment von vielen eher an rechtsextreme Gruppierungen und Personen gedacht wird, so treffen solche Maßnahmen doch keinesfalls ausschließlich diesen Personenkreis. Und selbst strafrechtsimmanent ist es zweifelhaft, ob die vorgeschlagenen Maßnahmen realistisch und funktional sind. Die Ablehnung jeder Form von Entkriminalisierung im Bagatellbereich steht der Notwendigkeit der Entlastung der Justiz diametral entgegen, und es gibt zudem keine kriminologischen Befunde, die einen solchen Schritt unter der Perspektive der Spezial- oder Generalprävention sinnvoll erscheinen lassen. Es handelt sich hierbei offensichtlich um einen rein symbolischen Vorschlag zur populistischen Verdeutlichung von Entschlossenheit. Die Schaffung von Straftatbeständen, wie versuchte Beleidigung oder versuchte Körperverletzung, kann zwar unter Umständen hilfreich sein, um rechte Brandstifter härter bestrafen zu können (wegen versuchter Körperverletzung, auch wenn kein Mensch zu Schaden kommt), sie stellt gleichzeitig aber die Konstruierung kaum handhabbarer Straftatbestände dar. Die Duldung von „Millieustraftaten” durch V-Leute schließlich schafft ein nicht mehr zu entwirrendes Übergangsfeld zwischen Strafverfolgungsmaßnahmen und kriminellen Aktivitäten.

Die CDU-Programmatik führt im Endeffekt zur Demontage all dessen, was den Rechtsstaat bisher noch bewahrenswert erscheinen ließ, und hat eine klare Tendenz zum Polizei-und Überwachungsstaat. Dieser Konsequenz muß sich nicht nur die CDU, sondern müssen sich auch die anderen Wahlkampfparteien, allen voran die SPD, bewußt sein, wenn sie mit dem Wahlkampfthema Innere Sicherheit soziale Probleme von ihrem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang isolieren und ausschließlich unter Effektivitätsgesichtspunkten als zu bekämpfende Kriminalität konzipieren. Die bereits aus den siebziger Jahren stammende, humoristische Empfehlung, sich schnell noch einige Grundgesetze zu beschaffen, da sie wohl bald zu Liebhaberpreisen teuer zu verkaufen seien, hat durch die CDU-Forderungen einen Großteil ihrer Komik verloren.

Verweise

1 Wassermann Rudolf: Staatsziel Innere Sicherheit in: der kriminalist 24, 1992, S. 52-53; siehe auch Karier Günther: Stichwort: Verbrechenskontrolle und Verbrechensvorbeugung, in: Kaiser, G. u.a. (Hrsg.):Kleines kriminologisches Wörterbuch, Heidelberg 1993 (3. Auflage), S. 248-253.
2 Christie Nils; Bruun, Kettil: Der nützliche Feind. Die Drogenpolitik und ihre Nutznießer, Bielefeld 1991.
3 Siehe z.B. Sellin, Thorsten: Die Bedeutung von Kriminalstatistiken, in: Sack, Fritz/ König, Rene (Hrsg.), Kriminalsoziologie, Frankfurt/M. 1974, S. 41-60.
4 Siehe z.B. Boers, Klaus: Kriminalitätsfurcht, Pfaffenweiler 1991.
5 Popitz, Heinrich: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens: Dunkelziffer, Norm und Strafe, Tübingen 1968.

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