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Das Phantom Europa

vorgängevorgänge 12412/1993Seite 31-33

Bundesverfassungsgericht billigt den Maastricht-Vertrag

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 31-33

Mit Urteil vom 12. Oktober 1993 (EuGRZ 1993, 429ff.) hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts die gegen den Europäischen Unionsvertrag (EUV) eingelegten Verfassungsbeschwerden teils als unzulässig verworfen, teils als unbegründet zurückgewiesen. Das in diesem Fall ziemlich stumpfe Instrument der Verfassungsbeschwerde und eine gewagte Argumentationskette halfen ihm aus der Klemme, wobei es ihm — was in der bisherigen öffentlichen Diskussion des Urteils weitgehend unterging — doch gelang, einige wegweisende Markierungen anzubringen, deren praktische Wirksamkeit die Zukunft zeigen wird.

Da mit der Verfassungsbeschwerde nur die unmittelbare und gegenwärtige Verletzung individueller Grundrechte und einiger ihnen gleichgestellter Rechte (wie das Wahlrecht des Art. 38 GG) gerügt werden kann, waren eine Reihe von Rügen, die die Beschwerdeführer erhoben hatten, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Auch die weitgehende Konzentration des Beschwerdeführers Manfred Brenner — des früheren Kabinettschefs des EG-Kommissars Bangemann — auf die Verhinderung der Währungsunion mag seiner Argumentation geschadet haben, die Stoßrichtung war verfehlt.

Zulässig war die Rüge einer (möglichen) Verletzung des Art. 38 GG. Das BVerfG hielt die Rüge jedoch nicht für begründet. Es führt hierzu u.a. aus: Im Wahlakt gehe die Staatsgewalt vom Volke aus. Sodann übe der Bundestag Staatsgewalt als Organ der Gesetzgebung aus, das zugleich den Bundeskanzler wähle und die Regierung kontrolliere. Art. 38 GG verbürge nicht nur, daß dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zustehe und bei der Wahl die verfassungsrechtlichen Wahlrechtsgrundsätze eingehalten werden. Die Verbürgung erstrecke sich auch auf den grundlegenden demokratischen Gehalt dieses Rechts: Gewährleistet werde den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht an der Wahl des Deutschen Bundestages teilzunehmen und dadurch an der Legitimation der Staatsgewalt durch das Volk auf Bundesebene mitzuwirken und auf ihre Ausübung Einfluß zu nehmen. Gebe der Bundestag Aufgaben und Befugnisse auf, insbesondere zur Gesetzgebung und zur Wahl und Kontrolle anderer Träger von Staatsgewalt, so berühre das den Sachbereich, auf den der demokratische Gehalt des Art. 38 GG sich beziehe. Im Blick auf die Europäische Union und die ihr zugehörigen Gemeinschaften ermächtige Art. 23 Abs. 1 GG jedoch den Bundesgesetzgeber, unter den dort genannten Voraussetzungen der Europäischen Union die eigenständige Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG einzuräumen.

Das BVerfG verschweigt in diesem Zusammenhang auch nicht, daß diese Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten erst mit dem mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21.12.1992 geschaffen wurde. Es hält dieses Verfahren für rechtens.

Dem wird man im Prinzip nicht widersprechen können, denn der Beitritt zu einem Staaten-Bund wie der Europäischen Union gebietet folgerichtig auch die Übertragung von Hoheitsrechten auf die neue Körperschaft. Es war jedoch zu problematisieren, ob die Schaffung eines Exekutivorgans, wie es der Europäische Rat darstellt, und seine Besetzung ausschließlich durch Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten noch demokratisch legitimiert ist. Das Gericht entzieht sich dem nicht, ist jedoch gezwungen, den Grundsatz der Volkssouveränität auf das denkbar geringste Minimum zu reduzieren um die von den Regierungen der Mitgliedstaaten gewählte Konstruktion zu halten.

Mit Recht führt das BVerfG aus, die Europäische Union sei nach ihrem Selbstverständnis eine Union der Völker Europas (Art. A Abs. 2 EUV). Demgemäß wird postuliert, das durch Art. 38 GG gewährleistete Recht, durch die Wahl an der Legitimation von Staatsgewalt teilzunehmen und auf deren Ausübung Einfluß zu gewinnen, schließe es aus, dieses Recht durch Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages so zu entleeren, daß das in Art. 79 Abs. 3 Art. 20 Abs. l und 2 GG für unantastbar erklärte demokratische Prinzip verletzt werde. Hierzu gehöre, daß die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse sich auf das Staatsvolk zurückführen lasse und grundsätzlich (sic!) ihm gegenüber verantwortet werde. Es wird dann ausgeführt, daß sich dieser Zurechnungszusammenhang auf verschiedene Weise herstellen lasse. Entscheidend sei ein hinreichend effektiver Gehalt an demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau. Um einerseits dessen Vorhandensein und andererseits die Notwendigkeit seiner Entstehung zu begründen flüchtet das BVerfG in folgende politische Theorie:

Derzeit werde die demokratische Legitimation über die nationalen Parlamente vermittelt. Mit dem Ausbau der Aufgaben und Befugnisse der Gemeinschaft wachse jedoch die Notwendigkeit, darüber hinaus eine Repräsentation der Staatsvölker durch ein europäisches Parlament „hinzutreten zu lassen, von der ergänzend eine demokratische Abstützung der Politik der Europäischen Union ausgeht”. Die mit dem EUV begründete Unionsbürgerschaft knüpfe ein auf Dauer angelegtes rechtliches Band zwischen den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten. Die von den Unionsbürgern ausgehende Einflußnahme könne in dem Maße in eine demokratische Legitimation der europäischen Institutionen münden, in dem bei den Völkern der Europäischen Union die Voraussetzungen hierfür erfüllt seien.

Kein Wort wird in diesem Zusammenhang darüber verloren, daß ein Europäisches Parlament bereits existiert. Erst im nächsten Abschnitt wird es erwähnt, und zwar in eigenartigem Zusammenhang. Das BVerfG führt zunächst aus, im Staatenverbund der Europäischen Union erfolge demokratische Legitimation notwendig durch die Rückkoppelung des Handelns europäischer Organe an die Parlamente der Mitgliedstaaten;„hinzutritt — im Maße des Zusammenwachsens der europäischen Nationen zunehmend — innerhalb des institutionellen Gefüges der Europäischen Union die Vermittlung demokratischer Legitimation durch das von den Bürgern der Mitgliedstaaten gewählte Europäische Parlament”, auf dessen legitimatorische Bedeutung dann hingewiesen wird. Verschwiegen wird, daß der EUV es zur Bedeutungslosigkeit degradiert, weil ihm nur Konsultationsrechte eingeräumt wurden, keine echten Mitwirkungsrechte: weder ein Antrags-, noch ein Beschluß-, noch ein Wahlrecht. Es mag sein, daß das Gericht sich außerstande sah, von Verfassungs wegen (und nur soweit darf es prüfen) unter den verschiedenen Wegen der Legitimation europäischer Organe einen zu verwerfen und einen anderen vorzuziehen; damit wurde die Chance einer Stärkung des Europäischen Parlaments und des Prinzips der Volkssouveränität vertan.

Kein Äquivalent ist die Feststellung, der notwendige Einfluß des Bundestages sei zunächst dadurch gewährleistet, daß nach Art. 23 Abs. 1 GG für die deutsche Mitgliedschaft in der Europäischen Union und ihre Fortentwicklung durch eine Änderung ihrer vertraglichen Grundlagen oder eine Erweiterung ihrer Befugnisse ein Gesetz erforderlich ist, das unter bestimmten Voraussetzungen einer qualifizierten Mehrheit bedarf. Ebenso wenig kann beruhigen, daß der Bundestag an der Wahrnehmung der deutschen Mitgliedsschaftsrechte in europäischen Organen beteiligt ist und der Bundestag die europäische Politik der Bundesregierung durch deren parlamentarische Verantwortlichkeit beeinflußt, die in der Praxis bekanntlich nicht zu hoch zu veranschlagen ist. Das BVerfG hat praktisch eine Art „Durchgriff-Demokratie” gebilligt: weil die Regierungen demokratisch gewählt sind und parlamentarisch kontrolliert werden — könnte man, sehr verkürzt sagen — sind auch die Entscheidungen der von den nationalen Regierungen besetzten europäischen Organe, insbesondere des Europäischen Rats, demokratisch legitimiert. Die Einbeziehung des Europäischen Parlaments bleibt unverbindlich. Die Volkssouveränität wird auf diese Weise ein weiteres Stück nach unten geschoben, die Exekutive um ein Instrument nach oben verlängert und entfernt sich damit von den sie theoretisch legitimierenden Staatsvölkern ins fast Ungreifbare.

In Art. F Abs. 3 EUV ist bestimmt: „Die Union stattet sich mit den Mitteln aus, die zum Erreichen ihrer Ziele und zur Durchführung ihren Politiken erforderlich sind.“ Nach Ansicht des BVerfG ist das nur ein Programmpunkt, kein Budgetrecht der Union. Das Gericht hat sich damit begnügt, daß der Bundestag, die Bundesregierung und nach deren Erklärung die übrigen Mitgliedstaaten die gleiche Ansicht vertreten. Ob sich künftige Regierungen daran halten werden, steht dahin. Das BVerfG hat allerdings auch festgeschrieben, daß eine andere Handhabung vom Zustimmungsgesetz des Bundestages nicht gedeckt und in der Bundesrepublik nicht rechtens wäre.

Auch in einigen anderen Punkten hat das Gericht auf die Zukunft verwiesen: Wo Grundrechtsverletzungen noch nicht gegenwärtig sind, können künftige Regelungen erneut der verfassungsrechtlichen Prüfung unterzogen werden. Europa wird wohl weiterhin und portionsweise verfassungsrechtlich gewogen werden. Ob das aber der Integration förderlich sein wird?

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