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Wo sind sie geblieben? Zur Situation der Linken

vorgängevorgänge 12412/1993Seite 20-22

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 20-22

Die deutsche Einheit und die Bewältigung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Folgen beherrschen nach wie vor die tagespolitische Diskussion. Solidarpakt , Treuhand, Stasi-Akten und Bischofferorde lauten die alten und neuen Stichworte. Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West so schnell wie möglich, irgendwann später oder wann auch immer. Die SPD beteiligt sich zwar an dieser Diskussion, jedoch mit wenig aufsehenerregenden Beiträgen. Eindeutig „linke” Positionen sind weder von ihr noch von anderer Seite zu hören.

Die Linken diskutieren derweil neben und abseits der Tagespolitik, in den Feuilletons. Dabei geht es insbesondere um das unterschiedliche Fühlen und Denken in Ost und West. Wurde — so lautet beispielsweise eine heftig umstrittene Frage — den Ostdeutschen mit der ihnen übergestülpten (von ihnen allerdings mehrheitlich heftig herbei gewünschten) kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ein Stück geistiger kultureller Identität genommen?

Diese Frage spaltet vor allem die ostdeutschen Intellektuellen. Von „Kolonisation” ist die Rede, vom Raub der kulturellen Identität — ein Stuck geistiger Vereinigungskriminalität sozusagen. Andere meinen, nichts habe sich in den Köpfen der Ostdeutschen geändert, verlorengegangen seien allenfalls Illusionen und Privilegien. Wieder andere fragen, was denn das für eine Identität gewesen sei und ob es überhaupt eine gab, die sich in der DDR entwickelt habe und mit ihr abhanden gekommen sei. Die Diskussion ist ähnlich unübersichtlich wie die Situation der Linken in den neuen und alten Bundesländern. Gibt es sie noch oder hat sie sich bereits aufgelöst? Hat sich alles verändert einschließlich des politischen Spektrums oder hat sich kaum etwas verändert? Hat sich vielleicht alles verändert und ist zugleich geblieben, wie es immer war?

Die in den letzten fünf Jahren eingetretenen globalen Veränderungen wird niemand bestreiten. Der „real existierende Sozialismus” ist von  der Landkarte verschwunden, die Sowjetunion auseinandergebrochen. Der Eiserne Vorhang ist hochgegangen, die Mauer in Berlin gefallen und die beiden deutschen Staaten sind wieder einer. Ein geschichtlicher Umbruch in atemberaubender Geschwindigkeit ohne Frage. Das Zeitalter des Kalten Krieges ist abgeschlossen, die übersichtliche Einteilung der Welt in „West“ und „Ost” dahin. Neue Krisenherde entstehen, und neu-alte nationale Konflikte brechen aus. Begrenzte militärische Auseinandersetzungen sind wieder möglich ohne die Gefahr einer Ausweitung zum Kampf der Blöcke und werden erbittert geführt.

Zugleich hat sich für viele nichts geändert. Sie leben noch in denselben Wohnengen, wie vor fünf Jahren, mit denselben Partnern und gehen Tag für Tag in dieselben Büros und Werkhallen. Weder ihr Lebensstandard noch ihre Einstellung zum Leben haben sich grundlegend gewandelt. Die Geburt eines Kindes, der Verlust des Arbeitsplatzes oder das Zerbrechen der Lebensgemeinschaft haben ihr Denken und Fühlen im Zweifel stärker beeinflußt als der Zerfall der Sowjetunion und die deutsche Einheit. Es ist eine Binsenweisheit, daß die Welt im Großen die im Kleinen kaum tangiert und ohne Einfluß auf sie ist. Hein Czechowski kommt zu der lapidaren Einsicht: Die Geschichte mag Brüche kennen, der Alltag kennt sie nicht“ (DIE ZEIT Nr. 23/93).

Doch es gibt offenbar Schnittstellen zwischen den globalen Veränderungen der vergangenen Jahre und dem privaten Leben und Denken. Besonders die Linken reiben sich an diesen Schnittstellen wund und reißen sich die Haut auf. Denn wer von der humanistischen Idee des Sozialismus durchdrungen und von der Reformierbarkeit des real existierenden Sozialismus überzeugt war, dessen Überzeugungen und weltanschaulichen Fundamente sind durch die eingetretenen Veränderungen zwangsläufig in Mitleidenschaft gezogen worden. Das betrifft nicht nur die Ostdeutschen, die sich aktiv für den Aufbau des Sozialismus in der DDR einsetzten. Es betrifft, wenngleich nicht im selben Ausmaß ebenfalls Linke in den alten Bundesländern.

Ihr vertrautes Weltbild sei „zerbrochen” und „auseinander gefallen” meint Ulrich Greiner (DIE ZEIT Nr. 23/93). Und mit den Linken meint er offensichtlich nicht nur die die regelmäßig nach Moskau oder Ostberlin gefahren sind, um sich vor Ort von der Richtigkeit und Überlegenheit ihrer Weltanschauung zu überzeugen, sondern auch die dem „real existierenden Sozialismus” kritisch und im Detail ablehnend gegenüberstanden. Auch ihr Weltbild habe Schaden genommen und sei zerbrochen.

Martin Lüdke erklärt diesen Umstand wie folgt: „Auch wenn die Gesellschaften des real existierenden Sozialismus mindestens ebenso weit von der Realisierung solcher Ideen (freie, gerechte Gesellschaft Versöhnung von Mensch und Natur, E.D.) entfernt waren wie die Länder auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs …, so hat doch der Zusammenbruch des sozialistischen Lagers auch die Idee in Mitleidenschaft gezogen” (Für den SPIEGEL geschrieben, Reinbek 1991, S. 121). Das ist zwar nicht logisch, aber es leuchtet ein. Die Untauglichkeit des Marxismus zur sinnvollen Organisation einer Gesellschaft sei durch die Wirklichkeit erwiesen (bestätigt) worden, trumpfen jene auf, die es schon immer gewußt haben. Die Idee einer sozialistischen Planwirtschaft sei ein für allemal auf dem „Müllhaufen der Geschichte” gelandet. Eine eigenartige Situation. Viele Linke fühlen sich in ihren Überzeugungen verunsichert oder sogar widerlegt, ohne eines besseren belehrt worden zu sein: „Der Klassenkampf ist abgeblasen. Mag sein, daß wir nach wie vor in einer Klassengesellschaft leben” (Lüdke, a.a.O. S. 127).

Warum eigentlich sind vielen Linken mit dem Ende des „real existierenden Sozialismus” die weltanschaulichen Orientierungspunkte abhanden gekommen? Warum ist der Glaube an die Machbarkeit eines freiheitlichen demokratischen Sozialismus nachhaltig erschüttert, auch wenn der Ostblock den Vorstellungen der meisten Linken davon nicht entsprochen und ihren Hoffnungen zu keiner Zeit Gestalt gegeben hat? Warum hat das Ende der sozialistischen Planwirtschaften auch die theoretischen Grundlagen (von Marx bis Marcuse) in Mitleidenschaft gezogen, obwohl sich ihre Praktiker wie Ideologen auf dein Weg von der Diktatur des Proletariats zur Diktatur der Parteibürokratie weit von ihren theoretischen Grundlagen entfernt hatten?

Doch wohl weil gesellschaftliche Utopien nicht im luftleeren Raum existieren und sich entwickeln können. Trotz aller Diskrepanzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit waren die Vorstellungen von einer demokratischen, sozialistischen Gesellschaft nur vor dem Hintergrund des „real existierenden Sozialismus” denkbar. Die bloße Tatsache des Bestehens und Fortdauerns verlieh der Idee des Sozialismus Glaubwürdigkeit. Juristen sprechen in diesem Zusammenhang von der „normativen Kraft des Faktischen“. Die Linken diesseits des Eisernen Vorhangs konnten deshalb, wenn sie den Zuständen jenseits schon nicht zustimmten, nicht ohne Hoffnung nach Osten blicken. Ohne das Gefühl, die Gesellschaften dort seien, bei aller Kritik im einzelnen, auf dem richtigeren Weg, war linke Identität nicht zu haben. Diese Hoffnung ist verflogen, der Blick nach Osten unterscheidet sich nicht mehr von dem in andere Himmelsrichtungen. Die Verhältnisse haben sich geändert, und das Bewußtsein paßt sich ihnen an. Die neuen Fakten entfalten ihre normative Kraft.

Allerdings genießt die „normative Kraft des Faktischen” unter Rechtsgelehrten keinen guten Ruf. Als Legitimationsgrundlage für gesellschaftliche Ordnungen und Verhaltensregeln wird sie nur augenzwinkernd anerkannt. Sie gilt allgemein als beschönigende Umschreibung für opportunistisches Verhalten. So ist denn auch ihr geläufigstes und anschaulichstes Beispiel die Situation des politischen Umsturzes und die (für viele) mühelose Übertragung der Treuepflicht vom gestürzten auf das neue Regime, sofern dieses sich an der Macht hält.

Dazu folgende Geschichte. Ich traf zufällig einen alten Bekannten, den ich seit fünf Jahren nicht gesehen hatte, einer der wenigen „echten” 68er, die ich persönlich kenne. Er studierte damals in Berlin und war aktiv in der APO und in der Studentenbewegung. 1972 trat er in die SPD ein. Er sagte: „Als sicher schien, daß das Misstrauensvotum gegen Willy Brandt Erfolg haben würde, bin ich spontan eingetreten.” Damals arbeitete er in einem Bundesministerium, seit 1976, unter wechselnden Regierungen, in einem Landesministerium. Wir sprachen über die letzten Jahre, auch über die Aufarbeitung des SED- und Stasi-Unrechts durch die bundesdeutschen Gerichte. Er habe damit nicht allzu viele Probleme, sagte er: „Ich habe mit dem SED-Regime zu keinem Zeitpunkt sympathisiert, dazu kannte ich es zu gut. Ich habe diese Art von Sozialismus immer abgelehnt.” An dieser Stelle wurde das Gespräch für mich unüberwindbar kompliziert. Ich hielt für möglich, daß er die Wahrheit sagte, aber zugleich erschien mir das Gesagte furchtbar opportunistisch. Wie hast du dich verändert, dachte ich. Als ich es ihm sagte, antwortete er: „Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ,Sie haben sich gar nicht verändert: ,Oh!‘ sagte Herr K. und erbleichte”.

Wie zwischen zwei Mühlsteinen droht die Linke gegenwärtig zerrieben zu werden zwischen dem Vorwurf, alte Überzeugungen aus Gründen politischer Opportunität über Bord zu werfen und dem Zeitgeist nach rechts zu folgen, und dem Vorwurf, die Augen vor den eingetretenen Veränderungen fest zu verschließen und nichts dazugelernt zu haben. Auf der einen Seite also die Gefahr, als Wendehals belächelt oder beschimpft zu werden, auf der anderen Seite die Gefahr, mit den ewig Gestrigen in eine Reihe gestellt zu werden. Denn im Unterschied zu Brechts Herrn Keuner freuen sich die meisten, wenn man ihnen sagt, sie hätten sich nicht verändert und erblassen, wenn man sie nicht mehr als die Alten erkennt. Sich selber treu zu bleiben ist schließlich ein legitimes Interesse und der Vorwurf, seine Fahne in den Wind zu hängen, die Überzeugungen zu wechseln wie das Hemd und wie Fettaugen immer oben auf der Suppe zu schwimmen, ist aus der Zeit nach 1945 (zum Beispiel Globke) noch in guter (schlechter) Erinnerung.

Sich verändern und doch die gleichen bleiben, das ist gegenwärtig das Problem der Linken. Sich anpassen und sich treu bleiben. Das führt notgedrungen zu mehr oder weniger unklaren Bestimmungen des eigenen Standpunktes. So antwortete Günter Wallraff auf die Frage, wo er sich heute einordne: „Nirgends.

Ich denke liberal anarchisch” (DER SPIEGEL, NR. 35/93, S. 194). So läßt sich die Frage nach dem Verbleib der Linken wohl nicht widerspruchsfrei, aber doch recht einfach beantworten: Sie sind verschwunden, und sie sind immer noch da. Verschwunden sind sie als gesellschaftliche Kraft und politische Größe. Geblieben sind sie als aufrechte Intellektuelle, die sich ihrer selbst vergewissern, indem sie sich oft und gern an vergangene Zeiten erinnern.

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