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Innere Sicherheit im Rechtsstaat

Zur aktuellen Situation der Sicherheitspolitik

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 54-67

Kriminalität und Gewalt beschäftigen die Bürger der Bundesrepublik derzeit intensiv. Auch eine Politik, auf deren Fahnen eher „Freiheitssicherung” als „Kriminalitätsbekämpfung” steht, darf das Thema nicht herunterspielen. Ich habe den Eindruck, daß das Thema Innere Sicherheit einer nicht-konservativen Politik seit geraumer Zeit eher Schmerzen bereitet und Angst macht als Appetit. Diese Politik tendiert derzeit — wo sie es nicht schafft, den Auseinandersetzungen überhaupt aus dem Wege zu gehen — zu einer Anpassung an Positionen, welche eine neuerliche Verschärfung der Eingriffsmittel gegen Kriminalität fordern und welche den Komplex „Gewalt und Kriminalität“ auf die Gegenstände „großer Lauschangriff“ und „milieutypische Straftaten verdeckter Ermittler“ verkürzen.

Daraus entsteht innenpolitisch eine gefährliche Lage. Innere Sicherheit, Kriminalität und Gewalt sind in der öffentlichen Meinung und auch in der Wahrnehmung der Menschen immer bedeutsam gewesen; schwere Normverletzungen und Bedrohungen fundamentaler Rechtsgüter machen Angst, empören und faszinieren zugleich. Heute besetzt der Komplex Kriminalität und Gewalt darüber hinaus aus zwei Gründen eine besonders hervorgehobene Position: Mit der „Organisierten Kriminalität”, über die heutzutage permanent und mit Nachdruck berichtet wird, tritt ein zugleich verhülltes und drohendes Phänomen auf den Plan; man weiß nicht genau, was das ist und wer es wie macht, man weiß aber, daß es brisant ist, ja man glaubt, daß es uns alle verschlingen kann. Bei der Massenkriminalität zeigt der ermittelnde Staat seine Unfähigkeit zur Bekämpfung von Straftaten; wenn Wohnungseinbrüche und Raub auf den Straßen epidemisch zunehmen, wenn der Diebstahl von Autos und Fahrrädern nicht mehr verfolgt, sondern nur noch verwaltet wird: Wie soll ein solcher Staat die „Organisierte Kriminalität” bekämpfen können? Muß man ihm nicht Beine machen und ihm sofort jedes Kampfmittel in die Hand geben, das auch nur einigermaßen Erfolg verspricht?

Ergebnis dieser Form von Auseinandersetzung ist ein Zerrbild der wirklichen Situation und ihrer Anforderungen: Kriminalpolitik wird zur puren Sicherheitspolitik, die Partie der Freiheitssicherung ist argumentativ nicht besetzt, es gibt keine progressive Vorstellung von Innerer Sicherheit, die Probleme, die wir mit dieser Sicherheit haben, werden einseitig präsentiert und auf polizeiliche Verschärfungswünsche reduziert. Nichts gegen die Polizei; Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung sind konservative Politikfelder, und sie eignen sich vorzüglich für populistische Strategien. Progressive, freiheitssichernde Politik steht beim Thema Kriminalitätsbekämpfung seit geraumer Zelt mit dem Rücken zur Wand; viel mehr als die Warnung vor Freiheitsbeschränkungen ist ihr nicht eingefallen.

Daß es keine progressive Vorstellung von Innerer Sicherheit gibt, kommt nicht von ungefähr. Mittlerweile ist durch Forschungen gut bestätigt, daß „Recht und Ordnung” ein konservatives Politikfeld ist. Das Thema der Kriminalität und ihrer Bekämpfung ist ein feiner Regler für Bedrohungsgefühle der Bevölkerung; diese Gefühle sind tiefverwurzelt und deshalb mächtig, und sie können vor allem dann prompt aktiviert werden, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung zwei Faktoren aufeinandertreffen. Die Bedrohung ist zugleich diffus und intensiv, und die Ohnmacht des Staates die Kriminalität zu beherrschen, ist offenbar.

Diese beiden Faktoren kennzeichnen unsere Situation; „OK” ist ein Angstmacher von hohen Graden, die Raten der Kriminalität steigen, die der Verbrechensaufklärung fallen. Die Berufung auf Grund- und Freiheitsrechte bei der Kriminalitätsbekämpfung wirkt in dieser Situation anachronistisch, naiv und starrsinnig, und darauf hat sich das konservative Vokabular in der öffentlichen Auseinandersetzung genüßlich eingestellt.

Nicht nur hinsichtlich ihrer Position im Politikfeld, sondern auch hinsichtlich ihrer inhaltlichen Argumente ist eine freiheitssichernde Vorstellung von Innerer Sicherheit schwach bestückt. Dieser Richtung ist es nicht gelungen, Themen oder Schwerpunkte vorzugeben; sie folgt vielmehr den konservativen Deutungen der Zeit und ihren Definitionen des aktuellen „Handlungsbedarfs“ und beschränkt sich auf Gesten des Bestreitens und Warnens. Die Wellen der Verängstigung und Empörung angesichts des frechen Ungestörtseins verbrecherischer Eigenmacht, die derzeit über unsere Medien und Köpfe gehen, drohen jegliche freiheitssichernde Konzeption von Innerer Sicherheit fortzuspülen. Der progressive Kredit, den uns das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Volkszählung vor vielen Jahren eingeräumt hatte, indem es die informationelle Privatheit des Bürgers grundrechtlich ausstattete, scheint verspielt: Dem Datenschutz geht es heute nicht anders als anderen Freiheitsrechten, die im Visier der Verbrechensbekämpfung liegen; er wird mit dem Beiwort „übertrieben” geschmückt und mit „lebensfern” assoziiert.

Dennoch ist auch heute richtig: Eine Kriminalpolitik, welche Freiheitssicherung und Grundrechtsschutz auf Dauer gegenüber Anforderungen einer effektiven Verbrechensbekämpfung unterbelichtet, setzt unsere rechtsstaatlichen Traditionen aufs Spiel —  egal, wer diese Traditionen wie wirkungsvoll vortragen und verteidigen sollte und könnte.

Massen­kri­mi­na­lität und „Orga­ni­sierte Krimi­na­lität”

Wenn man aktuell von Gewalt und Kriminalität spricht, muß man zwei Bereiche unterscheiden, die in ihrer öffentlichen Wirkung einander ähnlich sind, in Entstehungsbedingungen Bedrohungsstruktur und Bekämpfungsmöglichkeiten aber ganz verschieden: Massenkriminalität und organisierte Kriminalität. „Organisierte Kriminalität” ist derzeit das Sesam-öffne-dich für das Arsenal obrigkeitlicher Eingriffe im Namen von Gefahrenvorsorge und Verbrechensaufklärung; die tiefen Einschnitte in die Garantien des Polizei- und des Strafprozeßrechts, die wir schon haben und die wir noch bekommen werden, werden mit dieser Kriminalitätsform gerechtfertigt. Dies verzerrt die tatsächliche Situation gewaltig. Die Bevölkerung wird derzeit von einer ganz anderen Kriminalitätsform real beunruhigt und verletzt, die mit „Organisierter Kriminalität” nicht viel zu tun hat: von der Massenkriminalität. Wer beides vermischt, erschwert eine rationale Kriminalpolitik.

Straßenraub, Wohnungseinbruch, Drogenhandel, Fahrraddiebstahl oder Gewalttätigkeit Jugendlicher nehmen zu, und nicht nur ihre polizeiliche Ermittlung, sondern auch ihre reale Verfolgung tendieren gegen Null. Diese Kriminalitätsformen berühren uns als wirkliche, oder mögliche Opfer unmittelbar — nicht nur in einem körperlichen und ökonomischen, sondern viel folgenreicher in einem seelischen und normativen Sinn: Es ist das Gefühl von Schutzlosigkeit und von Unterlegenheit gegenüber fremder Überhebung, das uns an der kraft des Rechts zweifeln läßt. Dieser Zweifel berührt den Kern der Rechtserfahrung, nämlich die begründete Erwartung einer Neutralisierung sozialer Übermacht in zentralen Fragen des Alltagslebens mit den Mitteln des Rechts, die Chance auch der Schwachen, der Normtreuen und Langsamen, sich mit Hilfe des Rechts behaupten zu können. Wenn all das nicht mehr feststeht, ist nicht nur die Justizförmigkeit, sondern ist auch die Effektivität des Rechtsschutzes am Ende. Verdeckte Ermittler oder langfristige polizeiliche Observation helfen, wie alle anderen Ermittlungsmethoden, über die wir derzeit diskutieren, gegenüber Erscheinungsformen der Massenkriminalität nur, wenn diese Formen organisiert sind — was sie aber zumeist nicht sind. Hier ginge es um ganz andere Arznei, wenn man wirklich heilen wollte: technische Prävention, Polizeipräsenz, Lebenschancen Jugendlicher, Innovationen in der Drogenpolitik, um nur einige ganz unterschiedliche Möglichkeiten zu nennen (umfänglicher s.u.).

Nimmt man also das Phänomen Massenkriminalität kriminalpolitisch zur Kenntnis und richtet seine Abwehrstrategien gezielt auch auf diese Kriminalitätsform, so relativiert sich die Bedeutung von „OK” und nähern sich die Überlegungen den alltäglichen Bedürfnissen der Menschen nach Freiheit und Sicherheit. Es ist eine Taktik populistischer Kriminalpolitik, mit den verbreiteten Ängsten vor Massenkriminalität die freiheitsbeschränkende Bekämpfung „Organisierter Kriminalität” auf den Weg zu bringen, die alltäglichen Probleme der Leute mit Massenkriminalität aber nicht anzupacken.

Die andauernden Erlebnisse und Berichte hinsichtlich massenkrimineller Verletzungen speisen ein allgemeines Klima von Verbrechensfurcht, staatlicher Ohnmacht und innenpolitischer Verheißung, daß mit bestimmten Verschärfungen alles anders würde — eine explosive Mischung. Es wird sich aber so lange nichts ändern, wie sich die reale Kriminalpolitik nicht auf die Massenkriminalität konzentriert. Diese Konzentration würde erhebliche Mittel und vor allem ein kriminalpolitisches Umdenken voraussetzen. Daran scheint derzeit niemand wirklich interessiert zu sein.

Massenkriminalität ist bei uns seit geraumer Zeit: Wohnungseinbruch, Raub und sonstige Gewalt gegen Schwächere auf den Straßen, Auto- und Fahrraddiebstahl, in größeren Städten auch Drogenmißbrauch. Neuerdings kommt politisch maskierte Gewalt gegen Fremde hinzu. Es liegt auf der Hand, daß die Quellen dieser Kriminalitätsformen tiefer liegen und schwieriger auszutrocknen sind als beispielsweise lukrativer internationaler Drogen- oder Waffenhandel; daß diese Kriminalitätsformen ganz andere Präventionsmittel erfordern als die Formen „Organisierter Kriminalität”. Es liegt aber auch auf der Hand, daß eine auf Verschärfungen des Ermittlungsarsenals zielende Kriminalpolitik nicht die Massenkriminalität, sondern die „Organisierte Kriminalität” zu ihrem Argumentationszentrum macht; dort nämlich kann sie sich profilieren.

Erste Voraussetzungen für einen sicherheitspolitischen Neubeginn wären deshalb eine genauere Kenntnis der Kriminalitätsformen, die uns derzeit Probleme machen, die Unterscheidung ihrer Hintergründe und Bekämpfungsformen sowie die gleichmäßige Erstreckung der theoretischen und praktischen Abwehr auf beide Formen aktueller Bedrohung.

„Organisierte Kriminalität” ist weniger gut sichtbar als Massenkriminalität. Die Experten streiten sich noch, worin sie wirklich besteht. Die Beteiligung gut organisierter Banden und auch die Gewerbsmäßigkeit können es alleine nicht sein; das kennen wir nämlich, seit wir moderne Kriminalität kennen. Ich plädiere deshalb dafür, von „Organisierter Kriminalität” erst dann zu sprechen, wenn der Arm gelähmt wird, mit dem wir jegliche Kriminalität bekämpfen wollen: wenn Gesetzgebung, Exekutive oder Justiz erpreßbar oder käuflich werden. Was „Organisierte Kriminalität” genau ist, wie sie sich entwickelt, welche Strukturen und Zukunftsperspektiven sie hat, wissen wir nicht. Die im Umlauf befindliche, umfangreiche Definition ist großflächig und vage, gibt eher eine Richtungs- als eine Begriffsbestimmung, schließt nicht viele Konstellationen aus. Empirische Untersuchungen, etwa des BKA, stehen erst am Anfang einer verläßlichen kriminologischen Aufklärung des Phänomens. Eines ist freilich jetzt schon klar: „OK” wird von Beginn der öffentlichen Diskussion an dargestellt als eine Kriminalitätsform mit riesigem, bislang unbekanntem Bedrohungspotential; die Mittel, die zu ihrer Bekämpfung eingefordert werden, passen zu diesem Kaliber: Sie verändern die bisherigen Grundstrukturen von Polizei- und Ordnungsrecht. Daraus folgt jedenfalls, daß es widersprüchlich wäre, unter „Organisierter Kriminalität” bloß besonders gefährliche, besonders clever organisierte und getarnte Gewerbs- oder Bandenkriminalität zu verstehen: das wäre nichts Neues, sondern nur die Steigerung oder quantitative Modernisierung altbekannter Phänomene, für die in Polizei-, Straf- und Strafprozeßrecht längst gesorgt ist. Nein, „OK” muß — auch in ihrer Begriffsbestimmung — konsequenterweise ein qualitativ neues Bedrohungspotential aufweisen.

Dieses Potential sehe ich im Übergriff krimineller Organisationen auf zentrale staatliche Ordnungsinstanzen. Erst wenn es gelungen ist, Definition, Aufklärung oder Aburteilung von Verbrechen kriminell zu beeinflussen, hat sich die kriminelle Struktur stabilisiert; dann nämlich verwischen sich die Grenzen von Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung, die einen Rechtsstaat konstituieren.

Nach meinem Eindruck ist es genau diese Korruption staatlicher Verbrechensbekämpfung durch das Verbrechen, welche uns an Berichten über fremde Verhältnisse, etwa über die Mafia, tief erschreckt. Dieser Schritt würde einen greifbaren sachlichen Kern einer Vorstellung von „OK” bedeuten; er würde aber natürlich nicht eine — über Begrifflichkeiten erschlichene — Zurückverlagerung der Bekämpfung von „OK” bedeuten, etwa daß man mit Maßnahmen warten müßte, bis sich korruptive Verhältnisse stabilisiert haben. Dem Polizei- und dem Strafrecht sind seit jeher Gefahrenvorsorge und Gefährdungsdelikte vertraut, also Eingriffslagen, die nicht auf das Kind im Brunnen warten, sondern es rechtzeitig bewahren.

Das ist ein Vorschlag für eine präzisere, inhaltsreichere und auf die kriminologisch-sicherheitspolitische Bedeutung von „OK” abgestimmte Vorstellung von dieser Kriminalitätsform. Daß wir uns hier noch im Stadium kriminologischen Halbwissens und begrifflicher Vorüberlegungen befinden, ist freilich weder verwunderlich, noch wird es sich in baldiger Zukunft ändern. Dafür gibt es mehrere Gründe. „Organisierte Kriminalität” ist ein bewegliches Phänomen; sie folgt etwa den Entwicklungen nationaler und internationaler Märkte und ist deshalb schwer zu fassen (Beispiel: Abfallverschiebung). Sie bezeichnet zu einem Gutteil opferlose oder opferverdünnte Delikte (Beispiele: Drogenhandel, Korruption) und wird insoweit von „Opfern” nicht angezeigt. Sie schreckt Opfer, soweit es sie gibt, von Anzeigen und Aussagen ab (Beispiel: Schutzgelderpressung). Sie hat traditionell nationale Nährböden, die woanders nicht oder anders wirken (Beispiel: Mafia bei uns), und die „Organisierte Kriminalität” verfügt über vielfältige Mittel der Tarnung und Abschottung.

Daraus kann man natürlich nicht den Schluß ziehen, mit Abwehrmaßnahmen so lange zu warten, bis man präzise weiß, womit man es zu tun hat; das wäre in der Tat eine naive Haltung. Eine rechtsstaatliche Kriminalpolitik muß aber doch Konsequenzen aus der Tatsache ziehen, daß ihr der Gegenstand ihrer Abwehr derzeit ziemlich unzugänglich ist, sie darf nicht — was sie derzeit weithin macht — kriminologische Unkenntnis mit Bedrohungsintensität einfach verrechnen und so tun, als sei es sinnvoll, bei besonders bedrohlichen Lagen auch schon einmal blind zuzuschlagen.

Diese Konsequenzen sind: Einsatz erheblicher Kräfte zur kriminologischen Aufklärung der „OK”: Wenn die Lage schon so bedrohlich ist, dann muß man alles tun, um möglichst bald klar zu sehen; vorsichtiger, bedächtiger Einsatz scharfer Ermittlungs- und Abwehrmaßnahmen: Wer sein Ziel nicht genau sieht und deshalb mit Schrot schießen muß, muß die Streuung so weit wie möglich beherrschen, sowie permanente erfahrungswissenschaftliche Vergewisserung, ob und wo die Abwehrmaßnahmen greifen oder nicht: Wer ins Dunkle geht, muß seine Schritte sichern.

Die Verschär­fung des Rechts

Vor allem die Furcht vor „Organisierter Kriminalität” hat unser Polizeirecht, aber auch unser Strafrecht in letzter Zeit radikal verändert und verschärft. Fundamentale Prinzipien gelten nicht mehr oder nur noch eingeschränkt:

– der Grundsatz „im Zweifel für den Beschuldigten”;

– die Trennung von Polizeiarbeit und Strafverfolgung (also von Prävention und Repression);

– die Konzentration von Maßnahmen auf den Störer im Polizeirecht und auf den Verdächtigen im Strafprozeßrecht;

– die grundsätzliche Offenheit von Ermittlungen.

Unsere derzeitige Situation in der Kriminalpolitik ist nicht — obwohl die Diskussionen in der Öffentlichkeit diesen Eindruck vermitteln — dadurch gekennzeichnet, daß die Sicherheitsbehörden nun endlich mit dem Nötigsten ausgestattet werden sollten, um der „OK” Herr zu werden, im Gegenteil: Gerade in der letzten Zeit haben die Behörden in reichem Maße die gesetzlichen Zwangsmittel bekommen, die sie zuvor jahrelang vergeblich eingefordert hatten, sowohl in den Polizeigesetzen der Länder als auch in der Strafprozeßordnung und im Strafgesetzbuch des Bundes: Verdeckte Ermittler, Kronzeugen, langfristige polizeiliche Observation, erweiterte Telefonüberwachung, Zeugenschutz, Datenabgleich oder Rasterfahndung, Ausschreibung zur Beobachtung, Lauschangriff, Vermögensstrafe, Strafbarkeit der Geldwäsche. Was nun noch gefordert wird, ist nicht wenig, aber demgegenüber eine Kleinigkeit.

Von den realen Ereignissen her gesehen, müßte unsere Diskussionslage so beschaffen sein, daß die Sicherheitsbehörden darlegen, welche Erfolge sie in der Zwischenzeit mit den ihnen gesetzlich zur Verfügung gestellten Mitteln erzielt haben, und daß aufgrund dieser praktischen Erfahrungen über die Eignung dieser Mittel befunden wird. Stattdessen sieht sich die liberale Öffentlichkeit in derselben defensiven Situation wie zuvor, nämlich unverzichtbare Bekämpfungsmittel gegen die „Organisierte Kriminalität” verweigern zu wollen — auch dies ein Beleg für die gerade charakterisierte argumentative Schwäche einer grundrechtsorientierten Sicherheitspolitik.

Die aufgezählten Verschärfungen der polizeilichen, strafprozessualen und strafrechtlichen Eingriffsrechte haben zu fundamentalen Veränderungen unserer rechtsstaatlichen Traditionen in diesen Bereichen geführt. Die „vorbeugende Verbrechensbekämpfung” als Ziel polizeilichen Handelns ebnet den Unterschied von Prävention und Repression, von Gefahrenvorsorge und Verbrechensbekämpfung ein, der bislang Polizei- und Strafprozeßrecht auseinandergehalten hat. Ermittlungsmethoden wie Telefonüberwachung, polizeiliche Observation, verdeckte Ermittlungen, Datenabgleich erstrecken sich notwendig auf unbeteiligte Dritte — bislang eine klare Ausnahme —, die Einbeziehung sog. „Kontaktpersonen” zielt das sogar an. Alle diese Mittel werden im Rücken der Betroffenen, werden heimlich eingesetzt: bislang waren Ermittlungen grundsätzlich offen — schon damit die Betroffenen sich rechtzeitig wehren konnten. „Vorermittlungen” beseitigen die Eingriffsgrenze des Verdachts und damit die traditionelle Rechtfertigung eines Zugriffs auf Unschuldige. Die Vermögensstrafe bürdet nunmehr dem Betroffenen den Nachweis der Anständigkeit seines Verhaltens auf.

Ich plädiere nicht für eine Rücknahme dieser Veränderungen. Ich plädiere nur dafür, den bereits zurückgelegten Weg im Auge zu behalten, wenn es jetzt um neuerliche Verschärfungen geht. Es gibt derzeit vor allem drei weitere Forderungen nach Verschärfung: der „große Lauschangriff` im Strafprozeß, das Recht verdeckter Ermittler, „milieutypische” Straftaten zu begehen und der Einsatz geheimdienstlicher Mittel bei der Kriminalitätsbekämpfung. Die Erfüllung dieser Forderungen wird wahrscheinlich nicht viel Nutzen, sicher aber viel Schaden bringen.

Es ist schwierig, sich über die weiteren Forderungen der Sicherheitsbehörden nach Verschärfung eine begründete Meinung zu bilden, solange man nicht weiß, was denn die bisherigen Verschärfungen positiv und negativ erbracht haben. Schon dieser Umstand: daß nicht Rechnung gelegt wird, bevor die nächsten Schritte in dieselbe Richtung getan werden sollen, ist ein entscheidender Faktor. Denn Grund des Informationsbedürfnisses ist nicht theoretisches Wissenwollen, sondern die Sorge, daß Eingriffsrechte auf Halde gesammelt werden.

Es liegt nämlich auf der Hand, daß die bisher vom Gesetzgeber flächendeckend erlaubten Eingriffe kriminalistisch keineswegs flächendeckend sinnvoll sind: die Telefonüberwachung stößt auf Hindernisse und Grenzen bei Entwicklungen der Informationstechnologie, die Rasterfahndung bei informierten Verhaltenskorrekturen der gesuchten Personen, die verdeckten Ermittler haben dieselben Probleme bei ethnischen Gruppen. Das wird bei den jetzt geforderten Verschärfungen vermutlich nicht anders sein. Das Strafprozeßrecht ist — gerade bei den Zwangsmitteln des Ermittlungsverfahrens — angewandtes Verfassungsrecht; es eignet sich nicht als Abstellraum ausrangierter Ermittlungsbefugnisse. Bevor man solche Befugnisse verteilt, sollte man wissen, was sie taugen und was sie anrichten.

Über die einzelnen Forderungen selbst sind die Argumente in der Öffentlichkeit längst ausgetauscht, ich bezeichne sie nur kurz. Es kann sein, daß die Effektivität der Kriminalitätsbekämpfung gesteigert wird; Genaueres weiß man nicht. Man weiß aber genau, welche rechtsstaatlichen Traditionen für dieses Ziel eingetauscht werden: Wenn die private Wohnung des Bürgers (es geht ja nicht um „Täter”, wie es immer heißt, sondern schlimmstenfalls um Verdächtige) dem staatlichen Zugriff geöffnet wird, so hat das Grundrecht aus Art. 13 GG keinen Anwendungsbereich mehr; was, wenn nicht dieser Ort, sollte der Kernbereich räumlicher Privatheit sein? Wenn Ermittlungsbeamte bei ihrer Arbeit Straftaten begehen dürfen, fällt für den Bürger die äußerlich sichtbare Grenze zwischen Kriminalität und Kriminalitätsbekämpfung und setzt der Staat seine moralische Überlegenheit über das Verbrechen aufs Spiel; für mich haben die Ereignisse in Bad Kleinen auch den Grundsatz bestätigt, daß der Staat sich nicht den Anschein geben darf, die Methoden derer zu verwenden, die er mit Fug eben wegen dieser Methoden verfolgt. Wenn der Verfassungsschutz sich an der Kriminalitätsbekämpfung mit seinen Mitteln beteiligen darf (was vermutlich effektiv wäre), dann ist es hier zu Ende mit Transparenz und Kontrolle: nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Öffentlichkeit und die allgemeine Politik.

Wir haben uns an eine Abwägungsmechanik gewöhnt: Wenn eine Bedrohung uns als besonders stark erscheint, ist uns nichts mehr heilig, auch nicht Grundrechte (wie etwa Art. 13 GG) und einstmals unantastbare Traditionen (wie etwa die Trennung von Polizei und Verfassungsschutz). Eine Rechtskultur bildet sich aber nicht an jeweiligen Abwägungsprozessen (welche den Rechtsprinzipien dann im Einzelfall doch keine Chance lassen), sondern am Bestand derjenigen Grundsätze, die wir auch in Notzeiten für Abwägungsfest, für unverfügbar halten. Davon gibt es nicht mehr viele.

Hintergründe

Daß Kriminalität und Gewalt in unserer Wahrnehmung heute eine so große Rolle spielen, hat Hintergründe, die längerfristig stabil sind. Sie sind ein Teil unseres Alltagslebens. Sozialphilosophen sprechen heute von „Risikogesellschaft” und meinen damit, daß wir in unserer Alltagswelt wachsende Schwierigkeiten mit einer stabilen Orientierung haben. Die Komplexität unserer Beziehungen wird zuvörderst als bedrohlich erlebt, Verletzungsrisiken sind zugleich umfassend, verheerend und diffus: Wir können uns weniger gut auf erwartbare Schäden einstellen und dürfen nicht hoffen, eingetretene Schäden beheben zu können; die Großrisiken moderner Technologie, von der wir abhängen, erscheinen als nicht beherrschbar und schaffen ein allgemeines Klima von Bedrohung, ja von Ausgeliefertsein. Sozialpsychologen sprechen heute von „Narzißmus” und meinen damit, daß die Normen unseres Alltagslebens brüchig und kraftlos geworden sind. Institutionen sozialer Kontrolle wie Berufswelt, Nachbarschaft oder Schulgemeinschaft haben ihre Kraft verloren, normative Selbstverständlichkeiten des Zusammenlebens zu sichern. Vorgegebene Haltungsstile, die nicht noch einmal eigens erfunden werden müssen und aus einem Geflecht unhinterfragter Normen bestehen, sind anachronistisch. Im ganzen geht die Entwicklung hin zu Vereinzelung und Endsolidarisierung, zu einer sozialen Stärkung der Starken und einer Schwächung der Schwachen.

Auch ohne wissenschaftliche Beratung kann jeder die Prozesse sehen, die derzeit diese allgemeinen Tendenzen bei uns noch konkret verstärken. Ich brauche nur zu erinnern an die Faktoren, die einer wachsenden Zahl von Menschen ihre Zukunft ungewiß machen: die Knappheit von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, die Entwicklung der Renten, der Mieten, der Pflegekosten — verbunden mit einer Ökonomisierung unseres Alltagslebens: der wachsenden Chancen der Wendigen, reich zu werden und sozial aufzusteigen, der relativen Verarmung der anderen. Diese Tendenzen sind letztlich auch für unsere Einstellung gegenüber Kriminalität und Gewalt verantwortlich. Auf den Punkt gebracht, bestehen diese Tendenzen nämlich in einer langfristigen Veränderung der sozialen Normen, auf welche die Rechtsnormen in ihrer faktischen Geltungskraft angewiesen sind und ohne welche die Rechtsnormen nichts ausrichten können: In einer Welt von Teufeln haben — bildlich übertrieben — weder Polizei noch Strafrecht eine Chance. Dagegen sind Oberflächenphänomene wie etwa Gewaltdarstellungen im Fernsehen, die gerne für die beklagten Tendenzen haftbar gemacht werden, nicht die Quelle, sondern eines der Anzeichen des Übels: Hätten wir eine andere Einstellung zur Gewalt, so hätten solche Darstellungen keine Verbreitung, und ihre Vertreibung vom Bildschirm würde — falls sie überhaupt gelänge — nicht die Botschaft, sondern den Boten treffen.

Kriminalität und Kriminalitätsfurcht sind nicht wie Ding und Spiegel. Bedrohungsgefühle sind kein schlichter Reflex tatsächlicher Bedrohung, sondern auch Konsequenz von Zuständen sozialer Endsolidarisierung und Verunsicherung. Nicht die reale Bedrohung durch Kriminalität und Gewalt, sondern die allgemeine Wahrnehmung einer solchen Bedrohung ist der für die Politik der Inneren Sicherheit entscheidende Faktor. Es sind die Bedrohungsgefühle, welche die Bevölkerung beherrschen und welche einmal sofortige Verschärfung von Eingriffsmitteln fordern, ein anderes Mal Lockerungen und Verstärkungen von Garantien erlauben. Dabei gibt es keine schlichte Kausalbeziehung zwischen Bedrohung und Bedrohungsgefühl; es gibt vielmehr gesteigerte Verbrechensfurcht bei reduzierter Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Verbrechens zu werden, und es gibt das Gegenteil.

Die Politik der Inneren Sicherheit muß deshalb nicht nur mit Entstehungsbedingungen von Kriminalität und Gewalt, sondern auch mit eigenständigen Wahrnehmungsfaktoren rechnen. Das kompliziert sie auf den ersten Blick. Freilich ist anzunehmen — Einzelheiten sind noch nicht verläßlich erforscht —, daß die Faktoren, die Bedrohungsgefühle begründen und steigern, ebenfalls auf Prozessen der Normerosion, der Vereinzelung und Endsolidarisierung beruhen, daß sie Ergebnis normativer Entstabilisierung sind. Das Gefühl von Bedrohung ist nicht auf kriminelle Angriffe konzentriert; es ist diffus und erstreckt sich auf vielerlei. Insoweit würde die grundsätzliche Differenz von krimineller Bedrohung und Bedrohungsgefühl am Ende keine Differenzen in einer Politik der Inneren Sicherheit fordern und käme es für eine langfristig angelegte Kriminal- und Sicherheitspolitik auf dasselbe Ziel an: normstabilisierende, solidarisierende Prozesse zu initiieren und zu begünstigen.

Auswege

Wenn diese Bestandsaufnahme auch nur ungefähr stimmt, dann gibt es kein schnell wirkendes Allheilmittel gegen Gewalt und Kriminalität. Der richtige Weg führt vielmehr über eine pragmatische, differenzierende und zukunftsorientierte Innenpolitik.

Kriminalität und Kriminalitätsfurcht haben tiefe und verzweigte Wurzeln. Deshalb ist es unangemessen und irreführend, die Diskussion um die richtige Sicherheits- und Kriminalpolitik auf neue Ermittlungsbefugnisse zu verkürzen, die derzeit auf der Wunschliste der Sicherheitsbehörden stehen. Die Konsequenz dieser Verkürzung ist nämlich die Erwartung einer aufmerksamen Bevölkerung, daß die Probleme von Kriminalität und Gewalt sich nach der Zuteilung dieser Befugnisse werden lösen lassen. Das wäre, wie jeder Kundige weiß, eine Täuschung. Also muß man die Engführung auflösen und versuchen, den Dimensionen, welche eine Sicherheitspolitik heute hat, gerecht zu werden.

Sicherheitspolitik ist nicht nur Polizeipolitik, sondern auch Kriminalpolitik, und sie hat als solche nicht nur Gesichtspunkte polizeilicher Effektivität, sondern auch straf- und verfassungsrechtliche Garantien in ihrem Gepäck. Auch das aber ist noch zu wenig. Wie die Hintergründe haben erkennen lassen, ist Sicherheitspolitik ohne Rücksichten auf Jugend, Arbeit, Wohnen, Soziales, Bildung eine auf Dauer hoffnungslose Veranstaltung. Sicherheitspolitik kann deshalb nur als Teil einer abgestimmten Innenpolitik sinnvoll sein.

Sicherheitspolitische Überlegungen müssen pragmatisch sein. Damit meine ich nicht nur die Abgrenzung gegenüber einer kriminologisch-wissenschaftlichen Beschäftigung, die sich drängenden Alltagsfragen verweigern darf, sondern vor allem die Entschlossenheit, dogmatisch-scholastische Frontstellungen wie die des „Lauschangriffs” oder der „milieutypischen Straftaten” aus dem Zentrum des Interesses zu entfernen und stattdessen hinzu-schauen, vor welchen Kriminalitäts- und Gewaltproblemen wir tatsächlich stehen und welche Mittel es dagegen geben könnte. Pragmatik heißt aber auch, sich der realen Wirkungen sicherheitspolitischer Entscheidungen zu vergewissern und die Entscheidungen notfalls von deren Wirkungen her zu korrigieren. Bisher gilt: Wenn wir uns zur Einführung von Eingriffsbefugnissen entschlossen haben, so bleiben sie gemeinhin im Gesetzbuch und in der Welt und treiben ihr Wesen; pragmatisch betriebene Politik hingegen rechnet nicht nur mit der Erreichung oder Verfehlung der intendierten Wirkungen, sondern auch mit nicht-intendierten, aber notwendig verursachten Nebenfolgen. Die löbliche sicherheitspolitische Reaktion auf aktuelle Änderungen der Lage darf nicht nur Verschärfungen, sie muß auch Rücknahmen, Korrekturen und Milderungen in ihrem Programm haben.

Schließlich muß die politische Antwort auf Gewalt und Kriminalität zu Unterscheidungen fähig sein. Das betrifft, wie schon besprochen, die Differenzierung von Typen der Kriminalität, heute insbesondere organisierte und Massenkriminalität. Das betrifft aber auch die zeitlichen Dimensionen der Politik. Es ist klar, daß man angesichts aktueller Bedrohungen nicht auf langfristige Veränderungsprozesse setzen kann. Es ist aber ebenso klar, daß kurzfristige Maßnahmen erst in einer längerfristigen Perspektive beurteilt, ja auch nur diskutiert werden können. Längerfristige Perspektiven haben unsere sicherheitspolitischen Entwürfe derzeit nicht. Langfristig werden sich die Auswirkungen der Risikogesellschaft mit politischen — gar nur kriminalpolitischen — Mitteln nicht beherrschen lassen. Unsere Innenpolitik kann und muß aber, im Rahmen ihrer Möglichkeiten, die Entsolidarisierung der Gesellschaft mindern und deren Konsequenzen für die Menschen abmildern. Die Prozesse von Normerosion, Ökonomisierung oder Entsolidarisierung sind direkter politischer Intervention sicherlich nicht zugänglich — ganz abgesehen von der offenen Frage, ob und inwieweit es überhaupt wünschbar wäre, diese Prozesse umzukehren. Modernisierung kann man nicht „zurücknehmen”; man lebt in ihr.

Innenpolitik als Rahmen — auch — einer Sicherheitspolitik kann aber bestimmte Modernisierungsfolgen abfedern oder umverteilen, sie kann versichernde und solidarisierende Tendenzen befördern oder doch jedenfalls das Gegenteil unterlassen. Hier geht es vor allem um Lebenschancen der Schwachen, der Kinder, der Jugendlichen, der Alten und der Fremden. Daß Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik ist, gilt in diesem Zusammenhang nicht erst seit heute. Dabei kommt es aktuell gar nicht auf die Ausarbeitung hilfreicher Programme an — die gibt es schon —, sondern darauf, die innen-, vor allem die sozialpolitischen Grundlagen einer Sicherheitspolitik zu erkennen und dann aufgrund dieser Erkenntnis einen Teil der Energien, der Phantasie und der Ressourcen, die wir derzeit für kurzfristige sicherheitspolitische Ziele einzusetzen bereit sind, auf diese langfristige Perspektive zu verwenden.

Auch in dem, was bisweilen „Verfassungspatriotismus” genannt wird, sehe ich einen Weg langfristiger Solidarisierung. Nicht nur ökonomische, sondern ebenfalls normative Parameter bestimmen den Bestand, die Einheit, Gleichheit und Gerechtigkeit einer Gesellschaft. Die fundamentalen Bürgerrechte m unserer Verfassung und in der europäischen Tradition können in meinen Augen gerade in der Bundesrepublik angesichts der Probleme mit unserer jüngeren Geschichte ein Ferment sein, über das sich Gemeinschaftlichkeit und solidarisches Selbstbewußtsein der Bürger entwickelt. Die selbstverständliche Achtung der Rechte anderer ist, so gesehen, auch eine wirksame Barriere gegenüber dem Zerfall von Gesellschaft und dem Abgleiten in Kriminalität; das sollten wir mitbedenken, wenn wir Grundrechte und polizeiliche Effektivität abwägen.

Ein letztes zu einer langfristigen Perspektive der Sicherheitspolitik. Unsere aktuellen Diskussionen favorisieren den Aspekt »Sicherheit“ zum Nachteil des Aspekts „Politik”. Damit meine ich vor allem, daß wir einäugig auf die Elemente einer technisch-effizienten Verbrechenskontrolle fixiert sind und normative Gesichtspunkte wie langfristige Voraussetzungen der Inneren Sicherheit, wie Alternativen oder Kosten dieser Kontrolle nur am Rande wahrnehmen. Eine RePoltisrung der Debatte um die Sicherheitspolitik würde aber auch zur Folge haben, daß diese Debatte wieder mehr durch die interessierten Bürger statt durch die Experten geführt wird. Es stünden allgemeine, nicht kriminalistische Fragen im Vordergrund. Dafür freilich scheinen mir die Zeichen nicht günstig zu sein. Die Entwicklungen, die unter dem Schlagwort „Politikverdrossenheit” zusammengefaßt werden, zeigen ja an, daß das Medium Politik für die Menschen seine Kraft zur Problembewältigung einbüßt, daß ein Problemlösungsmittel in der Wahrnehmung der Bevölkerung tendenziell wegbricht. Für die Innere Sicherheit ist das langfristig gefährlich. Denn gerade auf diesem Sektor ist eine auf Zukunft orientierte, rationale staatliche Politik lebenswichtig; die Gesellschaft alleine kann die Probleme von Gewalt und Kriminalität nicht lösen.

Mittelfristig müssen wir in der Innenpolitik pragmatische Vernunft an die Stelle von Graben- und Glaubenskriegen setzen. Wir müssen unterschiedliche Formen von Kriminalität unterschiedlich beantworten, wir müssen kontrolliert experimentieren und ausgetretene Pfade Schritt für Schritt verlassen. Die Pragmatisierung der Sicherheitspolitik ist eine Perspektive über den Tag hinaus, sie kann aber schon jetzt beginnen, und sie hat dies m mancher Beziehung bereits getan. Die Abkehr von plakativen Positionen wird den Blick öffnen für die konkrete Unterschiedlichkeit von Kriminalitätsformen und Reaktionsmöglichkeiten, und sie kann die Kräfte, die derzeit mit der Forderung nach Neuem gebunden sind, freimachen für eine intensivere Nutzung der vielfältigen Möglichkeiten der Kriminalitätsbekämpfung, die wir schon haben.

Damit sind — das ist der erste Aspekt — konkret nicht nur gesetzliche, sondern auch faktische Ressourcen gemeint. Daß unsere Polizei beispielsweise gerade auf den Feldern derjenigen Kriminalitätsformen, welche die Bürger unmittelbar ängstigen, gegenüber dem privaten Sicherheitsgewerbe immer weiter ins Hintertreffen gerät, ist sicherheitspolitisch skandalös und rechtsstaatlich gefährlich. Hier privatisiert sich naturwüchsig ein Bereich, der Herzstück der Staatlichkeit ist, und das hat Folgen: Ungleichheit der Reichen und der Armen im Schutz vor dem Verbrechen; Verlust an Normbindung, an Grundrechtsschutz und an rechtsstaatlicher Kontrolle der Verbrechensbekämpfung. Pragmatische Sicherheitspolitik wird dieses Problem mittelfristig nicht nur, und auch nicht zuerst, über neue polizeigesetzliche oder strafprozessuale Regelungen angehen. Sie wird vielmehr auf problemnahe Änderungen setzen: Ausstattung und Präsenz der Polizei, verbesserte Stellenpolitik, Ausbildung und Bezahlung, Favorisierung technischer Prävention, Regulierung des Zugangs zu privaten Sicherheitsdiensten und deren Überwachung, stärkere Betonung des Faktors Mensch bei der Polizei statt des Faktors Informationstechnologie usw. Ich bin überzeugt, daß wir schon mit diesen Mitteln einen viel wirksameren Schutz der Bürger vor Gewalt erreichen werden.

Als zweiten Aspekt mittelfristiger Sicherheitspolitik möchte ich exemplarisch an Vorschläge erinnern, die Sicherheitslage durch Reduzierung des Strafrechts auf die Sicherheitslage durch Reduzierung des Strafrechts auf diejenigen Möglichkeiten zu entspannen, die ihm tatsächlich zur Verfügung stehen — also dort zu entkriminalisieren, wo das Strafrecht zwar beruhigend, aber kontraproduktiv wirkt: besonders in der Drogenpolitik. Die Vorschläge liegen auf dem Tisch, ich will sie nur in meinem Zusammenhang einordnen.

Die Drogenpolitik ist eines der wenigen Felder, wo organisierte und Massenkriminalität einander berühren: „OK” ist Betäubungsmitteln; vor allem der internationale Handel mit die Beschaffungskriminalität der Drogenabhängigen macht wiederum ein Gutteil unserer Massenkriminalität aus. Also ist es sicherheitspolitisch dringend, hier einen Ausweg zu finden. Der Ausweg führt aus dem Drogenstrafrecht hinaus in eine gesundheitspolitische Konzeption des Drogenproblems. Das unermeßllche Leid der Betroffenen und ihrer Nächsten, die Furcht der Eltern für ihre Kinder, die immensen Kosten jeglicher Art, die wir alle zu tragen haben — all dies haben wir wesentlich dem Umstand zu verdanken, daß wir auf das Drogenproblem mit Verbot und Strafe reagieren statt mit Hilfe und Angeboten: Der Schwarze Markt verdankt sich der Illegalität, dem Schwarzen Markt verdanken sich die exorbitanten Gewinne der Dealer und folglich ihre hohen Einsätze, aber auch Ansteckung, Tod, alltägliches Elend und Verführung der Abhängigen. Ich plädiere nicht für „Heroin aus der Drogerie”. Ich plädiere für ein mittelfristig abgestuftes „Ausschleichen” aus dem Drogenstrafrecht und für kontrollierte Experimente, welche diesen Weg Schritt für Schritt sichernd begleiten. Nicht unser dogmatisches Entweder-Oder ist vernünftiger Pragmatismus, sondern ein experimentelles Nach-und-Nach, welches nachjedem Schritt die Chance für Erfahrungslernen und neuerliches Entscheiden gibt. Am Ende könnte eine Drogenpolitik stehen, wie wir sie etwa bei Tabak, Alkohol und Medikamenten haben: strenge, auch strafrechtlich flankierte, staatliche Kontrolle von Herstellung und differenzierter Abgabe dieser gefährlichen Stoffe, allgemeine Ächtung der Drogen, differenzierte Hilfen für die Abhängigen.

Das führt zu einem letzten Aspekt mittelfristiger Perspektiven. Auch eine pragmatisch orientierte Politik wird das Drogenproblem mittelfristig nicht in dem Sinne „lösen”, daß es verschwindet. Solange es Menschen gibt, gibt es Drogen, und solange Menschen in Gesellschaft leben, gibt es Kriminalität. Gerade angesichts der Erkenntnisse zur Kriminalitätsfurcht kommt es auf die verbreitete Einsicht an, daß — entgegen populistischen Simplifizierungen — die »Ausrottung« von Drogenabhängigkeit oder Kriminalität weder ein kriminologisch erreichbares noch rechtsstaatlich erträgliches Ziel ist. Es ist immer ein Kennzeichen autoritären Denkens (zuletzt in der offiziellen Kriminalpolitik der DDR), der Bevölkerung das Märchen von der kriminalitätsfreien Gesellschaft zu erzählen. Die Kehrseite (und darauf kommt es sicherheitspolitisch an) ist der konsequente Wille, diese gesellschaftliche Reinheit durch iteratives Drehen an der Kontrollschraube herzustellen (und dabei natürlich nie ans Ziel zu kommen). Pragmatische Politik der Inneren Sicherheit richtet sich hingegen auch mittelfristig auf das Fortbestehen von Kriminalität ein. Nur so lassen sich technische Effektivität und Grundrechtsschutz in ein Gleichgewicht bringen und erscheinen die Rechte der Betroffenen nicht nur als vermeidbare Kosten guter Polizeiarbeit.

Kurzfristig sollten wir wieder akzeptieren, daß es in der Sicherheitspolitik nicht nur um Effektivität, sondern auch um Gerechtigkeit und den Schutz von Menschenrechten geht. Grundrechtseingriffe müssen behutsam abgewogen, sie müssen konzentriert und — auch durch neuartige Instrumente — abgesichert werden. Damit bin ich eigentlich wieder am Anfang. Kurzfristig muß die Debatte um die Innere Sicherheit inhaltlich um die freiheits- und grundrechtsschützende Dimension erweitert werden, die ihr fast vollständig abhanden gekommen ist. Dies läßt sich in normativer und in technischer Hinsicht konkretisieren.

Normativ muß man für das überkommene, das traditionelle Verständnis der Grundrechte werben, die im Bereich der Inneren Sicherheit Abwehrrechte gegen staatliche Übergriffe und nicht Hindernisse vernünftiger Polizeiarbeit sind. Das bedeutet beispielsweise, daß der Kernbereich der Grundrechte wieder als unverfügbar, als staatlicher Disposition auch in Notzeiten entzogen, verstanden wird, daß nicht alles, was unsere Rechtskultur trägt, gegen die Aussicht auf effiziente Ermittlungen nach und nach eingetauscht werden darf. Das bedeutet beispielsweise auch, daß wir mit der weit verbreiteten Legende aufhören, die staatlichen Ermittlungen, über die wir diskutieren, richteten sich nur gegen die „Täter”, als gäbe es eine markierte, die staatlichen Ermittlungen begrenzende, Linie zwischen guten Bürgern und den „anderen”. Schön wär’s, aber das Gegenteil ist wahr: Hätten wir die „Täter” (oder die „Kriminellen” oder die „Dealer” oder wie die Stigmatisierungen alle lauten), so brauchten wir keine Ermittlungen, und solange wir ermitteln, geht es nicht um »Tater“ sondern um Verdächtige oder Kontaktpersonen, weil in Europa die Unschuldsvermutung gilt. Auch kurzfristig sollte sich jeder, der sich an der Debatte beteiligt, solcher verbalen Manipulationen enthalten.

Technisch geht es nicht um Tradition, sondern um Phantasie. Man muß sich Möglichkeiten einfallen lassen, die Grundrechte zu sichern, ohne die Ermittlungsarbeit nennenswert zu beeinträchtigen. Solche Möglichkeiten gibt es, wir haben uns in unseren Glaubenskriegen nur zu wenig mit ihnen befaßt. Ich nenne einige Beispiele. Diese Beispiele lassen sich unter zwei Ziele einordnen: Konzentration und Kontrolle. Möglicherweise gibt es noch andere Ziele für die Beschränkung von Eingriffen, und sicher gibt es weitere Beispiele.

Je präziser der Eingriff auf sein Ziel angesetzt wird, desto eher kann er hingenommen werden, weil er desto weniger normativen Schaden anrichtet. Wurde man, wie es der Palliative Sprachgebrauch suggeriert, immer nur die „Täter” treffen, so wäre unser Problem entschärft; leider trifft man bestenfalls die Verdächtigen, also auch Unschuldige und real Unbeteiligte. Unser Eingriffsrecht trägt diesem Prinzip der Konzentration des Eingriffs schon Rechnung, etwa durch die Bindung eines Eingriffs an den hinreichenden oder den dringenden Tatverdacht. Auch der datenschutzrechtliche Grundsatz der Zweckbindung der Datenverwendung auf den Zweck, zu dem die Daten erhoben worden sind, soll in diese Richtung wirken — soll: er ist vielfach durchlöchert. Endlich sind auch die Kataloge von Straftaten, deretwegen etwa Telefone überwacht oder Daten abgeglichen werden dürfen, zu nennen; sie dienen der Konzentration der Ermittlungen auf einen möglichst bestimmten Gegenstand. Je genauer sie ihn treffen‚ desto eher kann man sie rechtlich hinnehmen.

Auf diesem Feld läßt sich noch ernten. Wir neigen nämlich derzeit nicht zu Konzentration, sondern eher zu der Theorie, daß die Polizei all das, was sie in die Hände bekommen hat, auch nutzen darf: „Zufallsfunde“ sind nicht angezielt, aber angenehm. Weil das so ist, gibt es berechtigtes Mißtrauen in die Ermittlungstätigkeit. Wären wir bei der Verwendung der Informationen strenger, würden wir die Zielgenauigkeit verbessern, dann könnten wir bei der Beschaffung der Informationen gelassener sein. Konkret: Würden — bei präziser Vorstellung des Phänomens »OK”— erlangte Informationen nur für bestimmte Komplexe verwertbar, würde man faktisch nur dann eingreifen, wenn der Treffer hoch wahrscheinlich ist, so ließe sich der Grundrechtseingriff eher ertragen.

Auch die Kategorie der Kontrolle ist unserem Eingriffsrecht vertraut, etwa in richterlichen Anordnungszuständigkeiten oder im Rechtsschutz gegen Eingriffe. Auch hier sind Verbesserungen denkbar. Das Prinzip lautet: Je weniger — für Betroffene und Öffentlichkeit — ein Grundrechtseingriff kontrollierbar ist, desto eher ist er normativ unerträglich. (Dies ist übrigens eines der Argumente gegen den Einsatz des Verfassungsschutzes in unserem Bereich. Wir sind gewohnt, Polizei und Justiz nicht sehr genau in die Karten zu sehen und Arkanum der Behörden zu achten.

Jedenfalls für eine Übergangszeit wäre, in der Form eines kontrollierten Experiments, angesichts hoher Bedrohung durch „Organisierte Kriminalität“ und neuer Ermittlungsbefugnisse, denkbar, daß die Behörden die Öffentlichkeit — nicht an Einzelheiten, aber — an Erfolgen und Mißerfolgen ihrer Eingriffe informativ teilnehmen lassen, daß sie, bezogen auf anonym bleibende Einzelfälle, über Nutzen und Kosten der Eingriffe präzise und öffentlich Rechnung legen. Das öffentliche Interesse an solchen Informationen dürfte bestehen. In prekären Fällen ließe sich etwa an Einsichtsrechte von Parlamentariern oder von Bürgerbeauftragten denken, die nicht Einzelheiten, wohl aber strukturelle Informationen weiterzugeben eben hätten.

Dagegen wird man einwenden, das passe nicht in unser System. Darauf wird man antworten müssen: die neuen Ermittlungsbefugnisse auch nicht. — Wenn wir weiterkommen wollen in einer rechtsstaatlichen Politik der Inneren Sicherheit, müssen auch die Sicherheitsbehörden neue Wege gehen.

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