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Außer Spesen nichts gewesen?

vorgängevorgänge 12412/1993Seite 7-14

Bilanz der Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 7-14

Am 1.7.1993 fand die letzte Abstimmungsrunde der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat statt. Die dort gefaßten Beschlüsse — außer denen im Bereich „europäische Integration“ —müssen freilich noch das Gesetzgebungsverfahren mit jeweils einer erforderlichen Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat durchlaufen.

Um die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission zu bewerten, empfiehlt sich ein Blick zurück: Wenngleich die deutsche Vereinigung ihr Auslöser war, gelang es nicht, diese unmittelbar mit der Schaffung eines verfassungsgebenden Prozesses zu verbinden. Immerhin erreichte die BürgerInnen-Bewegung, in Art. 5 des Einigungsvertrages die Empfehlung durchzusetzen, „sich innerhalb von zwei Jahren mit den im Zusammenhang der deutschen Einigung aufgeworfenen Fragen zur Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zu befassen, insbesondere in bezug auf das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, mit den Überlegungen zur Aufnahme von Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz sowie der Frage der Anwendung des Art. 146 GG und in deren Rahmen einer Volksabstimmung”. Zur Umsetzung dieser Empfehlung wurde von SPD sowie Bündnis 90/ Die Grünen die Einrichtung eines Verfassungsrates gefordert, der zu gleicher Zahl aus Frauen und Männern bestehen sollte. Ihm sollten auch engagierte BürgerInnen, die nicht Mitglied einer Volksvertretung sind, z.B. hervorragende Persönlichkeiten aus allen wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens, sowie Vertreterinnen der Bundesländer angehören. Über den von einem solchen Verfassungsrat vorzulegenden Verfassungsentwurf sollte ein Volksentscheid nach Art. 146 GG durchgeführt werden. Gefordert wurde ausdrücklich ein Ausgleich des demokratischen Defizits der Vereinigung beider deutscher Staaten sowie eine integrationspolitische Wirkung. [1]

Im Sommer 1991 richtete der Bundesrat als ersten Schritt eine Verfassungsreformkommission ein, die wesentliche Vorarbeiten für die Arbeit der späteren Gemeinsamen Verfassungskommission leistete und insbesondere gemeinsame Forderungen zur Stärkung der Länderrechte erarbeitete. Die Schaffung eines Verfassungsrates scheiterte am Widerstand der Koalitionsfraktionen. Rupert Scholz (CDU/CSU) plädierte für die Einrichtung eines paritätisch aus Bundestag und Bundesrat zusammengesetzten Verfassungsausschusses, dessen Aufgabe es sein müsse, Vorschläge zur „Modernisierung” der Verfassung zu erarbeiten: „Wir stehen hier zu der Position, daß wir keine neue Verfassung wollen, weil wir keine neue Verfassung brauchen. Deshalb ist der Art. 146 auch in der neuen Form für uns nicht relevant. „[2]

Die politische Frage, ob mit der Vereinigung etwas Neues entstehe oder aber die (alte) Bundesrepublik nur erweitert würde, wurde zugunsten des ,Altbewährten” entschieden, die Verfassungsdiskussion in die Hand von BerufspolitikerInnen gegeben. Am 16.1.1992 konstituierte sich eine 64-köpfige Gemeinsame Verfassungskommission aus 32 Mitgliedern des Bundestages und 32 von den Landesregierungen benannten Mitgliedern. Eine Beteiligung der Länderparlamente, wie häufig gefordert, gab es nicht. Frauen waren — mit zwölf weiblichen Vollmitgliedern — spärlich vertreten. Gleichzeitig wurde festgelegt, daß für Empfehlungen der Kommission eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Damit war der Diskussions- und Handlungsspielraum erheblich eingeschränkt. Die Zusammensetzung der Kommission und die Notwendigkeit von Zweidrittelmehrheiten führten dazu, daß tagespolitische Fragen und der Parteienpolitische Proporz die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission bestimmt haben. Es fand eine Umkehr der Beweislast statt: Nicht mehr die Westdeutschen hatten zu beweisen, daß sich das Grundgesetz bewährt hatte, sondern alle, die etwas an der Verfassung ändern wollten, hatten den Reformbedarf darzulegen. Gleichzeitig wurde außerhalb der Kommission heftig über Verfas sungsänderungen diskutiert, sei es das Grundrecht auf Asyl, die Legalisierung von „Lauschangriffen” oder „out of area” – Einsätze der Bundeswehr. Zunehmend wurde deutlich, daß die alten politischen Instrumente angesichts der tatsächlichen Entwicklung einer neuen Republik versagen. Die Ratlosigkeit der politisch Handelnden gipfelt schließlich in der Tendenz, statt konsensfähige politische Entscheidungen zu suchen, dem Bundesverfassungsgericht in allen schwierigen Fragen den Schwarzen Peter zuzuschieben.

Nach dieser Weichenstellung war die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission wenig geeignet, eine breite gesellschaftliche politische Debatte zu befördern und gar eine integrative Kraft im vereinigten Deutschland zu entfalten. Insofern war sie auf das Scheitern hin angelegt und spiegelt den auf schnellen Anschluß bedachten Vereinigungsprozeß lediglich wieder. Entgegen ihrem Arbeitsauftrag spielten denn auch „einigungsbedingte” Fragen in der Kommission, von gelegentlichen Beschwörungen abgesehen, nicht wirklich eine Rolle. Nicht einmal dem ja auch von Rupert Scholz seinerzeit eingeräumten Modernisierungsbedarf tragen die Ergebnisse Rechnung. Zu befürchten ist gar, daß die Freiheitsbilanz der im Endeffekt zu erwartenden Verfassungsänderungen eher negativ ausfallen und auf eine Entliberalisierung und Grundrechtseinschränkungen hinauslaufen wird.

Europa und Länder­rechte

Die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission begann durchaus verheißungsvoll. Beim Thema „Europa” war ein leiser Hauch von „rundem Tisch” zu spüren. Gerade waren die Verhandlungen in Maastricht abgeschlossen worden, was eine — längst überfällige — Debatte um die europäische Integration einleitete. Ein Aha-Erlebnis“ ging durch die Reihen, daß womöglich die viel grundsätzlichere Herausforderung für den Verfassungsprozeß nicht mit der Wiedervereinigung, sondern mit der Europäischen Einigung verknüpft sei. Trotzdem war auch diese Diskussion in der Verfassungskommission politisch verengt. Sie wurde nicht geführt mit Blick auf die ungeheure Herausforderung der fundamentalen Umwälzung, die in Gesamteuropa durch den Wegfall des Eisernen Vorhanges stattgefunden hat.

Besonders die Länder liefen Sturm. Werden doch mit dem Maastrichter Vertrag wesentlich ausschließliche Länderkompetenzen vergeben: z.B. die Kompetenz für berufliche Bildung, Sprachunterricht, Fernunterricht, für „Kultur“ usw. Abgesehen davon hat sich bereits auf schleichendem Wege, z.B. über Urteile des EuGH oder Kompetenzanmaßungen, eine Weiterentwicklung der EG zu Lasten der Länder ergeben. In noch größerem Umfang werden jedoch Bundeskompetenzen vermindert, was übrigens wiederum Rückwirkungen auch auf die Länder hat, deren Mitwirkungsmöglichkeiten über den Bundesrat hierdurch eingeschränkt werden. Neben einer Fülle von Zuständigkeiten, die direkt an die Europäische Union gehen, sind zahlreiche Möglichkeiten zur Begründung weiterer europäischer Kompetenzen mit eingebaut. Verfassungsrechtler warfen die Frage auf, ob die Übertragung von Kompetenzen an die EG überhaupt noch mit Art. 24 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 79 GG vereinbar sei. Denn diese Vorschrift biete keine Handhabe, um die Fülle der Staatsgewalt auf eine zwischenstaatliche Einrichtung zu übertragen. Außerdem sei fraglich, ob die Europäische Union noch als eine solche anzusehen sei [3] oder nach Maastricht Qualitäten erlangt habe, die denen eines Staates ähnlich seien. In Spitzengesprächen zwischen Bundesregierung und fünf Ministerpräsidenten, die teilweise die Beratungen in der Gemeinsamen Verfassungskommission überlagerten, wurde ein Konsens dahingehend erzielt, daß ein eigener Europa-Artikel (ein neuer Art. 23) ins Grundgesetz aufgenommen werden sollte. Art. 24 soll für zwischenstaatliche Einrichtungen im herkömmlichen Sinne z.B. der NATO) weitergelten.

Der neue Art. 23  [4] sieht die Verwirklichung eines vereinten Europas als Staatsziel vor. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union soll nur mit Zustimmung des Bundesrates möglich sein. Art. 23 Abs. 1 enthält ferner eine sogenannte Struktursicherungsklausel, die den Auftrag formuliert, daß sich die Europäische Union in Übereinstimmung mit den Prinzipien ien Demokratie, Föderalismus, Rechtsstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit, Grundrechtsschutz und Subsidiarität entwickeln soll. Für die Begründung der Union und für Änderungen ihrer vertraglichen Grundlagen, durch die das Grundgesetz seinem Inhalt nach geändert oder ergänzt wird oder solche Änderungen oder Ergänzungen ermöglicht werden, soll Art. 79 Abs. 2 und 3 GG gelten: d.h. weitere Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union nur noch mit Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat. Grenze bleibt nach wie vor die „Ewigkeitsgarantie” des Art. 79 Abs. 3 GG.

Die weiteren Absätze des neuen Art. 23 GG sehen Ausgleichsmaßnahmen zugunsten der entmachteten Länder vor. Abs. 4 normiert den Grundsatz, daß der Bundesrat zu beteiligen ist, wenn er an einer entsprechenden innerstaatlichen Maßnahme mitzuwirken hätte oder die Länder insoweit innerstaatlich zuständig wären. Dabei soll die Mitwirkung der Länder durch den Bundesrat in abgestufter Intensität erfolgen. Die hier gefundenen Regelungen [5] waren zwischen Bund und Ländern und zum Teil auch innerhalb der Bundesregierung im einzelnen besonders umstritten. Dabei führen sie keineswegs zu mehr Rechten für die Länder. Es wird lediglich sichergestellt, daß die Länder einen Teil ihrer Rechte im Prozeß der europäischen Einigung behalten und auch nur dort, wo im Schwerpunkt ihre Gesetzgebungsbefugnisse betroffen werden. Ergänzend wurden Informations- und Beteiligungsrechte des Bundestages normiert und der (Europa)-Unionsausschuß des Deutschen Bundestages und die Europakammer des Bundesrates in der Verfassung verankert.

Grundsätzlich gilt allerdings, daß ein wie auch immer gearteter nationaler Parlamentsvorbehalt nur im ,Innenverhältnis“ wirkt. Die Regierung hat es leicht, sich hinter EG-Sachzwängen und fehlendem Verhandlungsspielraum zu verstecken. Unter bestimmten Voraussetzungen wird es nach dem Maastrichter Vertrag in Zukunft auch möglich sein, daß die Bundesrepublik Deutschland im Rat überstimmt werden kann. Gleichwohl sind Beteiligungsrechte des Bundestages zu begrüßen, weil dadurch ein Mehr an politischer Kontrolle und überhaupt Aufmerksamkeit für den europäischen Entscheidungsprozeß bewirkt wird. Im übrigen muß sich erst zeigen, ob z.B. mit dem Länderzusammenarbeitsverfahren wirklich mehr erreicht wird als die Schaffung neuer Gremien z. B. Einrichtung des Ausschusses der Regionen) und gut dotierter Posten. Denn es kommt darauf an , im Brüsseler Verhandlungspoker der Praxis durchzusetzen, daß die Position der Länder in den entsprechenden Einzelfragen ein angemessenes Gewicht bekommt. Diesbezügliche innerstaatliche Regelungen sind hierfür nur die erste Bedingung. Die Stärkung des föde ralistischen Gedankens ist auf gesamteuropäischer Ebene notwendig. Für die politische Bewertung ist darüber hinaus zu bedenken, daß die Regelung der Zusammenarbeit von Bund und Ländern in Angelegenheiten der Europäischen Union nicht zwangsläufig identisch ist mit mehr Bürgerbeteiligung.

Es bleibt abzuwarten, wie das Bundesverfassungsgericht entscheidet. Dort sind bekanntlich mehrere Verfassungsbeschwerden anhängig, welche die Zustimmung zum Maastrichter Vertrag auch im Lichte des neuen Art. 23 GG für verfassungswidrig halten: Die Struktursicherungskiausel des Art. 23 GG sei nur deklaratorisch, da damit das demokratische Defizit nicht beseitigt werde. Die vorgesehene innerstaatliche Mitwirkung des Bundestags in EG-Angelegenheiten ändere nichts daran, daß die europäische Rechtsetzung im wesentlichen durch den Rat und damit durch ein nicht ausreichend legitimiertes Organ erfolge. Den Kompetenzeinbußen des Bundestages stehe ein Kompetenzzuwachs der Regierungsmitglieder und insbesondere des Bundeskanzlers gegenüber.

Bei allen „Bauchschmerzen”, die mit dem Maastrichter Vertrag verbunden sind, wäre es politisch fatal, Maastricht scheitern zu lassen. Gerade jetzt nach der Änderung der politischen Weltkarte, dem Zerfall Osteuropas und der Stärkung rechtsgerichteter Kräfte in der Bundesrepublik erscheint es wichtig, ein politisches Signal der europäischen Einigung zu zeigen. Der Vertrag von Maastricht ist ein Werk von Formelkompromissen, eine „black box”, deren Gestalt nur in äußeren Umrissen erkennbar ist und inhaltlich erst ausfüllungsbedürftig ist. Kennzeichnend ist der Prozeßhafte Charakter. Es ist daher m.E. falsch, wie es häufig geschieht, bezüglich der Optionen des Maastrichter Vertrages mit dem denkbar schlimmsten Fall zu argumentieren. Der mit Maastricht eingeschlagene Weg kann allerdings nur dann verfassungskonform sein, wenn tatsächlich in absehbarer Zeit die Zielvorstellung der Struktursicherungsklausel des Art. 23 Abs. 1 GG erreicht wird.

Lehnt man einen bürokratischen europäischen Zentralismus ab, ist es um so wichtiger, jetzt die Regionen zu stärken. Der Föderalismus der Bundesrepublik könnte insoweit ein Vorbild sein. Doch leider ist seit Gründung der Bundesrepublik das föderative Prinzip des Grundgesetzes immer mehr zurückgedrängt worden. Die Frage der Stärkung der Länderkompetenzen ist von großer politischer Brisanz. Je zentralisierter die politischen Entscheidungsstrukturen sind, um so anonymer und undurchschaubarer werden sie für die BürgerInnen.

Die Stärkung der föderativen Elemente war daher erklärtes Anliegen der Verfassungsreform. Obgleich arbeitsintensive Bemühungen der Länder stattfanden, waren die Ergebnisse banal: So wurden einige Änderungen beschlossen, die im Gesetzgebungsverfahren eine gewisse »Waffengleichheit“ zwischen Bundestag / Bundesregierung und Bundesrat herbeiführen sollen, z.B. Harmonisierung einiger Fristen. Nach einem neu geschaffenen Art. 80 Abs. 3 GG soll auch der Bundesrat Vorlagen für den Erlaß von Rechtsverordnungen machen können. Außerdem werden die Landtage dadurch gestärkt, daß sie nach Art. 80 Abs. 4 GG (neu) dann, wenn Landesregierungen zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt sind, selbst gesetzgeberisch tätig werden dürfen.

Wesentlich schwieriger gestaltete sich eine Einigung bei der Frage der Gesetzgebungskompetenzen [6]. Insbesondere die Länderparlamente drängten darauf, im gesetzgeberischen Bereich wieder mehr originäre Befugnisse zu erhalten. Es zeigte sich, daß der Prozeß, Kompetenzen für die Länder zurückzuholen, außerordentlich mühsam ist. Die Ergebnisse sind mager: Es wurden kleine Verbesserungen bezüglich des Art. 72 GG erreicht, insbesondere eine Präzisierung der sog. Bedürfnisklausel (Art. 72 Abs. 2). Künftig soll das Bundesverfassungsgericht auf Antrag des Bundesrates, einer Landesregierung oder eines Landtages entscheiden können, ob die Voraussetzungen eines Bedürfnisses für eine bundesgesetzliche Regelung vorliegen (Art. 93 GG). Einigkeit wurde ferner erzielt, die Rahmengesetzgebung des Bundes (Art. 75 GG) einzuschränken. Im Bereich des Kataloges der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 74 erwies sich in der Auseinandersetzung die Bundesseite unter dem Strich sogar noch als Gewinnerin. Während den Ländern einige Marginalien (Staatsangehörigkeit der Länder; Schutz des deutschen Kulturgutes gegen Abwanderung ins Ausland; Einschränkung der Rahmenkompetenz des Bundes im Hinblick auf das Hochschulwesen etc.) zugestanden wurden, erhält der Bund neue Kompetenzen: So soll das Recht der Staatshaftung als neue Ziffer 25 in den Katalog des Art. 74 GG aufgenommen werden, ferner „die künstliche Befruchtung beim Menschen, die Untersuchung und die künstliche Veränderung von Erb informationen sowie Regelungen zur Transplantation von Organen und Geweben” in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung fallen.

Die angestrebte Stärkung des Föderalismus blieb jedoch nicht zuletzt deswegen stecken, weil eine Reform der Länderfinanzverfassung unterblieb. Damit ist eine Chance verspielt.

Staatsziele und Grundrechte

Waren bei den Themen „Europa” sowie „Gesetzgebungskompetenzen und -verfahren” aufgrund des Engagements der Bundesländer noch parteiübergreifende Einigungen möglich, war jedoch spätestens nach der „Halbzeit” im Herbst 1992 buchstäblich die Luft aus der Kommissionsarbeit heraus.

Ausgerechnet als Themen in der Kommission zur Debatte standen, die auf öffentliches Interesse stießen, setzte eine Blockadepolitik der CDU/CSU ein. Die Koalitionsfraktionen hatten keinen Zweifel daran gelassen, daß Staatszielbestimmungen zum Bereich „Arbeit, Wohnen” keinesfalls Eingang in die Verfassung findendürften. Standardargument war, das alles sei „Verfassungslyrik”, ein Begriff, der zum Unwort der gesamten Kommissionsarbeit wurde und durch die Asylrechtsänderung schließlich Lügen gestraft wurde. Nur mit Mühe konnte eine Einigung erreicht werden über eine Staatszielbestimmung zum Umweltschutz, von der nicht sicher ist, ob sie das anschließende Gesetzgebungsverfahren überstehen wird. Die CDU/CSU-Fraktion besteht nämlich mehrheitlich darauf, den Umweltschutz nur mit einem ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt ins Grundgesetz aufzunehmen. Dahinter steht die Angst, die Verwaltungsgerichte könnten dem Umweltschutz zuviel Gewicht einräumen. Tatsächlich wird derzeit an verschiedenen Gesetzesvorhaben [7] deutlich, daß die CDU/CSU unter der Losung „Aufbau Ost” die Kompetenzen der Verwaltungsgerichte einschränken will, insbesondere im Umweltbe reich. Die Union will den Umweltschutz lediglich als Auftrag an den Gesetzgeber in der Verfassung verankern. Damit wäre gesichert, daß im Zweifelsfall die Ökonomie vor der Ökologie rangiert.

Mit einem denkbar knappen Abstimmungsergebnis (es hing an einer Stimme!) wurde am 1.7.93 folgende Formulierung verabschiedet: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Rechte durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung”. Problematisch ist dabei der Wortlaut „nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung”, der unterschiedlicher Auslegung zugänglich ist. Die SPD legt diese Klausel dahingehend aus, daß damit nur noch einmal das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 — Bindung von vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an Gesetz und Recht) bekräftigt wird. Man könnte sie aber auch dahingehend interpretieren, daß das Staatsziel Umweltschutz durch „Gesetz” eingeschränkt werden könne. Danach läge der Charme dieser „Rumpelstilzchen” – Formulierung darin, daß diese einen Gesetzesvorbehalt enthält, ohne daß er als solcher bezeichnet wird. Es handelt sich um einen klassischen Formelkompromiß, dessen Einigungsgrundlage die Tatsache dieses Auslegungsdissenses ist. Bleibt es bei diesem Kompromiß, der immerhin einen Einstieg in ein Staatsziel Umweltschutz darstellt, wird voraussichtlich wieder einmal das Bundesverfassungsgericht anstelle der PolitikerInnen das letzte Wort in dieser Angelegenheit haben.

Über 100 000 Eingaben aus der Bevölkerung hatte es für die Forderung gegeben, den Tierschutz im Grundgesetz zu verankern. Nichtsdestotrotz erhielten entsprechende Vorschläge keine Zweidrittelmehrheit.

Ignoriert wurde auch der offensichtliche Modernisierungsbedarf der Verfassung im Bereich der „informationellen Selbstbestimmung” (Datenschutz). Dieses Anliegen wurde insbesondere von der Konferenz der Datenschutzbeauftragen von Bund und Ländern unterstützt. Zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes war die Entwicklung der Informationstechnologie mit all ihren Gefahren und Risiken für die Freiheitsrechte des Menschen noch gar nicht abzusehen gewesen. Solange das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht ausdrücklich in der Verfassung verankert ist, sondern von der Rechtsprechung aus der allgemeinen Handlungsfreiheit abgeleitet wird, fallt es nicht unter das sog. „Zitiergebot“ des Art. 19 GG. Dieses hat die wichtige Funktion, daß der Gesetzgeber bei jeder gesetzlichen Regelung zu prüfen hat, ob die beabsichtigten Regelungen mit Eingriffen in Grundrechte, die dem Zitiergebot unterliegen, verbunden sind. Auch die FDP-Seite war zur Aufnahme eines Grundrechtes auf Datenschutz bereit. Die CDU/CSU lehnte jedoch die Aufnahme kategorisch ab und behauptete, das Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, das auf Art. 2 GG Bezug nimmt, reiche aus, und es sei ohnehin alles einfach gesetzlich geregelt.

Erst recht scheiterten weitergehende Vorschläge wie der des Landes Hessen, der auch den Schutz des informationellen Selbstbestimmungsrechtes im nichtöffentlichen Bereich regeln wollte sowie ein allgemeines Akteneinsichtsrecht zu den Daten der vollziehenden Gewalt ohne den Nachweis eines Interesses vorsah. [8]

Die Verfassungskommission verpaßte ebenfalls die Gelegenheit einer ernsthaften Befassung mit Integration und demokratischer Teilhabe der seit Jahrzehnten hier lebenden AusländerInnen. Nicht einmal die Forderung nach einem kommunalen Wahlrecht für Nicht-EG-AusländerInnen erwies sich als durchsetzungsfähig. Ebenso scheiterte eine Initiative Hessens, durch eine Ergänzung des Art. 16 GG ein Staatsbürgerschaftsrecht einzuführen, das nicht mehr alleine auf Blutsbanden und Herkunft gründet. [9]. Erfreulicherweise konnte jedoch eine knappe Zweidrittelmehrheit für einen Minderheitenschutzartikel erreicht werden: „Der Staat achtet die Identität der ethnischen, kulturellen und sprachlichen Minderheiten.” Mit dieser Achtensklausel soll auch den in der Bundesrepublik lebenden ausländischen Minderheiten Identitätsschutz gewährt und insbesondere ein staatlicher Assimilationsdruck ausgeschlossen werden. Die Einführung dieses Staatsziels soll eine Signalwirkung zugunsten der Minderheiten in Deutschland und im europäischen Rahmen entfalten.

Frauenrechte

Besondere Aktivitäten in der Verfassungsdiskussion gingen von den Frauen aus. Bereits im April 1990 erschien der Aufruf „Frauen in bester Verfassung”, fünf Monate später gefolgt vom Frankfurter Frauenmanifest“. Verschiedene Initiativen und Verbände verabschiedeten Forderungskataloge zur Stärkung der Frauenrechte in der Verfassung. Eine zentrale Rolle nahm dabei die Ergänzung des Art. 3 GG (Gleichberechtigung) ein. Hierzu gingen etwa 100 000 Eingaben bei der Gemeinsamen Verfassungskommission ein.

Mit Hilfe der bisherigen, seinerzeit auf Druck der Frauenbewegung ins Grundgesetz aufgenommenen, Formulierung des Art. 3 GG ist zwar die formale Rechtsgleichheit der Geschlechter weit vorangebracht worden. Zu einer tatsächlichen Gleichstellung hat das Gleichbe rechtigungsversprechen des Grundgesetzes jedoch nicht geführt: Nur selten gelangen Frauen in Führungspositionen, noch immer sind Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen benachteiligt. Seit über die Einführung von Frauenquoten — zum Ausgleich der »heimlichen Männerquoten“, die in der Realität herrschen — diskutiert wird, drehen Männer den Spieß um und berufen sich auf das Diskriminierungsverbot „wegen des Geschlechtes“.

Am 27.5.1993 schließlich verabschiedete die unter Erfolgszwang stehende Kommission mit überwältigender Mehrheit folgende Formulierung :„Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Während der Debatte in der Gemeinsamen Verfassungskommission wurdeJ’edoch wurde deutlich, daß ein tiefgehender Dissenz zwischen Koalition und Opposition über die Interpretation dieses neuen Staatsziels besteht. Vogel (SPD) stellte heraus, daß mit dieser Grundgesetzänderung deutlich gemacht werde, daß es ein Spannungsverhältnis zwischen Norm und Wirklichkeit gebe. Es werde eingeräumt, daß es Nachtelle gebe, und der Staat bekomme den Auftrag, diese zu beseitigen. Der Begriff „tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung” erfasse vollinhaltlich das Wesen der „Gleichstellung”. Der aktive Förderauftrag an den Staat schließe auch bestimmte Maßnahmen ein. Diese Darlegung brachte Scholz (CDU) auf den Plan: Der Vorschlag zu Art. 3 GG solle nur diejenigen begünstigen, die konkrete Nachteile erlitten, also für keinerlei Quote herhalten können. Auch andere RednerInnen der Koalition warnten vor überspannten Erwartungen an den Vorschlag. Der Staat habe nicht für Ergebnisgleichheit, sondern nur für Chancengleichheit zu sorgen.

Tatsächlich knüpft der Vorschlag an die Gleichberechtigung von Frauen und Männern an, d.h. Männer können den Frauen — wie bisher ja das Problem — die eigenen Rechte entgegenhalten; zudem wird damit nur der bereits vorhandene Verfassungssatz bekräftigt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.” Ebenso darf auch schon nach geltendem Verfassungsrecht niemand wegen seines Geschlechts „benachteiligt« werden. Die Signalwirkung einer Änderung kann daher nur in der Tatsache der Verfassungsänderung selbst liegen. Zugleich birgt sie die Gefahr, daß damit für lange Zeit ein Schlußpunkt in der Debatte gesetzt wird. Die Frage, ob diese Kompromißformulierung ein bloßes „Grundrechts-Placebo” oder „besser als nichts” ist, ist schwer zu entscheiden. Um die zentrale Frage, welche Maßnahmen der Staat zur Förde rung von Frauen ergreifen darf, haben sich die PolitikerInnen gedrückt. Es zeichnet sich daher ab, daß auch dieser Kompromiß vor den Toren des Bundesverfassungsgerichtes landen wird.

Plebis­zi­täre Elemente

Große Erwartungen richteten sich auf eine angestrebte Aufnahme von plebiszitären Elementen in das Grundgesetz. Die Tatsache, daß die Diktatur in der DDR auf friedliche Weise beendet worden ist, wobei der dortigen BürgerInnen-Bewegung eine zentrale Rolle zukam, ließ den Anspruch auf einen verfassungsrechtlichen Erneuerungsbedarf vor allem bei der Ausweitung der BürgerInnen-Beteiligung entstehen. Ca. 270 000 Eingaben aus der Bevölkerung gingen hierzu bei der Gemeinsamen Verfassungskommission ein.

Plebiszitäre Elemente sollen dabei nicht im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie stehen, sondern zur Beseitigung von Defiziten und Schwachstellen beitragen. Direkte Demokratie, Volksbegehren und Volksentscheid sind auch ein Mittel zur Verantwortungsübernahme von BürgerInnen.

Aus den Reihen der CDU/CSU kamen hierzu die bekannten Gegenargumente: Stärkung der Politik des Populismus; das Volk ist hierfür nicht reif und überfordert; Schwächung des parlamentarischen Systems; Überrepräsentierung von Partikularinteressen engagierter BürgerInnen.

In der Debatte der Gemeinsamen Verfassungskommission am 14.5.1992 und der Sachverständigenanhörung am 17.6.1992, bei der die meisten Sachverständigen Formen unmittelbarer BürgerInnen-Beteiligung befürworteten, wurde dargelegt, daß bestehenden Bedenken durch Verfahrensregelungen Rechnung getragen werden könne. Die Aktivierung von BürgerInnen sei ein unaufgebbarer Bestandteil der Demokratie; in der Ablehnung der Ausweitung von BürgerInnen-Beteiligung komme ein Mißtrauen gegen das Volk zum Ausdruck. Die gleichen Argumente, die gegen plebiszitäre Elemente vorgetragen würden, seien auch auf das allgemeine Wahlrecht anwendbar. Es fand nur ein einmaliges Treffen der BerichterstatterInnen zu diesem Thema statt: Man vertagte sich auf unbestimmte Zeit. In der am 11.2.1993 hierzu stattfindenden Abstimmung in der Gemeinsamen Verfassungskommission fand dann kein Vorschlag zur Einführung plebiszitärer Elemente die erforderliche Mehrheit. Selbst die einfache Volksinitiative, eine Erweiterung des Petitionsrechtes, scheiterte.

Damit scheiterte auch der Leitgedanke der BürgerInnen-Bewegung für eine „Verfassung von unten”, welche die Verfassungsdebatte — mit ihren übrigens durchaus spannenden und gesellschaftlich wichtigen Diskussionen — überhaupt erst ermöglicht hatte.

Verweise

1 aus dem Antrag der Gruppe Bündnis 90/Die Grünen „Vom Grundgesetz zur gesamtdeutschen Verfassung — Einrichtung und Aufgaben eines Verfassungsrates” BT Drs. 12 / 563
2 aus der Bundestagsdebatte vom 14.5.1991 hierzu, P1Pr 12 /25, S. 1720
3 so Tomuschat im Bonner Kommentar, Art. 24, Rdn. 20; Stern in seiner schriftlichen Stellungnahme für die Anhörung der Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) am 22.5.1992 (GVK-Arbeitsunterlage Nr.28)
4 GVK-Kommissionsdrucksache 7 (neu)
5 vgl. hierzu im einzelnen: Incesu, Zähes Ringen um Länderrechte — Bericht über die Arbeit der Gemeinsamen Verfassungskommission, RuP 3/92, S. 153ff.
6 vgl. hierzu ausführlich: Klatt, Zwischenbilanz der Gemeinsamen Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat — Teil 2, in: Das Parlament 1993, Nr.20 / 21, S. 8; Rubel, Das neue Grundgesetz (Teil 2), JA 1993, S. 12 ff. ; Incesu, a.a.O. , S. 156ff.
7 z.B. Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz vom 16.12.1991, BGBI. 1991 I S. 2174; Gesetzentwurf über den Bau des Abschnitts Könnern-Löbejün der BAB A 14 Magdeburg-Halle (Saale) (BR-Drs. 246/93); Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz vom 22.4.93, BGBI. 1993 I S. 466
8 GVK-Kommissionsdrucksache 21
9 GVK Kommissionsdrucksache 52

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