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Litera­ri­scher Maulwurf LXIV

vorgängevorgänge 12412/1993Seite 122-128

Die Realität der Zukunft in der Vergangenheit suchen

aus: vorgänge Nr. 124 (Heft 4/1993), S. 122-128

Kommt eine neue Zeit des Nationalismus? Zunehmende Fremdenfeindlichkeit, das Erstarken des Rechtsextremismus (beide nicht nur in Deutschland), die aktivistischen Kriege, die sich die Völker des ehemaligen Jugoslawien und der früheren UdSSR liefern, könnten Zeugnisse dafür sein.

Setzt der Fortschritt in der europäischen Integration ein gegenteiliges Zeichen? Skeptisch macht, daß sie immer weniger von den Völkern, immer mehr von der Bürokratie getragen wird. Der in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen entstandene Europa-Gedanke wurde 1942 von französischen Widerstandsgruppen aufgegriffen: man kämpfe für die Realisierung der „Vereinigten Staaten von Europa” hieß es, eine Bezeichnung, die Winston S. Churchill in seiner berühmten Züricher Rede 1946 übernahm. Lang war der Weg über die Gründung des Europarats, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG, die mit dem Europäischen Unionsvertrag von Maastricht EUV nun zur Europäischen Gemeinschaft (EG) umgestaltet wurde. Die Beteiligung der Bürger an ihrem Europa wurde immer mehr zurückgedrängt. Der EUV sieht — auf Teilgebieten — eine europäische Regierung der Exekutiven der Mitgliedstaaten vor, während das Europäische Parlament endgültig zu einer Marionette degradiert wird.

Am Ende des 20. Jahrhunderts soll so der Parlamentarismus einem neuen Absolutismus weichen. Das Volk als Souverän (mit ohnehin minimalen Rechten, es darf in den meisten Staaten nicht einmal über seine eigene Entmündigung abstimmen) hat dann endgültig ausgedient. Als neuer Souverän werden sich die Regierungen installieren. Das ist nicht das Europa unserer Euphorie zu Beginn der fünfziger Jahre, als der erste Schlagbaum an der Grenze zwischen Deutschland und Frankreich symbolisch zersägt wurde.

Angesichts dieser Vorgänge ist es nützlich, sich an staatsrechtliche Überlegungen vom Ende der zwanziger / Anfang der dreißiger Jahre zu erinnern, vor allem an die Hermann Hellers, die (wenngleich auf verborgenen Wegen) noch prägenden Einfluß auf die Formulierung der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland hatten, obwohl Hellers Name, seine Lehre, in der staatsrechtlichen Literatur der Gegenwart vielfach unterdrückt wird. Hermann Heller war Sozialdemokrat und forderte früh, den liberalen in einen sozialen Rechtsstaat umzuwandeln, in einen „sozialistischen“, wie er auch gelegentlich formulierte. Er starb, erst 42 Jahre alt, 1934 im spanischen Exil. Endlich ist sein Werk wieder in deutscher Sprache zugänglich:

Hermann Heller Gesammelte Schriften, in Verbindung mit Martin Drath, Otto Stamrner, Gerhard Niemeyer, Fritz Borinski, hg. von Christoph Müller, 2. durchgesehene und um ein Nachwort (von Chr. Müller) erweiterte Auflage, 3 Bde. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1992, XXXI, 733 u. IX 653 u. IX 564 S., Leinen DM 358,—.

Heller hatte sich 1919 mit der Schrift „Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland” habilitiert. Sie ist in Band I der Gesammelten Schriften abgedruckt. Drath und Müller zeigen in ihrer Einleitung, wie Heller Hegels Geschichtsphilosophie rezipiert und weiterführt, weg von der Verengung auf Nomokratie und Rechtspositivismus (was ihn in Gegensatz zu Hans Kelsens Reiner Rechtslehre führt) hin zu einer die soziologische Realität des staatlichen Geschehens berücksichtigenden Staatslehre. Am Phänomen der Nation sei Heller theoretisch stark interessiert gewesen, wie näher ausgeführt wird, aber der Freiwillige des 1. Weltkriegs habe die Sinnlosigkeit des Zerstörungswerks des Krieges erkannt, das alle Probleme ungelöst gelassen hatte. Deshalb wendet er sich gegen Hegels Kriegsphilosophie, die „den Krieg logisch und die Logik imperialistisch“ machte und damit zur Rechtfertigung des Krieges führte (Heller I S. 147), um mit Hilfe von Hegels dialektischer Entwicklungslehre und beeinflußt von Karl Marx die Weltgeschichte als Ergebnis von Klassenkämpfen und die Außenpolitik als Instrument der Innenpolitik zu erkennen: Eine, wie die Gegenwart lehrt, auch heute noch gültige Sicht. Im Schlußkapitel der Habilitationsschrift erscheint bereits der Begriff der „sozialen Demokratie”, die nicht ausgehen dürfe „vom Menschen als formal gleichem Rechtssubjekt, sondern … den Menschen als psycho-physische Totalität, in seiner Bedingtheit durch seine gesellschaftlichen, insbesondere ökonomischen und individuellen Möglichkeiten zum Ausgangspunkt nehmen“ müsse und so in Gegensatz zur liberalen Demokratie trete.

Als die beiden Hauptwerke Hellers gelten sein Buch „Die Souveränität“ (in Bd. II) und seine posthum erschienene „Staatslehre” in der Bearbeitung von Gerhart Niemeyer (in Bd. III der Gesammelten Schriften). Beide haben nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, auch wenn sie sich naturgemäß mit den Zuständen der Weimarer Republik befassen. Es ist nicht möglich, hier auch nur ansatzweise Hellers Gedankenfolge nachzuzeichnen. Es wird daher versucht, sie an aktuellen Fragestellungen dingfest zu machen.

Der Europäische Unionsvertrag von Maastricht hat neuerdings die Volkssouveränität zur Disposition gestellt, ohne daß das in der Öffentlichkeit größere Beachtung gefunden hatte. In Art. 20 Abs. 2 GG ist bestimmt: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere 0rgane der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“ Der Parlamentarische Rat knüpft damit an Art. 3 der Französischen Verfassung von 1791 an, dessen erster Satz lautete: „Der Ursprung aller Souveränität liegt seinem Wesen nach beim Volke” [1], und erklärtermaßen an eine entsprechende Formel der belgischen Verfassung. [2] Die französische Verfassung von 1791 fügt noch erläuternd hinzu: „Keine Körperschaft, kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich vom Volk ausgeht.“ [3] Nach Art. J 8 des Europäischen Unionsvertrags von Maastricht bestimmt jedoch nicht mehr das Volk, sondern der Europäische Rat die Grundsätze und die allgemeinen Leitlinien der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Dieser Rat aber ist ein Gremium der nationalen Exekutiven, nämlich nach Art. D der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten sowie des Präsidenten der Kommission. In diesem Rat wird auch die innen- und justizpolitische Zusammenarbeit geregelt. Das Europäische Parlament,  dessen Mitglieder allein vom Volk gewählt werden, wird nur beteiligt”, es wird nach Art. K 6 unterrichtet, angehört und kann Anfragen oder Empfehlungen geben, aber nicht bestimmen. Dem europäischen Volk fehlt künftig auf den Gebieten, die in die Zuständigkeit, auf die der Europäischen Union fallen, die Souveränität, und zwar auch national, weil die Unionsbeschlüsse die Mitgliedstaaten binden. Der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat allerdings, und zwar unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Hermann Heller, in seinem (nach Fertigstellung der Erstfassung dieser Rezension ergangenem) Urteil vom 12. ausdrücklich festgestellt, der EUV verletzte das Demokratieprinzip nicht, weil dem Deutschen Bundestag Aufgaben und Befugnisse von substantiellem Gewicht verbleiben. Der wahlberechtigte Deutsche nehme sein Recht auf Teilnahme an der demokratischen Legitimation der mit der Ausübung von Hoheitsgewalt betrauten Einrichtungen und Organe wesentlich durch die Wahl des Deutschen Bundestages wahr, dem seinerseits noch ausreichender Einfluß in der Europäischen Union und ihrer Fortentwicklung bleibe. Ob Hermann Heller dem gefolgt wäre, ist zweifelhaft.

Heller hat unter Berufung auf Jean Bodin den Begriff der Souveränität richtig definiert: es ist wesentlich die Befugnis zum Erlaß und zur Aufhebung von Gesetzen. [4] Heller betont, daß der Rechtsstaatsgedanke „auf keinem anderen Boden als dem der Volkssouveränitätslehre erwachsen ist“, so daß der Willensbildungsprozeß des Volkes, „das Volk als Willenseinheit”, Träger der stets neu zu realisierenden Gemeinschaftswerte sei. Und er führt gegen das von ihm in einem Italien-Aufenthalt untersuchte faschistische Regime Mussolinis ins Feld, besonderes Gewicht müsse die „faschistische Staatsauffassung auf die Beseitigung der Lehre von der Volkssouveränität legen. Sie will sie ersetzen durch die Theorie von der Souveränität des Staates.[6]

In seiner „Staatslehre” schließlich unterzieht Heller das Prinzip der freien Marktwirtschaft im Sinn des Ordo- Liberalismus „des freien Spiels der selbstverantwortlichen Kräfte” einer harschen Kritik. [7] Er prägt den Begriff des „sozialen Rechtsstaats“ [8], der in Art. 20 Abs. 1 GG anklingt: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.” und in Art. 28 Abs. l Satz 1 GG wörtlich zitiert wird. Autorschaft und Quelle sind umstritten. Die Heller-Forschung nimmt plausibel die Urheberschaft Hermann Hellers in Anspruch, doch wie der Begriff ins Grundgesetz kam, ist umstritten. Im äußerst informativen Nachwort von Christoph Müller wird Carlo Schmid als Vermittler ausgeschlossen und der CDU-Abgeordnete v. Mangoldt für die Aufnahme in das GG verantwortlich gemacht. In der Tat enthält dessen erster Entwurf für Art. 20 Abs. 1 GG die Formulierung: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Rechtsstaat …“. [9] Es ist jedoch zu bezweifeln, daß gerade er eine Forderung Hermann Hellers übernahm, denn in der ersten Auflage seines GG- Kommentars wertet er die Formulierung deutlich ab als Programm, das zwar für Gesetzgebung und Exekutive bindend sein soll, aber nur im Sinne einer Verpflichtung des Staates zur Fürsorge für alle Teile der Bevölkerung, insbesondere die wirtschaftlich schlechter gestellten Kreise, nach damaligem Verständnis wohl die Aufarbeitung von Nachkriegsfolgen. [10] Wahrscheinlicher ist, daß er eine ihm vertraute Formulierung übernahm, die ihm vielleicht durch Carlo Schmid nahegebracht wurde (damals gab es noch einen breiten Konsens für den Aufbau eines demokratischen Staates über Parteigrenzen hinweg), denn Carlo Schmid nahm im Plenum des Parlamentarischen Rats durchaus Bezug auf das demokratische „ und soziale Pathos der republikanischen Tradition” und forderte „Mut zu den sozialen Konsequenzen, die sich aus den Postulaten der Demokratie ergeben«. [11]

Im übrigen faßt Müllers Nachwort noch einmal Hellers Lehre zusammen. Es unterrichtet insbesondere auch über deren Rezeptionsgeschichte, die zeigt, daß Hellers Werk am frühesten in Spanien und Mexiko Beachtung fand und beträchtlichen Einfluß in Italien und vor allem Japan gewann, seit einiger Zeit auch in England, den USA, in Frankreich und in Israel. Es ist zu hoffen, daß die Neuauflage in deutscher Sprache nun Hermann Hellers so aktuelle Lehren auch in seinem Heimatland größere Wirkung entfalten läßt. Seine Texte setzen sich wohltuend ab von der gängigen zeitgenössischen juristischen Literatur. Er setzt sich zwar auseinander mit den Philosophen und Staatsrechtslehrern der Vergangenheit bis hin zur Antike, er kreuzt die Klinge natürlich auch mit den gegenwärtigen Antagonisten wie Hans Kelsen, aber er unterzieht sich nicht dem heute üblichen und weitgehend sinnlosen Ritual, zeitgenössische vermeintliche Autoritäten zu zitieren, dafür entwickelt er eigenständige, zukunftsweisende Ideen.

Nebenbei: wer sich über den Inhalt des Europäischen Unionsvertrages informieren will, sei verwiesen auf die Textausgabe:

Vertrag über die Europäische Union (Maastricht – Vertrag) mit sämtlichen Protokollen und Erklärungen … Textausgabe mit Sachverzeichnis und einer Einführung von Eberhard Grabitz, Beck-Texte im dtv Nr. 5572, 1992, 219 S., DM 12,80.

Die Ausgabe enthält ferner den Text des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 25. März 1957 mit den Änderungen, die er durch den Europäischen Unionsvertrag erfuhr und am Ende eine synoptische Gegenüberstellung der alten und neuen Bestimmungen dieses Vertrags.

Staatsrecht, öffentliches Recht, gibt es, seit Menschen sich in staatlichen Gemeinschaften organisieren. Vor kurzem ist der zweite Band einer auf drei Bände angelegten Geschichte dieses Rechtsgebiets in Deutschland erschienen, deren erster Band schon längere Zeit vorliegt:

Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, C.H. Beck München 1988, 431 S. , Leinen DM 98,—,  Zweiter Band Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, C.H. Beck München 1992, 486 S. Leinen DM 128,—.

In Band 1 weist der Autor noch einmal auf die sich schon aus den Untertiteln ergebenden thematischen Einschränkungen hin: „Geschichte des öffentlichen Rechts wird im folgenden primär als Literaturgeschichte der wissenschaftlichen Erfassung, der dogmatischen Durchdringung und Systematisierung des öffentlichen Rechts verstanden, also als Wissenschaftsgeschichte. Die Darstellung dieses Bandes zielt auf die Erfassung eines Sektors der geistigen Landschaft, vornehmlich an den Universitäten der frühen Neuzeit.” Die zeitliche Begrenzung der Darstellung ab „etwa von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts” wird damit begründet, aus den Quellen ergebe sich, daß von einem ,öffentlichen Recht` als Gegenstand systematischer und intensiverer wissenschaftlicher Bemühungen vor diesem Zeitpunkt nicht eigentlich gesprochen werden könne.” Diese Begrenzungen mögen sinnvoll sein. Für die historische staatsrechtliche Entwicklung in Deutschland liegen ausreichende Quellensammlungen vor. Schwerer einsehbar ist die zeitliche Zäsur. Stolleis verschweigt nicht, daß auch vor der Mitte des 16. Jahrhunderts öffentliches Recht (ius publicum) Gegenstand von Lehre und Publizistik war. Neben den von ihm angesprochenen Teilen des römischen und kanonischen Rechts ist vor allem auch hinzuweisen auf die umfangreiche Literatur, die im 11. und 12. Jahrhundert anläßlich des Investiturstreits entstand [12] und auf die Schriften staatsrechtlichen Inhalts in der Auseinandersetzung um die Unabhängigkeit des Kaisers (Ludwig d. Baier) vom Papsttum im 14. Jahrhundert. Stolleis hebt demgegenüber das neue Herrschaftsgebilde des monarchischen Einheitsstaats hervor, wie er sich idealtypisch vom 16. bis 18. Jahrhundert durchsetzte. Er zeigt, daß sich etwa sei dem Jahr 1600 in den Universitäten ein neues Lehrfach „ius publicum” durchsetzt, und er macht den Leser mit einer großen Zahl von Lehrern und sonstigen Autoren des neuen Fachs und den von ihnen vertretenen Lehrmeinungen bekannt, darunter zahlreiche, die heute nur noch dem Spezialisten geläufig sind.

Unübersehbar ist der geschichtliche Einschnitt zwischen Band 1 und Band 2; die französische Revolution 1789, die Kriege Napoléons, die Auflösung des feudalständischen Systems als deren Folge, der Zusammenbruch des alten Preußen und die Auflösung des Reichs 1806, die Etablierung der Mittelstaaten und ihre Annexionen durch Mediatisierung der kleineren Herrschaften, die Gründung des Rheinbundes 1806 unter Napoléon als „Protector”, mit diesen und weiteren Vorgängen setzt Stolleis‘ Darstellung im 2. Band ein. Die neue verfassungsrechtliche Lage — die der Autor mit Recht zugleich auch als Endpunkte einer schon lange vorher erkennbaren Entwicklung sieht — erfordert eine neue rechtliche Aufarbeitung, die — wie könnte es anders sein — auch „in hohem Maße politisiert” war, wie Stolleis anmerkt. Neben der verfassungs- und verwaltungsrechtlichen Literatur der Zeit referiert der Autor auch die staatsphilosophische. Man mag darüber streiten, ob Schelling hierzu einen Beitrag geleistet hat; Stolleis widmet ihm ein kleines Namenskapitel, ohne daß ein Einfluß seines Werks auf die allgemeine Staatslehre sichtbar wird. Ersichtlich widerwillig beschäftigt er sich mit Hegel, den er mit Fichte, Schelling, Adam Müller, Karl Ludwig von Haller, Friedrich Julius Stahl und anderen unter der Rubrik „Konservativismus, Romantik, Restauration” zusammenfaßt. Ist schon diese disparate Nachbarschaft befremdend, so zeigt sich Stolleis‘ Abneigung in seinem Vorwurf des Antiliberalismus und der Ambivalenz: Hegel habe es vermieden, sich festzulegen. Stolleis sieht ihn im wesentlichen als den preußischen konservativen Staatsphilosophen, den Verherrlicher des status quo, von politischer Teilhabe am Staat sei bei ihm keine Rede, frage man „nach den direkten politischen Implikationen dieser Allgemeinen Staatslehre, dann stellt sich eine durchaus konventionelle Umschreibung des um 1820 gängigen und gerade in Preußen praktizierten Modells heraus: eine starke Monarchie, Anerkennung politischer Mitwirkung der Gesellschaft nur über ein korporativ vorgefiltertes Parlament mit engsten Befugnissen, keine die Staatsmacht wirklich zügelnde Gewaltenteilung, deutliche Betonung der neutralisierenden Funktion einer ,vernünftigen‘ und unbestechlichen Bürokratie, die aber nicht nur eine verläßliche „Stütze des monarchischen Prinzips ist, sondern auch bürgerliche Freiheit garantiert — Ambivalenz letztlich auch in diesem Punkt” (S. 136). Gewiß ist der Zugang zu Hegel schwierig, war seine Staatsphilosophie von jeher umstritten, doch könnte man in einem Werk wie diesem erwarten, daß auch die in der Literatur (auch in der staatsrechtlichen, beispielsweise von Hermann Heller) vertretene andere Sicht zitiert und zumindest der eigenen Position gegenübergestellt wird. Natürlich kann eine Geschichte des öffentlichen Rechts nicht die gesamte Hegel-Diskussion aufarbeiten; wenn aber bei weitaus kleineren Denkern die unterschiedliche Beurteilung referiert wird, sollte das bei Hegel, dessen Ideen und Werk unser Jahrhundert so stark geprägt hat , nicht unterlassen werden.

Die Darstellung führt über die Literatur von vor 1848, die der gescheiterten Revolution von 1848 bis zu der des Norddeutschen Bundes und des deutschen Kaiserreichs. Sie endet mit dem Jahr des Kriegsbeginns 1914. Der übergreifenden Gesamtdarstellung sind immer wieder Porträts einzelner Staatsrechtslehrer eingefügt. Da Hermann Hellers Publikationen erst 1919 beginnen, ist es korrekt, wenn sie im vorliegenden Band fehlen. Gleichwohl wäre zu erwägen, ob seiner nicht wenigstens im Zusammenhang mit Hans Kelsens Lehre zu gedenken gewesen wäre, zumindest in einer Fußnote.

Insgesamt ist Michael Stolleis‘ Darstellung eine vorzügliche Übersicht über die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland seit etwa 1600. Der Detailreichtum zeugt von umfangreichen Studien. Ein Band 3, der bis zur Gegenwart führen soll, ist angekündigt. Man sieht ihm mit Interesse entgegen.

Frauen als Staatsrechtslehrerinnen sind heute noch weitgehend unbekannt, auch wenn der Parlamentarische Rat immerhin vier weibliche Mitlieder hatte und am Bundesverfassungsgericht derzeit zwei Richterinnen amtieren (und das Gericht auch in der Vergangenheit stets wenigstens ein weibliches Mitglied hatte, darunter die unvergessene vergessene Bundesverfassungsrichterin Wiltraut Rupp-von Brünneck). Auch als Objekte der Staatsrechtslehre haben sie wenig Interesse geweckt, ganz so, als sei es für einen Staat gleichgültig, ob er mehrheitlich oder wenigstens paritätisch von Frauen und Männern regiert wird. Doch nicht einmal für die (abstrakte) Idee des Staates ist das richtig; hier ist leider nicht der Ort, das näher auszuführen. Frauen waren meist Opfer, auch des (männlich bestimmten) Staates, seiner Staatsraison. Für das antike Griechenland liegt eine aufschlußreiche Untersuchung vor:

Nicole Loraux, Tragische Weisen, eine Frau zu töten. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, mit einem Nachwort von Peter Krumme, Campus Verlag Frankfurt / New York 1993, 120 S. , brosch. DM 26,—

Nicht ohne Grund erinnert der Titel an den eines Krimi. Die Autorin entwirft eine Typologie gewaltsamer weiblicher Todesarten auf der antiken Theaterbühne. Ein Mann stirbt in aller Regel (Ausnahmen bestätigen sie) den Heldentod; selbst wenn er sich selbst tötet, tut er es immer als Mann: er stürzt sich ins Schwert, niemals erhängt er sich. Den Frauen steht es zwar im Konfliktfall immer frei, sich zu töten, „jedoch nicht, ihrer räumlichen Festsetzung zu entrinnen” : Es ist das Ehegemach, wo sie sich den Tod geben. Der Ruhm der Frau, stellt die Autorin fest, besteht darin, keinen zu haben. Die tragischen Frauen sterben zwar auf gewaltsame Weise, aber „in dieser Gewalt erobert sich eine Frau ihren Tod. Einen Tod, der nicht nur das Ende eines vorbildlichen Gattinnenlebens bedeutet. Einen Tod, der ihr zu eigen gehört, den sie sich, wie die Iokaste des Sophokles, ,selber durch sich selbst hat oder, noch paradoxer, den man ihr gegeben aufgezwungen hat. Einen brutalen Tod also, der kurz und bündig verkündet wird …“ Jungfrauen werden daher getötet, sie sind Opfer (Ausnahme: Antigone, die dem Erstickungstod in der Grabkammer durch Erhängen zuvorkommt). Zwar:“ in der Wirklichkeit opfert die Stadt ihre eigenen Mädchen nicht;  doch während der Zeitspanne einer Aufführung bietet sie den Bürgern die doppelte Befriedigung, imaginär das Verbot des phonos zu übertreten und vom Blut  der Jungfrauen zu träumen.”

Die griechische Tragödie kennt eine Vielzahl von Jungfrauen, die zum Segen der Gemeinschaft den Göttern dargeboten werden, damit ein Krieg begonnen oder beendet werden kann. „Die Jungfrauen können zwar nicht an der Seite der Männer kämpfen, aber in höchster Gefahr fließt ihr Blut, damit die Gemeinschaft der andres lebe”, der Männer. Manchmal wachen über die rechte Ordnung der Opferung „Auserwählte“, jene „Elite der kriegerischen Jugend, deren Berufung zum Tod gebieterischer ist als die jedes anderen Kämpfers. Kommt die Niederlage, dann lassen sich die Auserwählten bis zum letzten Mann töten, damit der Sieg komme, führen die Auserwählten eine auserwählte Jungfrau zur Schlachtbank. Damit das Blut der Männer nicht umsonst vergossen wird, muß also das Blut einer Jungfrau fließen —  jungfräuliches Blut, oder, wie es die Priester in dem Augenblick verkünden, da sie ihn Werk vollbringen, reines Blut. Bleibt zu sagen, daß eine solche Logik, stets der Zeit des Mythos zugeschrieben die Logik des Imaginären ist: so viele Freiheiten sich die Tragödie mit der Realität den gesellschaftlichen Praktiken auch herausnehmen mag, kein Zuschauer kann vergessen, daß sich eine Stadt, auch wenn sie sich großer Gefahren gegenübersieht, damit begnügt, Tiere zu opfern … Sollte begnügt, die Tragödie von Aischyolos bis Europides, um diese Spannung zwischen Realem und Imaginärem zu lösen, deshalb bestrebt sein, die geopferten jungen Mädchen metaphorisch in Tiere zu verwandeln?” fragt Loraux, und sie fährt fort: „Aber man täusche sich nicht … Wenn sich … dass Opferthema um eine Tiermetapher gruppiert, so deshalb, weil das junge Mädchen wie das Opfertier ausgeliefert ist, unterworfen, dargeboten, geführt. Sagen wir präziser, daß die tragischen Opferungen den ganz alltäglichen Hochzeitsritus erhellen, bei dem die Jungfrau von einem Kyrios (Vormund) zu einem anderen übergeht, vom Vater, der sie dem Gatten ,gibt‘, der sie ‚führt‘. Tragische Ironie der Trauerzüge, die Hochzeitszüge hätten sein sollen … umgekehrte Heiraten, insofern sie zu einem Opfer führen, der häufig der Vater ist, und … zur Wohnung eines Gatten, der Hades heißt“.

Abschließend stellt Loraux fest: „Es ging mir darum, herauszufinden, wie und bis zu welchem Punkt männliche Werte und weibliche Attribute in der tragischen Inszenierung der Frauen aufeinander einwirken, da man, wenn es um diese problematische ‚Hälfte der polis‘ geht, der Tragödie gern eine in diesem 5. athenischen Jahrhundert bemerkenswerte Kühnheit einräumt.“ Die Autorin zieht den Schluß, daß diese „Reinigung” in der Tragödie „zweifellos weniger den Privatmann als den Staatsbürger läutert, weil sie von den Affekten reinigt, von dem der rechte Gebrauch des bürgerlichen Status nichts wissen darf. Und so opfert man Jungfrauen im Theater des Dionysos…“ Sicherlich werden wir die Gedanken der athenischen Zuschauer vor 2500 Jahren nicht nachvollziehen können, doch sicher waren es typische Männerphantasien, die sich in dem Gedanken gefielen, die Opferung einer Jungfrau könne aus Gründen der Staatsraison erforderlich sein.

Verweise

1 „dans la nation“. Übersetzung nach Hartung, Die Entwicklung der Menschen- und Bürgerrechte von 1776 bis zur Gegenwart, 8. Aufl., S. 43: bei Franz, Staatsverfassungen, 2. Aufl. lautet sie: „Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation.”
2 Nach Carlo Schmid (SPD), vgl. v. Doemming / Füßlein / Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des GG, in JöR Bd. 1, S. 197.
3 Übersetzung nach Lefebvre, 1789. Das Jahr der Revolution, übers. v. Ulrich Friedrich Müller, dtv 1989, S. 165.
4 Die Souveränität Bd. II S. 68 mit Fn. 136 mit Verweis auf J. Bodin, Sechs Bücher über den Staat, l. Buch, nun: München 1981 L 155/D 159.
5 Die Souveränität (Fn. 4) S. 39
6 Rechtsstaat oder Diktatur, Gesammelte Schriften Bd. II S. 507f.
7 Gesammelte Schriften Bd. III S. 208.
8 Erstmals in der Streitschrift „Rechtsstaat oder Diktatur”, 1929, Gesammelte Schriften Bd. II 5. 443, 450.
9 JöR (Fn. 2) S. 195
10  v Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, l. Aufl. 1953, Anm. II b) zu Art. 20 GG.
11 Sten. Bericht, zit., nach AK/Kittner, 2. Aufl., Rdnr. 19 zu Art. 20 Abs. 1- 3 GG.
12 vgl. Schröder/Künf3berg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl. 1932, S. 773.

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