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Quo vadis laïcité?: Die Recht­spre­chung des franzö­si­schen Staatsrates zu Schule und Islam

vorgänge09/2002Seite 119-124

Als einziges neues Bundesland hat Brandenburg mit der Einführung von LER als ordentliches Schulfach den Laizismus des DDR-Schulsystems weitergeführt. Demgegenüber hat der Schlichtungsvorschlag des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Dezember 2001, den Wert der Religion als Schulfach erhöht. Vor diesem Hintergrund — jedoch auch mit Hinblick auf die sich nach dem 11. September verstärkende Diskussion um die Bedeutung religiöser Wertorientierungen in modernen Gesellschaften — liegt es nahe, von der deutschen Debatte abzusehen und den Blick auf Frankreich zu richten: Auch jenseits des Rheins steht das Verhältnis von Religion und Staat vor neuen Herausforderungen. Hier ist es die laïcité, die zunehmend in Frage gestellt wird: Durch Immigration vor allem aus den Maghreb-Staaten konnte sich der Islam mit ca. 4,15 Millionen Gläubigen (Leveau et al. 2001: 141) als zweitgrößte Religionsgemeinschaft Frankreichs etablieren. Das Problem besteht nunmehr darin, dass große Teile der französischen Gesellschaft die Aufrechterhaltung des fast 100 Jahre alten Prinzips der Laizität wünschen – und daneben die Notwendigkeit besteht, die muslimische Bevölkerung in die französische Republik zu integrieren.

Die Auseinandersetzung mit dem Islam lässt sich anhand der ,Kopftuch-Affären` exemplarisch darstellen. Ähnlich wie in der Bundesrepublik spielen dabei die Gerichte eine besondere Rolle, jedoch nicht die Verfassungsgerichtsbarkeit, die in Frankreich trotz ihrer Aufwertung in der V. Republik (dazu Vogel 2001) ein geringer ausgeprägtes Kompetenzprofil besitzt. Konflikte, die sich nachträglich zwischen Verfassung und Gesetzestext ergeben, sind vielmehr Sache des Staatsrates. Wie geht dieser nun mit dem Problem um, einerseits die Laizität als eine grundlegende Leitidee der französischen Republik zu bewahren und andererseits das Integrationsgebot gegenüber den aus meist nicht oder weniger säkularisierten Gesellschaften immigrierten französischen Muslimen zu erhalten?

Bildung in einer laizis­ti­schen Republik

Laizität ist ein Verfassungsprinzip der französischen Republik und somit Ausdruck des Selbstverständnisses der französischen Gesellschaft. Laïcité meint zum einen die religiöse Neutralität des Staates und seine Nicht-Einmischung in religiöse Angelegenheiten, die ausschließlich Teil der privaten, nicht der öffentlichen Sphäre sind. Laïcité meint aber auch die staatliche Garantie von individueller, wiederum auf die Privatsphäre beschränkter, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Das Bildungswesen — in einem langen Kampf durch die Republik der Kirche abgerungen — ist die zentrale Voraussetzung für die Vermittlung republikanischer Werte und damit auch für die Aufrechterhaltung der Laizität.

Seit 1995 steht diese an herausgehobener Stelle, nämlich im ersten Artikel der Verfassung: „La France est une République indivisible, laïque, démocratique et sociale. Elle assure l’égalité devant la loi de tous les citoyens, sans distinctions d’origine, de race ou de religion. Elle respecte toutes les croyances.“[1]Der Wesensgehalt dieses Grundsatzes findet sich jedoch schon im Artikel X der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), in dem auch auf Glaubensfragen bezogene Meinungsfreiheit gewährt wird: „Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, meme religieuses, pourvu que leur manifestation ne trouble pas l’ordre public établi par la loi.“ Dieser Satz bildet den Grundstein für die Institutionalisierung des laizistischen Prinzips, dessen Verankerung in mehreren Etappen verlief.

Eine erste Formalisierung der laïcité brachten das Konkordat zwischen Napoleon und Papst Pius VII. 1801 und der Code civil 1804. Die Anerkennung der Glaubensfreiheit unterminierte das Glaubensmonopol der katholischen Kirche, doch wurde ihr der Charakter als einendes Band der Gesellschaft noch nicht abgesprochen (Chadwick 1997: 48). Trotz erster Verstaatlichungen der Sekundarschulen blieb der Primarschulbereich bis 1880 weitestgehend unter kirchlicher Kontrolle. Im Kräfteverhältnis zwischen Staat und Katholizismus dominierte zunächst also letzterer. Dagegen richtete sich die vor allem seit Beginn der III. Republik von den Répulicains propagierte und mit der Einführung der école républicaine 1882 durchgesetzte Trennung von Kirche und Schule. Dieser folgte 1905 die Trennung von Staat und Religion, womit die Laizisierung des öffentlichen Lebens endgültig institutionalisiert war. Die Folgejahre dienten der — keineswegs ungestörten — Festigung des öffentlichen Schulsystems. In einer erneuten guerre scolaire verweigerten Priester Schülern von staatlichen Schulen die Kommunion oder gestatteten nur Eltern, die ihre Kinder auf private, also kirchliche Schulen schickten, die Teilnahme an der Messe (Chadwick 1997: 51). Erst in der Nachkriegszeit gab die katholische Kirche ihre Opposition gegen den laizistischen Staat allmählich auf. Nach und nach wurde auch der strikte Dualismus von öffentlicher und privater Schule abgebaut. Seit 1959 zahlt der Staat neben der finanziellen Unterstützung der Schüler auch die Lehrergehälter privater Schulen, solange sich diese an die Standards der nationalen Lehrpläne halten. Die lange Auseinandersetzung zwischen katholischer Kirche und französischem Staat endete also in einer beiderseitigen kooperativeren Haltung. Der Versuch der sozialistischen Regierung Mauroy 1984, das Schulsystem vollständig zu verstaatlichen, rief ebensolche Proteste hervor wie der Versuch der Regierung Balladur 1993, eine vollständige öffentliche Finanzierung der privaten Schulen durchzusetzen. Anders als das Prinzip der laïcité zunächst glauben macht, hat sich für das Verhältnis von Kirche und Staat ein konzilianterer modus vivendi gefunden.

Der Islam als Heraus­for­de­rung für die Laizität

Ein solcher wird nun auch für die muslimischen Religionsgemeinschaften gesucht. Dabei gilt es einerseits, das universalistische Prinzip der Laizität auch gegenüber dem Islam durchzusetzen, andererseits die freie individuelle Religionsausübung zu ermöglichen. Die Kooperation wird jedoch dadurch erschwert, dass der Islam als Religion, die erst in neuerer Zeit durch Immigration nach Frankreich kam, nicht wie die anderen Religionen an den nationalen Rahmen gebunden, sondern transnational ausgerichtet ist. Aufgrund der verschiedenen Herkunftsländer ist er nicht einheitlich organisiert, sondern es existieren viele eigenständige Zentren, was es — zumal für einen Zentralstaat — schwierig macht, einen von allen akzeptierten Ansprechpartner zu finden.[2] Solche Versuche gibt es seit Ende der 1980er Jahre; sie haben bisher nicht zu dauerhaftem Erfolg geführt (ausführlich dazu Frégosi 2001).

Die große Mehrheit der Muslime praktiziert einen zurückhaltenden, fast versteckten Islam, der übrigens in großen Teilen ebenfalls von der allgemeinen Säkularisierung der Gesellschaft erfasst wird (Cabanel 1999: 172M. Nur gut ein Drittel geben an, sie seien gläubige und praktizierende Muslime; gut 80 Prozent sind jedoch der Meinung, ein Moslem müsse in Frankreich die Möglichkeit haben, alle religiösen Vorschriften des Islam respektieren zu können (IFOP-Umfrage vom 28. September 2001). Selbst wenn also nur eine Minderheit tatsächlich den muslimischen Glauben praktiziert, hätten vier Fünftel Verständnis dafür, wenn beispielsweise muslimische Mädchen nicht ohne Kopfbedeckung in die Öffentlichkeit gehen.

In Frankreich wird der Schule ein hoher Stellenwert für die Integration nicht nur der muslimischen Bevölkerung beigemessen. Zunehmend umstrittener ist jedoch, ob die Integration besser gelingt, wenn muslimische Schüler ihren Glauben auch in der Schule zeigen dürfen oder ob nach traditioneller republikanischer Auffassung die Schule ein von Religiosität gleich welcher Art unbeeinflusster Ort sein soll. Ist es besser, die Kinder muslimischer Einwanderer mitsamt ihrem sozialen und religiösen Hintergrund aufzunehmen und in diesem Kontext zu fördern, oder sollte man nicht vor allem die Mädchen aus islamischen Elternhäusern von ihrer Abhängigkeit von den religiösen Vorschriften ‚befreien‘ und ihnen zumindest zeitweilig einen ‚Freiraum‘ bieten? In der Auseinandersetzung um den besten Weg der Integration stehen sich die Anhänger einer strikten Form der laïcité républicaine — oder laïcité de combat — und in offenbar geringerer Anzahl die Verfechter einer laïcité tolérante gegenüber. Letztere plädieren, teilweise inspiriert vom amerikanischen Modell des Multikulturalismus, für eine Öffnung der Schule gegenüber der sozialen Realität. Schule müsse ‚demokratisch‘ in dem Sinne sein, dass die verschiedenen Konfessionen und Kulturen der französischen Gesellschaft nicht gezwungen werden, vor ihren Toren halt zu machen. Zu den Verteidigern dieser Position gehören z.B. die Ligue des Droits de l’Homme und SOS Racisme. Sie argumentieren, dass der laizistische Universalismus nicht zum Medium der Exklusion werden dürfe, dass die Integration der muslimischen Bevölkerung wichtiger sei als die unbedingte Aufrechterhaltung einer reinen, in dieser Form gar nicht existenten Laizität. Demgegenüber setzen sich die Verteidiger der laïcité républicaine, z.B. die beiden größten Lehrergewerkschaften F.E.N. und S.N.I., für die Aufrechterhaltung des traditionellen, jakobinischen Verständnisses der Laizität mit ihrer strikten Trennung von Kirche und Schule ein. Getreu dem alten republikanischen Motto „La Reublique a fait l’école, l’école, fera la Reublique“ (Bergougnioux 1995: 20) gehen sie davon aus, dass die Schule in einer multikulturellen und multikonfessionellen Gesellschaft umso mehr eine laizistische bleiben und gerade durch Neutralität zur Integration der Gesellschaft beitragen müsse (William 1991: 37). Religiöse Symbole wie etwa der Schleier werden weniger als Ausdruck religiöser Zugehörigkeit und Identität, sondern als Sinnbild für die Unterdrückung der Frau und damit als unvereinbar mit dem zum republikanischen Wertekanon gehörenden Gleichheitsprinzip gesehen.

Diese Diskussion wurde besonders im Zusammenhang mit mehreren sogenannten Kopftuchaffären geführt. Im Herbst 1989 brach in Frankreich eine große Debatte um ein — oberflächlich betrachtet — Disziplinproblem an einem Collége in Creil (Oise) aus. Der Direktor dieses Collége hatte drei muslimische Schülerinnen vom Unterricht ausgeschlossen, weil sie sich geweigert hatten, im Klassenzimmer ihr Kopftuch abzunehmen. Eine erste Weisung des damaligen Bildungsministers Jospin, die das Tragen religiöser Zeichen in der Schule zwar nicht gestattete, aber der Schulpflicht Vorrang gab, führte nicht zu einer Lösung des Problems — man unterrichtete die Schülerinnen in der Schulbibliothek. Die emotionalen Reaktionen schlugen hoch, als Jospin sich weigerte, die drei Mädchen vom Unterricht auszuschließen. Fünf Intellektuelle veröffentlichten im Nouvel Observateur einen offenen Brief, in dem sie das ‚Nachgeben‘ des Bildungsministers mit dem Münchner Abkommen 1938 verglichen.‘[3]

Die Recht­spre­chung des Staatrates zu den ,Kopftuch-Af­fä­ren‘

Jospin bat den Staatsrat schließlich um ein Rechtsgutachten. Ausgehend von nationalem wie internationalem Recht kam dieser am 27. November 1989 zu dem Ergebnis, dass in Schulgebäuden das Tragen von religiösen Zeichen durch Schüler, die damit ihre religiöse Zugehörigkeit manifestieren wollen, an sich nicht unvereinbar mit dem Prinzip der Laizität sei. Dem seien jedoch Grenzen gesetzt: Die Glaubensfreiheit der einen dürfe nicht die der anderen einschränken, etwa indem das Tragen religiöser Zeichen fordernden Charakter annehme und auf andere Druck ausübe, provoziere, mit Missionierungseifer und Propaganda einhergehe oder den schulischen Alltag störe. Trotz dieser Grenzen ist die Entwicklung gegenüber dem bis dato allgemein akzeptierten Verständnis von laïcité nicht zu übersehen: Aus der gleichzeitigen Gültigkeit des Laizitätsprinzips und der individuellen Freiheit, jederzeit — also auch im öffentlichen Raum —seinen Glauben manifestieren zu können, ergibt sich die Verpflichtung für die staatliche Schule, Schüler, die Kreuz, Kippa oder Schleier in der Schule tragen wollen, nicht auszuschließen. Schule habe zudem, so der Staatsrat, nicht nur die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, sondern sie solle auch zur Entwicklung der Persönlichkeit von Kinder beitragen, zum Respekt vor dem Individuum mitsamt seiner Herkunft und in seiner Verschiedenheit erziehen und die Gleichheit zwischen Mann und Frau fördern.

Die Kritik, die dieses Gutachten hervorrief, betraf sowohl die inhaltliche ‚Aufweichung‘ der Laizität wie auch das Verfahren, mit dem der Staatsrat allein eine die gesamte Gesellschaft betreffende Debatte entschieden hatte. Die Verfahrenskritik zielte auf die zu enge Verquickung der Ratgeber- und der Entscheiderrolle, wofür nicht der Staatsrat allein verantwortlich war, sondern auch der Bildungsminister, der das Gutachten wörtlich übernahm (William 1991: 33). Die inhaltliche Kritik betraf das Abweichen des Staatsrates von der weithin für selbstverständlich gehaltenen laïcité républicaine. Auf der Seite der Kritiker findet sich die jakobinische Linke ebenso wie Vertreter des rechten politischen Spektrums.

So hatte nach Einschätzung des Kommunisten Andre Lajoinies der Staatsrat lediglich den Rückzug der Regierung bei der Verteidigung der laizistischen Prinzipien nachvollzogen: „(C)et avis porte atteinte aux principes de la (Le Monde vom 29. November 1989) Sekundiert wurde er in dieser Ansicht sowohl von der Sozialistin Yvette Roudy als auch vom Front national-Führer Jean-Marie Le Pen. Während erstere im Schleier sowohl ein Symbol für die Unterdrückung der Frau also auch für den Verstoß gegen die „neutralite religieuse au sein de l’ecole publique“ sah, erklärte letzterer schlicht: „A question idiote, reponse idiote.“ (Ebd.) Die Befürworter des Gutachtens, zu denen z.B. Danielle Mitterrand gehörte, lobten dessen Gerechtigkeit und Toleranz. Die Schule, so brachte es Fran9ais Doubin vom linkszentristischen Mouvement des Radicaux de Gauche auf den Punkt, solle ein Ort der Integration sein und müsse deshalb die Schüler mitsamt ihren Unterschieden akzeptieren: „Notre larcite doit etre plus forte que les extremistes.“ (Ebd.)

Die Vorwürfe der Kritiker wogen umso schwerer, als die Conseillers d’Etat nicht nur gegen die offenkundige Mehrheitsmeinung der Franzosen verstießen, sondern auch gegen eigene Entscheidungen, mit denen der Staatsrat zwischen 1880 und 1905 selbst zur Durchsetzung der Trennung von Kirche und Staat, also der laïcité républicaine, beigetragen hatte.

Nun stellte er sich jedoch auf die Seite einer laïcité tolérante. Für diese ‚Wankelmütigkeit‘ wurde er mit einer Karikatur auf der Titelseite von Le Monde bedacht, die durch die Einfügung von laïcité in die sakralisierte republikanische Trinität Liberté, Egalité , Fraternité (anstelle letzterer stand nunmehr Laïcité) suggerierte, dass das laizistische Prinzip seit jeher untrennbar mit den übrigen Prinzipien der französischen Republik verknüpft und wie diese universell gültig sei. So wie 1905 — und eigentlich schon 1789 — festgelegt, sei es unumstößlich und unveränderlich. Dabei wird freilich der langsamen Annäherung von katholischer Kirche und französischem Staat überhaupt nicht Rechnung getragen. Die faktischen Anpassungen des laizistischen Prinzips werden ausgeblendet. Von der Rechtsprechung wird Deutungsschließung eingefordert, wo faktisch Deutungsoffenheit besteht: Der Staatsrat richtete seine Entscheidung an der veränderten sozialen Realität aus, ohne sich dabei von der Mehrheitsmeinung beeinflussen zu lassen. Wie ein Conseiller d’Etat in einem Interview zehn Jahr später bestätigte: „Man muss ein offenes Ohr für die Gesellschaft haben, ohne ihrem Drängen nachzugeben. (…) Wir waren sicher toleranter, als es die öffentliche Meinung gewünscht hat.“ (Le Monde vom 25. November 1999)

Der Staatsrat als Verfechter einer toleranten Laizität

Ungeachtet der Kritik behielt der Staatsrat seine tolerante Linie bei. Die offene, pragmatische Regelung, wonach die Schulleiter von Fall zu Fall entscheiden sollten, ob das Tragen eines religiösen Zeichens zulässig sei oder nicht, führte zu Folgefällen, in denen er sein Gutachten von 1989 präzisierte. Im Fall Kherouaa (2. November 1992) erklärte er eine Schulordnung für ungültig, die das Tragen jeglicher Zeichen, gleich ob religiöser, philosophischer oder politischer Art, verboten hatte. Auf der Grundlage dieser Schulordnung war ein muslimisches Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen worden, die einen Schleier getragen hatte. Ebenso wandte sich der Staatsrat gegen eine Schulordnung, die unter dem Deckmantel der Höflichkeit das Tragen des Schleiers verbot, indem sie festlegte, dass die Schüler ‚anstandshalber‘ mit unbedecktem Kopf im Klassenzimmer zu erscheinen hätten (Fall Yilmaz, 14. März 1994). Gegenteilig wurde in den Fällen Epoux Aoukili (10. März 1995) und Ligue islamique du Nord et Epoux Chabou (27.November 1996) entschieden: Im ersten Fall hatte eine Schülerin im Sportunterricht trotz der Gefahren, die dies mit sich bringt, das Ablegen des Schleiers verweigert. Im zweiten wurden Schüler vom Unterricht ausgeschlossen, die sich an religiös motivierten Protestaktionen beteiligt hatten. Allerdings gilt die Freiheit, die Schülern gewährt wird, nicht in gleichem Maße für Lehrende. So bestätigte der Staatsrat die Kündigung einer Frau, die als Aufsicht in einem Internat gearbeitet und dabei den Schleier nicht abgelegt hatte (Fall Mlle Marteaux, 3. Mai 2000). Angestellte des öffentlichen Dienstes, so die Begründung, seien an die Neutralität des Staates gebunden. Unabhängig von ihrer Aufgabe dürfen Angestellte des Staates ihre religiöse Zugehörigkeit im Dienst nicht zeigen.

Die Rechtsprechung des Staatsrates beruht, so lässt sich zusammenfassen, auf einer toleranten Form der Laizität. Sie bewegt sich damit zwischen der Beibehaltung der strikten, traditionellen Form der laïcité de combat und dem Versuch, dem Islam ungeachtet des französischen Verhältnisses zwischen Religion und Staat in der öffentlichen Sphäre unbegrenzt Ausdruck zu verleihen. Jeder Seite werden Einschränkungen auferlegt: Die Lehrenden müssen akzeptieren, dass Schüler ihre religiöse Zugehörigkeit manifestieren; diese müssen hinnehmen, dass das Tragen religiöser Zeichen seine Grenzen in der Freiheit der anderen und im sicheren und störungsfreien Ablauf des Schulalltags hat. Damit spielt der Staatsrat, auch wenn die inhaltliche Auseinandersetzung eine andere ist, eine ähnlich vermittelnde Rolle zwischen Staat und Religion wie das Bundesverfassungsgericht mit seiner Schlichtung. Die Debatte um den foulard islamique hat den alten Gegensatz zwischen Fürsprechern und Gegnern der Laizität aufgelöst und durch einen neuen ersetzt, nämlich jenen zwischen laïcité républicaine und laïcité tolérante. Für die Debatte zwischen den Verfechtern der beiden laïcités und für eine bessere Integration der französischen Muslime hatte der Staatsrat mit seiner Entscheidung eine wesentliche Katalysatorfunktion

Literatur

Baubérot, Jean 2000: Histoire de la laïcités française, Paris

Bergounioux, Alain 1995: La laïcité, valeur de la République, in: Pouvoirs 75, S. 17-26.

Cabanel, Patrick 1999: Laizität und Religionen im heutigen Frankreich, in: Christadler, Marieluise /Uterwedde, Henrik (Hg.), Länderbericht Frankreich. Geschichte, Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bonn, S. 164-180

Chadwick, Kay 1997: Education in Secular France: (Re)defining laïcité, in: Modern & Contemporary France, Heft 5, S. 47-59

Finkielkraut, Alain 1995: La laïcité à I’épreuve du siécle, in: Pouvoirs, Heft 75, S. 53-60

Frégosi, Franck 2001: France: le culte musulman et la République, la régulation publique de l’islam dans un cadre laique, in: Rémy Leveau et al. (Hg.): L’islam en France et en Allemagne. Identitds et citoyennetds, Paris, S. 63-80

Krosigk, Constanze von 2000: Der Islam in Frankreich. Laizistische Religionspolitik von 1974 bis 1999, Hamburg

Koubi, Geneviéve 1997: La laïcité dans le texte de la Constitution, in: Revue du droit public, Jg. 63, Heft 5, S. 1301-1321

Leveau, Rémy 2001: France: changements et continutitd de l’islam, in: Rémy Leveau et al. (Hg.), L’islam en France et en Allemagne. Identitds et citoyennetds, Paris, S. 51-62

Leveau, Rémy/Mohsen-Finan, Khadija/Wihtol de Wenden, Catherine (Hgg.) 2001: L’islam en France et en Allemagne. Identitds et citoyennetds, Paris

Wieviorka, Michel 1995: Laïcité et ddmocratie, in: Pouvoirs, Heft 75, S. 61-72.

William, Jean-Claude 1991: Le Conseil d’Etat et la laïcité. Propos sur l’avis du 27 novembre 1989, in: Revue francaise de sciences politiques, Jg. 41, Heft 1, S. 28-58

Vogel, Wolfram 2001: Demokratie und Verfassung in der V. Republik. Frankreichs Weg zur Verfassungsstaatlichkeit, Opladen

Anmerkungen

[1] Von 1962 bis 1995 war der 1. Artikel den besonderen Beziehungen zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Überseegebieten gewidmet, die 1962 alle unabhängig geworden waren. Der Passus wurde 1995 aus der Verfassung gestrichen, an seine Stelle rückte der Beginn des vormaligen zweiten Artikels.

[2] Die wichtigsten muslimischen Vereinigungen sind: l’Institut musulman de la mosquge de Paris, l’Union des organisations islamiques de France, Hdbution nationale des musulmans de France und Tabligh. Vgl. Leveau 2001: 61f.

[3] „L’avenir dira si l’annde du Bicentenaire aura vu le Munich de l’dcole rdpublicaine.“ Elisabeth Badinter, Rdgis Debray, Alain Finkielkraut, Elisabeth de Fontenay und Cathdrine Kintzler in: Le Nouvel Observateur, 2.-8. November 1989: 30.

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