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Editorial

Am Anfang des 21. Jahrhunderts steht die Gewalt. Völlig neuartige Terrorattacken auf New York und Washington, dann ein „Anti-Terror-Krieg“ einer internationalen Allianz in Afghanistan, in Bälde vielleicht ein amerikanischer „Präventivkrieg“ gegen Iraks Diktator Saddam Hussein: Jürgen Habermas‘ Diktum von der „neuen Unübersichtlichkeit“ nach dem Epochenumbruch 1989 entpuppte sich rasch als Euphemismus. Die Ära des Kalten Krieges zwischen zwei Supermächten, die sich gegenseitig Vernichtung androhten, erscheint manchem im Rückblick vergleichsweise harmlos und friedlich.

Jedoch vieles von dem, was an scheinbar neuen Bedrohungen auftaucht, existiert schon lange. Grausame Bürgerkriege der 1990er Jahre von Ruanda über Somalia bis Bosnien und Kosovo, gleichsam Auftakte zur gegenwärtigen Dominanz der Gewalt, ähnelten oft den postkolonialen Befreiungskriegen aus den 1950er und 1960er Jahren. Aber anders als früher sind die westlichen Gesellschaften heute direkt betroffen; jeder erlebte das am 11. September 2001. Doch die Reaktionen des Westens bleiben vielfach enttäuschend: Alte politische Irrwege erleben eine erschreckende Renaissance. Wer redet heute noch angesichts allgemeiner „Enttabuisierung des Militärischen“ (Gerhard Schröder) vom zivilen Konfliktmanagement? Und die freiheitliche Grundordnung, einst in der Systemauseinandersetzung mit dem östlichen Staatssozialismus das zentrale Argument, wird immer weiter beschnitten. Der Abbau von Bürgerrechten sowie neue Sicherheitsgesetze sind die primitiven Antworten, die Demokratien wie den USA, Deutschland und Großbritannien auf die Bedrohungen durch Terror einfallen.

Gerade letzteres hat eine lange und unselige Tradition: „Nach wie vor wird die öffentliche Diskussion über die ,Innere Sicherheit‘ mitbestimmt von einem antiliberalen ,Ordnungs`- und einem unpolitischen ‚Harmonie-Denken“ — so Achim von Borries im Editorial zum vorgänge-Themenheft Innere Sicherheit minus Innere Freiheit? Das war zwar 1973, doch der Satz ist auch dreißig Jahre später hochaktuell. Hans Heinz Feldmann meinte ironisch im gleichen Heft: „Das Jahr 1972 dürfen wir rückblickend als das Jahr der ,Inneren Sicherheit‘ würdigen und Bundesinnenminister Genscher als den ,Mann des Jahres‘“ — eine genaue Zustandsbeschreibung des Jahres 2002 und des starken Mannes der Regierung Schröder, Otto Schily.

Der Begriff der „Inneren Sicherheit“ gehört zu den am häufigsten missbrauchten Sprachschöpfungen der politischen Klasse. Im Getümmel des Parteienstreits dient er seit vielen Jahren als Kampfbegriff, um den politischen Gegner zu attackieren. Lange Zeit sah es so aus, als ob die Gefährdungen der inneren Liberalität inklusive der „Unersättlichkeit der Sicherheitsbehörden“ (Jutta Limbach) vor allem dem konservativen Lager entstammen. Willy Brandts „Radikalenerlaß“ wurde darüber rasch vergessen, ebenso Helmut Schmidts und Horst Herolds Rolle im „Deutschen Herbst“ 1977. Scheinbar zu Recht: Noch die rot-grüne Koalitionsvereinbarung von 1998 sah keine einschneidenden Veränderungen der bestehenden Rechtslage vor; die Rede war nur von konsequenterer Anwendung bestehender Gesetze. Unter der Ägide des sozialdemokratischen (und Ex-Grünen) Innenministers Otto Schily wurde man jedoch alsbald eines Besseren belehrt: Auch die SPD gebrauchte nunmehr die „Innere Sicherheit“ derart virtuos, dass Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm sich Schily gut „unter dem breiten Dach der Union“ vorstellen konnte. Diese Tendenz wurde nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 vollends deutlich. Was mit den eilig durchs Parlament gepeitschten Sicherheitspaketen I und II in Deutschland zu geltendem Recht wurde, kann als größte Einschränkung der Grundrechte seit dem deutschen Herbst 1977 gelten.

„Es gibt allemal Grauzonen und schleichende Übergänge zum Polizeistaat, die zu steter Wachsamkeit herausfordern“ — so Jutta Limbach im Mai auf dem Deutschen Anwaltstag. Die vorgänge kritisieren seit jeher eine Politik, die die Wurzeln einer freiheitlichen Gesellschaft attackiert. Ebenso wie die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts sind wir unbeirrbar der Meinung, dass „die Menschen- und Bürgerrechte noch immer die besten Garanten der inneren Sicherheit sind“ — auch in gewalttätigen Zeiten. Deshalb dieses Themenheft, ein Jahr nach dem 11. September.

Unsere Beiträge: Burkhard Hirsch zieht eine kritische rechtsstaatliche Bilanz des letzten Jahres und vermag zu zeigen, dass viele der zuletzt durchgesetzten Maßnahmen nur nach langen Jahren des Grundrechteabbaus möglich waren. Die Thesen von Winfried Hassemer, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, zielen auf grundsätzliche Fragestellungen: Er systematisiert die rechtstheoretischen wie -politischen Beziehungen zwischen Freiheit und Sicherheit.

Jürgen Seifert reflektiert den parlamentarischen Verhandlungsprozess um die beiden Sicherheitspakete und legt dar, wie es den Grünen gelungen ist, zumindest die bürgerrechtlich problematischsten Aspekte teilweise zu entschärfen. Till Müller-Heidelberg und Nils Leopold unterziehen in zwei Beiträgen die so genannten „Otto“-Kataloge einer Detailanalyse und schildern deren beträchtliche Auswirkungen auf die Grundrechte. Beide Autoren sehen enorme Defizite vor allem im Bereich des Ausländerrechts, aber auch in der Datenschutzproblematik und bei der Grundsatzfrage, ob die Sicherheitspakete im Einklang mit unserer Verfassung stehen. Ganz ähnlich argumentiert Rolf Gössner am Beispiel der Rasterfahndungen nach sogenannten „Schläfern“ in Deutschland nach dem 11. September.

Aber auch im Mutterland der Demokratie werden die Bürgerrechte nach den Terrorattacken auf New York und Washington systematisch beschnitten: Katharina Sophie Rürup beleuchtet den Abbau der Grundrechte in den USA in den vergangenen Monaten. Wie mögliche Antworten auf diesen hier wie dort scheinbar unaufhaltsamen Prozess aussehen könnten, beschreibt Detlef Hensche: Bürgerrechtsorganisationen müßten sich unter den Bedingungen der Globalisierung neu justieren.

Es folgen zwei Beiträge, die sich mit weltweiten Veränderungen nach dem 11. September beschäftigen. Christina Schildmann analysiert die Kommunikationsstrategien, mit denen die USA die Welt von der Notwendigkeit eines Eingreifens in Afghanistan überzeugten: Das uralte Drehbuch des „gerechten Krieges“ wurde, wie zuletzt in den Manifesten und offenen Briefen amerikanischer Intellektueller, zur Grundlage der Selling-the-War-Strategie. Andreas Buro legt dar, warum der Weg der rein militärischen Bekämpfung des Terrorismus eine Sackgasse ist und welche Gefahren daraus für den Weltfrieden erwachsen. Am Ende des Heftschwerpunktes steht wie immer der Literaturbericht mit den wichtigsten Neuerscheinungen zum Thema.

Der Essay von Karl-Heinz Hense widmet sich Ludwig Quidde, dem deutschen Friedensnobelpreisträger von 1927. Hense beschreibt das Leben des einzelgängerischen Pazifisten und fragt, warum er mit seinen Ideen scheiterte. Anschließend erinnert Jürgen Roth an die in Wahlkampfzeiten fast schon wieder vergessene Novelle des Stasi-Unterlagengesetzes im Bundestag: Abgeordnete aus Koalition und Opposition bildeten eine große Koalition der Vernunft und überstimmten damit die Regierungsvorlage. Vernunft ließ laut Gary S. Schaal auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Schlichtung in Sachen LER walten. Romy Messerschmidt macht mit einer ähnlichen Problemkonstellation in Frankreich vertraut: Der dortige Staatsrat hat bei seinen Schule und Islam betreffenden Festlegungen den Weg einer toleranten Laizität beschritten. Jenseits der allgemeinen Aufgeregtheit im Wissenschaftsbetrieb analysieren Francois Beilecke und Detlef Sack nüchtern die rot-grüne Novelle des Hochschulrahmengesetzes. Am Schluss des Heftes finden sich Rezensionen aktueller Literatur sowie ein Nachruf auf die Widerstandskämpferin Rosemarie Reichwein.

Nachhaltigen Erkenntnisgewinn bei der Lektüre wünschen wie immer

Thymian Bussemer und Alexander Cammann

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