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Ein Pazifist, zu Unrecht vergessen: Zum 75. Jahrestag der Friedens­no­bel­preis-­Ver­lei­hung an Ludwig Quidde

Am 10. Dezember 1927 wurde Ludwig Quidde der Friedensnobelpreis verliehen; er erhielt ihn zusammen mit dem französischen Pädagogen und Pazifisten Ferdinand Buisson als Anerkennung für seinen Beitrag zur friedlichen Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich. Im Jahr zuvor war der Preis den beiden Außenministern Gustav Stresemann und Aristide Briand für ihre Verdienste um den Vertrag von Locarno verliehen worden. Ein deutliches Zeichen der Bedeutung, die man in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts den deutsch-französischen Beziehungen für den Frieden in Europa, ja, für den Weltfrieden beimaß. Heute, da Deutsche und Franzosen als gute Nachbarn zusammenleben, können wir diese Bedeutung kaum noch nachvollziehen. Und kaum jemand erinnert sich an Ludwig Quidde, einen von vier deutschen Friedensnobelpreisträgern, seit 1901 diese Auszeichnung gestiftet wurde. Gustav Stresemann war der erste, danach erhielten ihn 1927 Quidde, 1936 der von den Nazis zu Tode geschundene Carl von Ossietzky und 1971 Willy Brandt. Gerade angesichts der deutschen Geschichte sollte ein Mann der Erinnerung wert sein, der Jahrzehnte seines Lebens, alle Fährnisse und Rückschläge nicht achtend, unermüdlich für die Demokratie, den Frieden und die Verständigung zwischen den Nationen gekämpft hat.

Wer also war Ludwig Quidde? Dreierlei hat sein Leben bestimmt: zum einen die Historische Wissenschaft, dann die Politik und schließlich der Pazifismus. Quidde wurde am 23. März 1858 in Bremen geboren. Er wuchs in einer großbürgerlichen Kaufmannsfamilie auf und genoss eine humanistische „Erziehung in Freiheit zur Freiheit“. Die politische Atmosphäre in seiner Familie und seinem Freundeskreis war von republikanischem, antipreußischem Denken geprägt. Schon vor dem Abitur kam der Spross selbstbewusst denkender und handelnder Bürger mit einem liberal-demokratischen Weltbild in Berührung, das ein Leben lang Grundlage seines Handelns bleiben sollte.

Der Historiker

1877 begann Quidde sein Studium in Straßburg; er belegte Geschichte, Nationalökonomie und Philosophie. Sein akademischer Lehrer war der Nationalliberale und spätere Bismarck-Kritiker Hermann Baumgarten. Vor allem die Vorbehalte Baumgartens gegenüber der undemokratischen Entwicklung des Kaiserreiches und dem konservativen Wissenschaftsbetrieb haben Quiddes kritische Haltung befördert. 1878 ging er auf Anraten seines Lehrers nach Göttingen, um sein Studium bei dem Mediävisten Julius Weizsäkker fortzusetzen. Dort wurde sein Interesse an der Geschichte des späten Mittelalters geweckt; 1881 promovierte Quidde mit einer Dissertation über König Sigmund (1368-1437). Weizsäcker beteiligte ihn daraufhin an der von ihm verantworteten Edition der spätmittelalterlichen Reichstagsakten. Daneben arbeitete der junge Wissenschaftler an einer Reihe anderer Projekte. Bis 1885 erschienen drei wichtige Untersuchungen, unter anderem zur „Geschichte des Rheinischen Landfriedensbundes von 1259″, die später seine pazifistischen Ideen beeinflussen sollte.

Quidde verstand historische Forschung auch als politische Arbeit. Die Wirtschafts- und Verfassungsgeschichte war für ihn vor allem von politischen Entscheidungen und Entwicklungen abhängig und nur in diesem Rahmen zu verstehen. Damit gehörte er zu einer Gruppe von Historikern, die sich von der traditionellen beschreibenden Darstellung geschichtlicher Ereignisse löste und kritische Untersuchungen zu den politischen Bedingungen historischer Entwicklung anstellte. Folgerichtig wurde vor allem die Monarchie kritisch betrachtet, was dem seinerzeit üblichen, unterwürfigen Untertanen-Habitus der historischen Wissenschaft keineswegs entsprach.

Quidde hatte die Vorarbeiten für seine Habilitation und für eine Reihe anderer Forschungen bereits geleistet, als er 1885 seine wissenschaftlichen Pläne vorerst zurückstellte. Der Grund lag in seiner Tätigkeit für die Edition der Reichstagsakten, die zu einer vertraglichen Bindung an die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, der Trägerin des Editionsprojektes, führte, und die ihm kaum noch Zeit für andere Arbeiten ließ. Endgültig gab er die Universitäts-Karriere zugunsten der publizistischen Verpflichtungen auf, als im gleichen Jahr sein Vater starb und ihm ein großes Vermögen vererbte. Im Zuge seiner Editionstätigkeit wurde er 1887 außerordentliches Mitglied der Historischen Kommission und 1889, nach Weizsäckers Tod, übernahm er mit 31 Jahren die Gesamtleitung für die „Ältere Reihe“. Nun gründete er auch eine eigene Zeitschrift, die „Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft„, die bis heute vor allem wegen ihrer methodologischen Beiträge, ihres glänzenden Rezensionsteiles und ihrer internationalen Ausrichtung in Fachkreisen hohe Anerkennung findet. Bald hieß sie nur noch „Quiddes Zeitschrift“, und sie betonte ihre Alleinstellung vor allem, wie der Historiker Reinhard Rürup schreibt, durch ihr „linksliberales Gepräge“ und durch ihr Verständnis von objektiver Geschichtswissenschaft, die dem „Fortschritt im Sinne der demokratisch-liberalen Ideen“ verpflichtet sei.

1890 wurde Quidde aufgrund seines Ansehens, das er inzwischen unter Historikern genoss, die Leitung des Preußischen Historischen Instituts in Rom übertragen und vom Preußischen Kultusminister der Professoren-Titel verliehen. Seine Editionen und seine Zeitschrift führte er weiter, was einen enormen Arbeitsaufwand und häufiges, anstrengendes Reisen bedeutete. Aus diesen Gründen bat er schon 1892 um seine Entlassung als Institutsleiter; im gleichen Jahr wurde er zum außerordentlichen Mitglied der Historischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften gewählt. In der Folgezeit engagierte er sich neben seinen beiden wichtigsten Projekten auch bei der Vorbereitung und Durchführung des ersten deutschen Historikerkongresses und bei der Gründung des Deutschen Historikerverbandes. Er wandte sich in diesem Zusammenhang entschieden gegen die preußischen Bestrebungen, den Geschichtsunterricht stärker den Zielen des monarchischen Staates zu verpflichten und ihn zugleich als Waffe gegen die Ausbreitung sozialistischer Ideen zu benutzen. Auf dem Historikerkongress 1893 in München gelang es ihm, eine Schluss-Resolution durchzusetzen, die alle politischen Auflagen für den Geschichtsunterricht entschieden zurückwies.

Bei der Vorbereitung des Historikertages von 1894 in Leipzig engagierte Quidde sich wieder gegen die übliche devote Haltung der Wissenschaftler gegenüber Krone und Regierung. Er spottete über Huldigungsschreiben und Byzantinismus in den Kongress-Beiträgen und wandte sich vor allem gegen die unterwürfige Bismarck-Verehrung der historischen Zunft. Jedoch waren seine Möglichkeiten um 1894/95, als er noch einmal die Entwicklung der Historikertage zu beeinflussen versuchte, wegen der „CaligulaAffäre“ nur noch gering. Nahezu alle seine Fachkollegen behandelten ihn wie einen Aussätzigen, Quiddes viel versprechende Karriere als Historiker endete abrupt und endgültig. Was war geschehen?

Schon früher waren Quidde gelegentlich Parallelen zwischen dem vermutlich geisteskranken römischen Kaiser Caligula (12-41 n.Chr.) und Wilhelm II. aufgefallen. Näher befasste er sich damit, als er in Rom erfuhr, dass der deutsche Kaiser besonders vertrauten Personen ein Konterfei ihrer Majestät zu schenken beliebte, auf dem die Parole des Caligula „oderint dum metuant“ („Mögen sie mich hassen, solange sie mich nur fürchten“) zu lesen war. Quidde begann nun mit der Formulierung einer Polemik, die —wissenschaftlich abgesichert — nichts als den schizophrenen Charakter und die größenwahnsinnigen Untaten des Caligula darzustellen schien, für jedermann erkennbar aber auf den eitlen Byzantinismus Wilhelms II. und seiner Umgebung zielte. 1894 veröffentlichte er seinen kurzen Text unter dem Titel „Caligula — eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn“ in der Monatsschrift „Die Gesellschaft“ und gleichzeitig als Broschur. Binnen kurzer Zeit erlebte sie mehr als dreißig Auflagen. In den 1890er Jahren lasen mehr als eine Million Menschen die Satire, über die auch ausländische Zeitungen lebhaft berichteten.

Das Publikum rezipierte die Schrift nahezu ausschließlich als heftigen Angriff auf den Kaiser, während sie doch mindestens in gleichem Maße eine fundamentale Kritik am Geist (oder Ungeist) der deutschen Gesellschaft, vor allem der oberen Schichten, darstellte. Der „Cäsarenwahnsinn“ kommt nicht von ungefähr, denn: „Der spezifische Cäsarenwahnsinn ist das Produkt von Zuständen, die nur gedeihen können bei der moralischen Degeneration monarchisch gesinnter Völker oder doch der höher stehenden Klassen, aus denen sich die nähere Umgebung der Herrscher zusammensetzt. […]

Kommt dann noch hinzu, daß nicht nur die höfische Umgebung, sondern auch die Masse des Volkes korrumpiert ist […]: so ist es ja wirklich zu verwundern, wenn ein so absoluter Monarch bei gesunden Sinnen bleibt.“ Die Quiddesche Untersuchung diagnostizierte einen ernsten Krankheitszustand der deutschen Gesellschaft aufgrund von Untertanen-Gesinnung und mangelnder Zivilcourage. Das dynastische System, so könnte man Quiddes Botschaft zusammenfassen, wird den Forderungen der Zeit und dem Anspruch der Menschen, sich die angemessene Staatsform für die Organisation ihrer Interessen selbst zu schaffen, nicht mehr gerecht; deshalb muss es verändert werden, nicht mit revolutionären Mitteln, wohl aber durch das politische Engagement all jener Bürger, denen es um die Verwirklichung von Recht und Freiheit geht.

Quidde hatte mit diesen Feststellungen den Nerv der Zeit getroffen. Seine Schrift führte zu einer Welle vaterländischer Empörung vor allem bei den Berufskollegen. Man verstieß und ächtete ihn. Die Edition der Reichstagsakten wurde ihm vorübergehend entzogen, seine Zeitschrift gab der Verlag etappenweise in andere Hände, sie wurde 1898 in „Historische Vierteljahresschrift“ umbenannt, der Name Quidde aus dem Impressum getilgt. Friedrich Meinecke schrieb von einem „Machwerk“, das der „Caligula“ darstelle, der „Ehrenname des Gelehrten“ sei Quidde deshalb abzusprechen.

Auch die Justiz interessierte sich für den Fall Quidde. Der Staatsanwalt ermittelte gegen den frechen Nestbeschmutzer; da aber im „Caligula“ nicht ein einziges Mal von Wilhelm II. die Rede war, konnte man seinem Autor juristisch nichts anhaben. Erst zwei Jahre später kam es aufgrund eines geringfügigeren Anlasses zur Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung. Quidde musste für drei Monate ins Gefängnis Stadelheim. Am 10. Oktober 1896, dem Tag seiner Entlassung, reiste Quidde nach Ulm, um dort eine Parteitagsrede mit den Worten zu beginnen: „Ich komme, wie Sie wissen, aus dem Gefängnis, wegen einer Majestätsbeleidigung, die ich nicht begangen habe. Das schmerzt mich, wenn ich daran denke, eine wie schöne Majestätsbeleidigung man für drei Monate Gefängnis schon hätte verüben können.“

Als Historiker ist Quidde fortan nicht mehr hervorgetreten, was freilich nicht bedeutet, dass er seine Arbeiten zur Geschichte ganz und gar einstellte. 1923 hielt er Vorlesungen zur deutschen Verfassungsgeschichte in der von Friedrich Naumann gegründeten und von Ernst Jäckh geleiteten „Deutschen Hochschule für Politik“ in Berlin; 1930 veröffentlichte er eine Vortragsreihe, die er für die Carnegie-Stiftung in Paris bei der Akademie für internationales Recht gehalten hatte: „Histoire de la paix publique en Allemagne au moyen-age“.

Der Politiker

Da ihm das wissenschaftliche Betätigungsfeld nach der Caligula-Krise verschlossen war, galt Quiddes Arbeit fortan der Politik. Schon als Student hatte er sich politisch engagiert. Sein Straßburger Lehrer Hermann Baumgarten war ein wichtiger Vordenker der Nationalliberalen; in Göttingen wurde Quidde aktiv gegen den an der Universität grassierenden Antisemitismus. Heinrich von Treitschke hatte 1880 die so genannte Antisemitenpetition der Professoren initiiert, die den insbesondere im Finanzwesen stark engagierten Juden einen gewichtigen Teil der Schuld an der Wirtschaftskrise der 1870er Jahre zuschreiben wollte. Dieser Petition sollte eine studentische Unterschriftenliste angefügt werden. Quidde stellte sich nachdrücklich gegen die antisemitischen Bestrebungen. Er organisierte eine Protestversammlung und verfasste eine Kampfschrift mit dem Titel „Die Antisemitenagitation und die deutsche Studentenschaft“. Sie erschien 1881 in zwei Auflagen und bezichtigte die Antisemiten, von den wahren Gründen der Krise, nämlich den allgemeinen gesellschaftlichen und ökonomischen Problemen des feudalen Systems, ablenken zu wollen. Quiddes Engagement erregte Aufsehen und blieb nicht folgenlos, national und antisemitisch gesinnte Studenten machten publizistisch Front gegen ihn, sogar einer Duellforderung musste er sich stellen. Der Zweikampf endete glücklicherweise unblutig.

In den nächsten Jahren widmete Quidde sich ausschließlich seinen wissenschaftlichen Interessen; erst 1893 schloss er sich der „Deutschen Volkspartei“ an, einer Vereinigung süddeutscher Demokraten, die strikt republikanisch und antipreußisch orientiert war. Im gleichen Jahr erschien anonym seine Analyse des „Militarismus im heutigen Deutschen Reich“, in der Quidde schonungslos eines der Grundübel im Staate anprangerte: den militärischen Untertanen-Geist, der alle Bereiche des öffentlichen, ja, des privaten Lebens infiziert habe. Er nannte seinen Text eine „Anklageschrift“, Reinhard Rürup bezeichnete ihn als „eine der glänzendsten zeitgenössischen Analysen des Militarismus, bestechend in der Argumentation, scharf und zupackend in der Form — eine Analyse, wie sie von einem deutschen Historiker dieser Jahre kaum zu erwarten war.“ Quidde sah im Militarismus den größten Widersacher individueller Freiheit und den „Gegner aller Stände, die ihre Selbständigkeit behaupten wollen, […] Gegner der bürgerlichen Gesellschaft“; er bezeichnete ihn als eine „kulturfeindliche Macht“. Er befördere einen blinden Nationalismus und werde so zum Hemmnis für internationale Verständigung und Zusammenarbeit. Mit der Kritik am Militarismus hatte Quidde sein zentrales Thema gefunden. Zwar trat es zunächst noch hinter tagesaktuelle Erfordernisse der regionalen politischen Arbeit zurück, später aber, im Zuge des immer umfangreicher werdenden Engagements für den Pazifismus, rückte es mehr und mehr in den Vordergrund.

Nach seinem Beitritt zur „Deutschen Volkspartei“ gründete Quidde im Jahre 1894 eine eigene demokratische Tageszeitung für Oberbayern, die Münchener Freie Presse, die unter seiner Herausgeberschaft bis 1900 erschien. Er nutzte sie als Plattform für die Verbreitung seiner politischen Ansichten, sei es zur Agitation gegen die um sich greifende Bismarck-Verehrung oder die Todesstrafe; immer aber ging es ihm um den Kampf für eine demokratische politische Kultur. Drei Tage nach dem Tod Bismarcks am 30. Juli 1898 schrieb Quidde: An seiner Politik hafte „ein moralischer Niedergang unseres Volkstums, eine Verwüstung unseres öffentlichen Lebens, eine Erziehung zur Knechtseligkeit und zur Anbetung der hohlen Götzen von äußerer Macht, Gewalt und Erfolg. Ohne innere Fühlung mit wahrhaft idealen Bestrebungen, kulturfeindlich in seinem innersten Wesen, hat dieser Mann uns wohl politische Macht verschaffen können, aber unserer Kulturentwicklung schaden müssen.“

Quidde betätigte sich bald über München hinaus für die Ziele der „Deutschen Volkspartei“ und war wesentlich beteiligt sowohl an der Gründung eines eigenen Landesverbandes als auch an der Formulierung eines politischen Programms. 1896 wurde Quidde zum Landesvorsitzenden der Partei gewählt. Das Programm der bayerischen „Deutschen Volkspartei“ von 1895 trug seine Handschrift. Es handelte sich um ein demokratisches, föderales, den sozialen und internationalen Ausgleich forderndes, nationalstaatliches Manifest. Damit ebneten die Deutschen Demokraten in der Konsequenz den Weg für die Zusammenarbeit mit linksliberalen und sozialistischen Partnern zum Zwecke der Verwirklichung demokratischer Strukturen in Deutschland und Europa. Folgerichtig hat Quidde bis zum Ende der Weimarer Republik die Auffassung vertreten, dass eine wirkliche Demokratisierung von Staat und Gesellschaft nur gemeinsam mit den demokratischen Sozialisten zu erreichen sei. Diese Position war im Kreis der liberalen, freisinnigen und demokratischen Parteien durchaus umstritten, was bis zum Beginn der dreißiger Jahre in Deutschland zu immer neuen Auseinandersetzungen und Abspaltungen führte.

Vorerst gelang es Quidde nicht, sich für seine inhaltlichen Ziele auch als Volksvertreter zu engagieren. Die Bewerbung um eine Landtagskandidatur 1899 scheiterte, 1903 lehnte er ein Angebot Conrad Haußmanns ab, statt seiner in Württemberg für den Reichstag zu kandidieren. Erst 1907 wurde er in den Bayerischen Landtag gewählt, dem er bis 1918 angehörte. Von 1902 bis 1911 wirkte er als Mitglied des Münchener Gemeindekollegiums in der Kommunalpolitik.

Während des Krieges stand Quidde stets auf der Seite derjenigen, die einen Verständigungsfrieden anstrebten, fand mit seiner Position aber erst Gehör, als die Kapitulation nicht mehr zu vermeiden war. 1918 war er zunächst Vizepräsident des Provisorischen Nationalrates in Bayern und wurde dann für die neu gegründete „Deutsche Demokratische Partei“ (DDP) in die Verfassunggebende Nationalversammlung der Weimarer Republik gewählt. Mit seinen linksliberalen Forderungen gehörte er freilich meist zur Minderheit; so konnte er sich zum Beispiel mit seinem Plädoyer gegen die Todesstrafe nicht durchsetzen. Auch innerhalb der Partei fand er keine Mehrheiten für viele seiner pazifistischen und humanistischen Positionen; zwar hatte seine Stimme durchaus Gewicht, aber zu politischer Wirksamkeit gelangte er nur selten. So war es konsequent, dass er keine Berücksichtigung bei der Listenaufstellung für die Reichstagswahlen fand. Dennoch blieb er auch auf Reichsebene aktiv, obwohl man gelegentlich gar seinen Parteiausschluss betrieb.

Quidde verließ die Partei mit anderen prominenten Linksliberalen zusammen erst 1930, als sich die DDP in einer Art Verzweiflungsakt mit dem national gesinnten „Jungdeutschen Orden“ zur „Deutschen Staatspartei“ zusammenschloss, um den rapiden Stimmenschwund bei den letzten Wahlen zu stoppen. Freilich gelang dies ebenso wenig wie der neuen „Radikaldemokratischen Partei“, der Quidde sich angeschlossen hatte, Erfolg beschieden war. Nun rächte sich, dass der deutsche Liberalismus nach dem Krieg zu keiner einheitlichen Linie gefunden hatte, die liberalen Parteien wurden marginalisiert. Viele demokratische Politiker mussten sich der nationalsozialistischen Verfolgung durch Flucht ins Ausland entziehen; Ludwig Quidde ging im März 1933 ins Exil nach Genf.

Der Pazifist

Als 1892 in Berlin die „Deutsche Friedensgesellschaft“ gegründet wurde, war Ludwig Quidde daran noch völlig unbeteiligt. Doch schon im Jahr darauf konnte ihn Karl Mühling, der Schriftführer der Gesellschaft, für die Arbeit der Pazifisten gewinnen. Quiddes demokratischer Überzeugung war von Anfang an auch das Engagement für ein friedliches Zusammenleben der Menschen eigen. Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ führte er häufiger als die Leitschnur seiner pazifistischen Überzeugungen an. Insofern lag es nahe, dass er bald für die Friedensgesellschaft aktiv wurde und diese Aktivität mit seiner parteipolitischen Arbeit zu verknüpfen suchte. 1894 gründete Quidde in München eine Ortsgruppe der Friedensgesellschaft, die später in die „Münchner Friedensvereinigung“ überging; bis 1933 war er ihr Vorsitzender.

Quidde war keineswegs ein schwärmerischer Friedensfreund; im Gegenteil: ihm ging es um rationale Arbeit zur Verhinderung von Krieg und Gewalt. Wichtigstes Instrument hierzu war für ihn die Schaffung internationaler Institutionen wie eines Weltschiedsgerichtshofes und die Ausgestaltung eines internationalen Kriegsrechtes im Rahmen einer bindenden Verpflichtung aller Staaten auf das Völkerrecht. Daneben bedürfe es der effektiven Vermittlung zwischen den Staaten bei Interessenkonflikten, um kriegerischen Auseinandersetzungen vorzubeugen. Quidde trug die Anliegen der Pazifisten auf internationalen Kongressen und auf Regierungskonferenzen vor, die Vorschläge für Abrüstungsverträge und Strategien zur Friedenssicherung entwickeln sollten. Die Haager Konferenz von 1899, die ein Abkommen zur friedlichen Beilegung internationaler Streitigkeiten verabschiedete, war eine solche Zusammenkunft, von der Quidde sich nachhaltige Wirkungen für den Frieden erhoffte. Wir wissen heute, dass diese Hoffnung zunächst eine Illusion bleiben musste.

Indessen engagierte Quidde sich mehr und mehr in den pazifistischen Organisationen. Seit 1901 war er deutscher Vertreter im „Internationalen Friedensbüro“ in Bern, dessen Leitung er später übernahm. Auf den Weltfriedenskongressen führte er die deutsche Delegation an, und seit 1907 beteiligte er sich auch an der Arbeit der „Interparlamentarischen Union“, des Zusammenschlusses der pazifistischen Parlamentarier aller Länder. 1907 organisierte er in München den ersten pazifistischen Weltkongress auf deutschem Boden. Im Frühjahr 1914 wurde er dann, eher der Not als der Neigung gehorchend, zum Vorsitzenden der „Deutschen Friedensgesellschaft“ gewählt. Hervorzuheben ist aus seinen vielfältigen Arbeiten in dieser Zeit der „Entwurf zu einem internationalen Vertrag über Rüstungsstillstand“, den der Weltfriedenskongress und die 18. Interparlamentarische Konferenz 1913 in Den Haag berieten und der zu einem Vorbild für spätere Verträge wurde.

Während der Katastrophe des Ersten Weltkrieges kämpfte Quidde trotz aller Widerstände beharrlich für die Propagierung eines gerechten Friedens. Im Jahre 1915 trat er als Verfasser einer Denkschrift gegen die deutschen Kriegszielforderungen hervor. Sein hartnäckiger Einsatz gegen den Krieg und die Ziele eines Siegfriedens trug ihm 1918 die Ausweisung aus Berlin und den Entzug des Passes ein; seine Agitationsarbeit setzte er indes von München aus fort.

Nach dem Krieg gründete sich die Friedensbewegung in Deutschland praktisch neu. Neben der „Deutschen Friedensgesellschaft“ etablierten sich Organisationen mit ganz unterschiedlichem Hintergrund und unterschiedlichen Zielen. Einen besonderen Zuwachs erhielten die Pazifisten durch den Sinneswandel der Sozialisten, die sich bisher selbst als Friedensbewegung verstanden wissen wollten und spezielle Pazifisten-Organisationen deshalb ablehnten. Nunmehr aber arbeiteten sie in der Friedensbewegung mit, was allerdings zur Folge hatte, dass eine ideologische Gruppe entstand, die den Frieden durch die Errichtung sozialistischer oder kommunistischer Herrschaft herstellen wollte. 1921 gründete sich eine Dachorganisation aller Pazifisten-Verbände, das „Deutsche Friedenskartell“; Quidde wurde ihr Vorsitzender. Seine unermüdliche publizistische Arbeit gegen den wieder um sich greifenden militärischen Ungeist in Deutschland, speziell gegen die friedensvertragswidrigen Vorgänge um die so genannte „Schwarze Reichswehr“, führte 1924 zu seiner zweiten Inhaftierung in Stadelheim wegen des Verdachtes auf Landesverrat. Aufgrund internationaler Proteste ließ man ihn allerdings bald wieder frei.

Innerhalb der pazifistischen Bewegung war Ludwig Quidde so etwas wie der ruhende, ausgleichende Pol. Seiner Autorität und Integrität war es zu verdanken, dass bis zum Ende der 1920er Jahre ein Bruch der Friedensbewegung vermieden werden konnte. Vor allem seine Anstrengungen, die deutsch-französischen Beziehungen zu verbessern, wurden weltweit anerkannt. In den internationalen pazifistischen Organisationen, in denen er mitwirkte, bemühte Quidde sich gemeinsam mit Gesinnungsfreunden aus Frankreich um eine Aussöhnung beider Staaten und um eine Verständigung auf der Basis zeitgerechter Anpassung des Versailler Vertrages. Das führte 1927 zur Verleihung des Friedensnobelpreises an ihn und Ferdinand Buisson. Längst hatte Quidde eine solche Ehrung verdient, indessen veranlasste sie die politische Rechte in Deutschland, die jeglicher „Erfüllungs- und Revisionspolitik“ des Versailler Vertrages den Kampf angesagt hatte, zu einer verleumderischen Schmäh-Kampagne.

Quidde hatte in den letzten Jahren der Weimarer Republik nicht mehr die Kraft, die immer heftiger werdenden Konflikte innerhalb des Friedenskartells auszugleichen und sich gleichzeitig der politischen Angriffe von rechts zu erwehren. 1929 legte er den Vorsitz der Friedensgesellschaft nieder, sein Nachfolger als geschäftsführender Vorsitzender wurde einer seiner Widersacher aus der ideologischen Gruppe radikaler Pazifisten, Fritz Küster. 1930 trat Quidde gar zusammen mit Hellmut von Gerlach und vielen anderen aus. Zwar unternahm er 1932 noch einmal die Gründung eines „Deutschen Friedensbundes“, aber dieser Versuch war angesichts der politischen Verhältnisse von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Nach der „Machtergreifung“ Hitlers ging Quidde in die Emigration nach Genf. Er war praktisch mittellos, sein Vermögen durch die Weimarer Inflation entwertet; anfangs lebte er im wesentlichen von einer schmalen Rente, die ihm die Nobel-Stiftung aussetzte, später von Zuwendungen pazifistischer Freunde und kleineren publizistischen Arbeiten, aber auch von den Einkünften als Korrektor bei einer Druckerei und aus gelegentlichen Gartenarbeit. 1936 votierte er für die Verleihung des Friedennobelpreises an den inhaftierten Carl von Ossietzky, nicht ohne anzumerken, daß auch Fritz Küster den Preis verdient hätte. 1938, zu seinem achtzigsten Geburtstag, wurde in der von seinem langjährigen Mitstreiter Hans Wehberg herausgegebenen „Friedenswarte“ eine Reihe von Würdigungen seiner Person und seines Engagements aus der Feder internationaler Persönlichkeiten veröffentlicht. Quidde arbeitete zu der Zeit an einer Darstellung über den Pazifismus im Ersten Weltkrieg, die erst 1979 aus dem Nachlaß herausgegeben werden konnte. Am 5. März 1941 starb Ludwig Quidde in Genf.

Karl Holl, der Herausgeber von Quiddes Geschichte des Pazifismus im Ersten Weltkrieg, kennzeichnet den Friedensnobelpreisträger wie folgt: „Ludwig Quidde ist von einem bestimmten Punkt seines Lebens an Außenseiter gewesen, er hat sich vorgezeichneten Bahnen wenig angepasst, festen Kategorien politischer und sozialer Art kaum eingefügt, so daß für keine politische Gruppierung Anlass bestand, ihn ganz für sich zu reklamieren, so daß auch keine Quidde-Legende, sei es im positiven, sei es im negativen Sinne, entstehen konnte, die seine emotionale Vereinnahmung gesichert hätte.“ Auch sein ausgesprochen rationales und pragmatisches Engagement, die Ablehnung jeglichen Extremismus und jeglicher ideologischen Dogmatik, die Distanz zu aller Schwärmerei oder Schwarzmalerei, lassen ihn als Kult-Figur oder als politisches Idol ungeeignet erscheinen. Andererseits ist kaum jemand sonst zu seiner Zeit konsequenter und glaubwürdiger für Demokratie, Recht und Humanität eingetreten. Mag ihm das Charisma des populären Politikers gefehlt haben, an Grundsatztreue und an Mut, für seine Ideale zu kämpfen, fehlte es ihm nicht. Was er in einem simplen Satz über den Pazifismus sagte, kann als Motto für sein ganzes Leben gelten: „Der Pazifismus will eine neue Welt aufbauen, erfüllt von der Idee des Rechtes, getragen von den solidarischen Interessen der Menschheit.“

Heute gibt es erfreulicherweise wieder Bestrebungen, auf das Wirken Quiddes aufmerksam zu machen. In Nordrhein-Westfalen bietet das „Ludwig-Quidde-Forum“ politische Veranstaltungen an. Anfang 2002 wurde in Bremen von einem Nachfahren Quiddes die gemeinnützige „Ludwig-Quidde-Stiftung“ gegründet, die mithilfe eines „Ludwig-Quidde-Preises“ das Gedächtnis an den Nobelpreisträger wach halten will. Auch seine „Caligula“-Schrift ist neuerdings in der Edition Temmen wieder greifbar.

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