Publikationen / vorgänge / vorgänge 159

Der stete Wandel der Grund­rechte: Über zwei neue Kommentare zum Grundgesetz

vorgängevorgänge 15901/2002Seite 138-141

„Man scheint heute allgemein zu verstehen, dass, jedenfalls wenn es sich um die Verfassung handelt, Politik und Recht nicht scharf getrennte Bereiche sind, es nicht sein können und es nicht einmal sein sollen.“ — Mit diesen Worten charakterisierte Gerhard Casper anlässlich des Staatsakts zum fünfzigjährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts das Spannungsfeld zwischen Justiz und Politik (Casper 2002: 214f.). Dabei sind weder das Recht noch die Politik starre Systeme, die keinerlei Veränderungen unterliegen. Die Auffassungen davon, wie die Grundrechte auszulegen sind, wer welche Kompetenzen hat und wie bestimmte Konflikte zu lösen sind, ändern sich im Verlauf der Gesellschafts- und Rechtsentwicklung. Dieter Grimm hat das exemplarisch dargelegt: Im Grundgesetz gebe es zwar keine sozialen Grundrechte, in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik habe sich aber die Auffassung durchgesetzt, dass die Verwirklichung zahlreicher Freiheitsrechte materielle Voraussetzungen hat und dass die grundrechtliche Freiheit nicht nur vom Staat, sondern auch von Dritten oder gesellschaftlichen Mächten bedroht sei. Deswegen habe das Bundesverfassungsgericht dem Staat, abgeleitet aus den klassischen Freiheitsrechten, soziale Verpflichtungen auferlegt: sich um die materiellen Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs zu kümmern, die grundrechtlich garantierte Freiheit auch gegenüber Bedrohungen von dritter Seite zu schützen (vgl. Grimm 2001: 279).

Angesichts dieser Dynamik in der Rechtssprechung, der kontinuierlichen Fortentwicklung der Grundrechte, wundert es daher nicht, dass in den letzten Jahren neue, oft mehrbändige Kommentare zum Grundgesetz erschienen sind oder neu aufgelegt wurden. Die jüngste Publikation ist

Karl Heinz Friauf/Wolfram Höfling (Hgg.): Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Berlin: Erich Schmidt; Loseblatt-Ausgabe Grundwerk 2000, 98 Euro, 2. Lief. 2001/ 3. u. 4. Lief. 2002, Seitenpreis ca. 0,19 Euro, ISBN 3503-05911-3

Das Werk befindet sich im Aufbau und wird, wenn es vollständig ist, mehrere Bände umfassen. Die einzelnen Erläuterungen folgen einem einheitlichen Gliederungsschema: Zunächst werden die Entwicklungslinien der Verfassungsbestimmungen einschließlich der Dogmen- und entstehungsgeschichtlichen Aspekte skizziert. Im Anschluss werden die gemeinschaftsrechtlichen, international-rechtlichen und rechtsvergleichenden Bezüge dargestellt. Darauf erfolgt die eigentliche Kommentierung der Bestimmungen des Grundgesetzes, wobei vor allem die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ausführlich gewürdigt werden. Eine zusammenfassende Bewertung der Verfassungsbestimmungen und ihrer Auswirkungen auf das einfache Recht sowie eine Liste von Leitentscheidungen beenden die jeweilige Kommentierung. Das ist ein Gliederungsprinzip, das sich in jüngerer Zeit durchgesetzt hat und sinnvoll ist. Wünschenswert wäre, wenn die Redaktion für eine striktere Einhaltung der einheitlichen Kriterien und eine kleinteiligere Gliederung sorgen würde. So sind die jeder Verfassungsnorm vorangestellten Literaturverzeichnisse, die rein alphabetisch gegliedert sind, äußerst unübersichtlich. Auch die Listen der Leitentscheidungen sind unterschiedlich strukturiert.

Wichtiger als diese Äußerlichkeiten ist natürlich der Inhalt des Kommentars. In der Vorbemerkung vor Art. 1 GG unterscheidet Christoph Enders, wie schon in seiner Habilitationsschrift, zwei Grundrechtstheorien (ohne zu verschweigen, dass andere Autoren mehrere zählen): die „liberale (bürgerlich-rechtsstaatliche) Grundrechtstheorie“, welche die Grundrechte vor allem als Abwehrrechte gegen den Staat sieht und eine „materiale Grundrechtstheorie“, der der Verfasser den Vorzug gibt, weil man sie allein „als Wert-, Prinzipien- oder Zwecktheorie bezeichnen“ könne. Dem muss man nicht zustimmen, kann es aber durchaus so hinnehmen.

Besonderes Interesse erweckt natürlich die Kommentierung des Art. 2 Abs. 1 GG durch den Mitherausgeber Wolfram Höfling. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm hat — worauf Höfling hinweist — in einem Sondervotum (BVerfGE 80, 137, 164 ff.) darauf hingewiesen, Art. 2 Abs. 1 GG schütze nicht die Freiheit des Einzelnen, zu tun und zu lassen, was er will, sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Wer sich darauf berufen wolle, müsse eine gesteigerte, dem Schutz der übrigen Grundrechte vergleichbare Relevanz für die Persönlichkeitsentfaltung darlegen. Höfling zeigt jedoch, dass das Bundesverfassungsgericht selbst einer extensiven Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG Vorschub geleistet hat, obwohl der grammatikalische Interpretationsaspekt eher für eine restriktive Auslegung des Schutzbereiches spreche. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gelte als eines der „unbenannten“ Freiheitsrechte, im Gegensatz zu den speziellen („benannten“). Zutreffend weist Höfling darauf hin, dass das Grundrecht auch die Privatautonomie und die Vertragsfreiheit schützt.

Von herausragender Bedeutung ist auch die Kommentierung zu Art. 6 GG (Schutz der Ehe und Familie). Der Bearbeiter Martin Burgi erweist sich leider als äußerst konservativer Kommentator, der sich strikt an den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts orientiert, obwohl diese zum Teil in das Jahr 1957 zurückreichen und lediglich Einzelfall-Entscheidungen sind, die bestimmte Aspekte des Ehe- und Familienschutzes betreffen. So hält Burgi daran fest, dass der Begriff der Familie durch die „umfassende Gemeinschaft von Eltern und Kindern“ geprägt wird und keinesfalls auf andere Formen des Zusammenlebens ausgedehnt werden könne, wenngleich er einräumt, dass nach heute herrschender Auffassung — auch auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts —auch diejenigen Lebensgemeinschaften in den Familienbegriff einzubeziehen sind, die nicht durch eine Ehe verbunden sind. Nichtehelichen Lebensgemeinschaften, in denen Kinder von nur einem der Partner leben, will er jedoch den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG versagen. Das ist lebensfremd und entspricht nicht heutiger Auffassung. Auch kinderlose Ehen würden damit ohne weiteres aus dem Familienbegriff ausgegrenzt werden. Burgi diskutiert auch ausdrücklich die Möglichkeit einer Veränderung des Verfassungsinhalts im Falle wichtiger gesellschaftlicher und zivilrechtlicher Entwicklungen („Verfassungswandel“, RdNr. 15), verneint jedoch deren Vorliegen für Art. 6 GG.

Das Grundrecht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG) enthält eine zu Unrecht oft wenig beachtete Freiheitsgarantie. Umso verdienstvoller ist es, dass Jan Ziekow ihm eine ausführliche Erläuterung widmet. Sie ist als „Deutschen-Grundrecht“ ausgestaltet, hat aber kraft Gemeinschaftsrecht der EG erheblich größere Bedeutung. Ziekow erläutert daher auch die gemeinschaftsrechtlichen und internationalen Bezüge der Freizügigkeit.

Jan-R. Sieckmann erläutert umfangreich Art. 14 GG (Garantie des Eigentums und Erbrechts), wobei wie in fast allen Kommentaren zum GG — der Garantie des Erbrechts nur minimaler Raum eingeräumt wird. Übereinstimmung besteht im Wesentlichen nur darüber, dass damit die Testierfreiheit des Menschen garantiert ist, doch ist „verfassungsrechtlich nicht geklärt [._], inwieweit Prinzipien des Verwandtenerbrechts in der Erbrechtsgarantie enthalten sind“ (BVerfGE 67, 329, 341). Es ist keineswegs nur theoretisch von Interesse, ob das Grundgesetz das gesetzliche Verwandtenerbrecht garantiert und in welchen Grenzen sowie andererseits, ob die böswillige Aushöhlung des Erbrechts nächster Angehöriger durch den Erblasser verfassungsrechtlich zu beanstanden ist.

Von besonderer Aktualität sind die Kommentierungen des Art. 21 GG (politische Parteien) und des Art. 38 GG (Wahlen zum Bundestag, Rechtsstellung der Abgeordneten). Uwe Volkmann weist darauf hin, dass nach Art. 21 Abs. 1 Satz 4 GG die politischen Parteien über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel (nicht nur von Spenden) sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben müssen, das Transparenzgebot der Parteienfinanzierung folglich umfassend ist (RdNr. 78), wozu auch der Nachweis der Verwendung öffentlicher Mittel der Kontrolle unterliegt. Volkmann weist auch zutreffend darauf hin, dass die Transparenzpflicht hinsichtlich der finanziellen „Mittel“ wesentlich im Zusammenhang mit dem innerparteilichen Demokratiegebot steht und daher zwingend durchgesetzt werden müsse. Wolfgang Schreiber sieht in seiner Kommentierung des Art. 38 GG in die ser Norm (neben Art. 20 Abs. 2) eine weitere Verankerung der Volkssouveränität, die von der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützt werde.

Der Band schließt mit der Kommentierung zu Art. 83 bis 85 GG (bundesstaatliche Kompetenzverteilung im Bereich der vollziehenden Gewalt) sowie des Art. 101 GG, der vor allem wegen des Verbots der Entziehung des gesetzlichen Richters von besonderem Interesse ist. Insgesamt ist der neue Berliner Kommentar zum Grundgesetz eine Bereicherung der verfassungsrechtlichen Literatur, zumal jeder neu begonnene Kommentar die Chance nutzen kann, nicht nur ursprüngliche Texte fortzuschreiben, sondern auch die verfassungsrechtlichen Probleme neu zu strukturieren und das Grundgesetz an neuen aktuellen Problemen zu messen. Der Kommentar ist für jeden, der sich intensiv mit Verfassungsrecht beschäftigt, unentbehrlich.

Eine Darstellung unserer Verfassung ganz anderer Art bietet der folgende Band:

Rudolf Weber-Fas: Der Verfassungsstaat des Grundgesetzes. Entstehung — Prinzipien — Gestalt, Tübingen: Mohr Siebeck 2002, 298 S., ISBN 3-16-147758, 49 Euro

Der Verfasser, Bundesrichter a.D. und Ordinarius für Öffentliches Recht und Staatslehre an der Universität Mannheim, ist wiederholt mit verfassungsrechtlichen Veröffentlichungen hervorgetreten. Er versteht sich darauf, schwierige Probleme auch für den Nichtjuristen verständlich darzustellen. Das Problem der Grundrechtstheorien behandelt er auf S. 73 ff. unter der Überschrift „Grundrechte als subjektive Ansprüche und objektive Prinzipien“. Weber-Fas legt hier dar, was unter „Drittwirkung von Grundrechten“ zu verstehen ist und dass und warum sie im privatrechtlichen Verkehr nicht unmittelbar eingreift. In zwei Kapiteln erläutert er den Inhalt des geltenden Grundrechtssystems und einzelner Grundrechte, in einem weiteren Kapitel die Rechtsstellung und Aufgaben oberster Staatsorgane: des Bundespräsidenten, des Bundestags, des Bundesrats, der Bundesregierung, des Bundesverfassungsgerichts und der Obersten Bundesgerichte.

Es handelt sich um eine Darstellung des geltenden Rechts; die Diskussion von Streitfragen oder gar eine Stellungnahme hierzu sieht der Editionsplan nicht vor. Gleichwohl kann das Buch allen Interessierten wärmstens empfohlen werden. Die klare Diktion des Verfassers wird ihn die Lösung manches verfas sungsrechtlichen Problems finden lassen, die ihm eine wesentlich umfangreichere Abhandlung versagt.

Literatur

Casper, Gerhard 2002: Die Karlsruher Republik; in: Zeitschrift für Rechtspolitik, S. 214-215

Grimm, Dieter 2001: Die Verfassung und die Politik. Einsprüche in Störfällen, München

nach oben