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Nachruf:Ro­se­marie Reichwein t

Für Menschen, die im ihrem Leben Großes vollbracht haben, werden mitunter merkwürdige Zuschreibungen gewählt. Man nennt sie dann „elder statesman“ oder „große alte Dame“. Selten ist das wirklich passend; oft wirkt es wie eine leere Begriffshülle, die man den Personen überstreift. Rosemarie Reichwein dagegen kann man mit Fug und Recht als eine der bedeutenden Frauen des deutschen Widerstands und als eine der wichtigsten Berlinerinnen der Nachkriegszeit bezeichnen.

1904 in Berlin als Rosemarie Pallat geboren, heiratete sie — nach einer Ausbildung zur Krankengymnastin und Berufstätigkeit unter anderem in Salem bei Kurt Hahn — den Sozialdemokraten und Pädagogen Adolf Reichwein. Die Eheleute wurden nach 1933 zu engagierten Gegnern des Nationalsozialismus. Reichwein verlor seine Professur und ging ins selbstgewählte innere Exil nach Tiefensee in der Mark Brandenburg, wo er als Dorfschullehrer arbeitete. Mit Beginn des Krieges 1939 entschlossen sich die Reichweins zum aktiven Widerstand gegen Hitler. Sie stießen zum Kreisauer Kreis, einer Widerstandsgruppe um Helmuth James von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg, die sich auf dem schlesischen Gut Moltkes in dem Dorf Kreisau traf.

Im Juli 1944, noch vor dem Attentat auf Hitler, wurde Adolf Reichwein in Berlin verhaftet, vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und im Oktober des selben Jahres hingerichtet. Zurück blieb seine Frau mit ihren vier Kindern.

Nach dem Krieg begann das zweite Leben der Rosemarie Reichwein. Sie wurde die deutsche Pionierin der Bobath-Methode, eines in England entwickelten Heilverfahrens für Spastiker, und praktizierte bis ins hohe Alter. Heute tragen nicht nur Schulen in Deutschland den Namen von Adolf Reichwein, sondern auch Gesundheitseinrichtungen den von Rosemarie.

Vor zwei Dingen hatte Romai, wie ihre Freunde sie nannten, in ihrem Leben Angst: Sie wollte kein erstarrtes Denkmal ihrer selbst werden und anderen Menschen nicht zur Last zu fallen. Beides ist ihr erspart geblieben. Bis ins hohe Alter wehrte sie sich erfolgreich gegen die politische Instrumentalisierung des deutschen Widerstands (vgl. vorgänge 153: 144). Und bis zuletzt lebte sie alleine auf jenem stillen Grundstück in einer Wannseer Seitenstraße, auf dem sie schon ihre Kindheit verbracht hatte.

Am Montag, dem 5. August 2002, ist Rosemarie Reichwein, bis zuletzt umgeben von ihren Kindern, gestorben.

 

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