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Ein Jahr nach dem 11. September: Der Westen hat bei der Bekämpfung des Atten­tats­-Ter­ro­rismus einen verhäng­nis­vollen Weg gewählt

vorgängevorgänge 15909/2002Seite 82-90

Die verbrecherischen Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon in den USA haben keine ,Stunde Null‘, kein Umdenken bewirkt. Vielmehr haben sie auf bestehende innenpolitische, außenpolitische und internationale Strukturen eingewirkt und ohnehin ablaufende Entwicklungen beschleunigt. Der von Washington nach den Attentaten angekündigte lange Krieg gegen den Terrorismus knüpft nahtlos an das schon länger bestehende Feindbild der „Schurkenstaaten“ an. Nach diesem Muster begründete Kriege wurden bereits gegen den Irak und Serbien geführt. Die Länder der von Bush so etikettierten „Achse des Bösen“ standen schon lange vor dem 11. September 2001 auf der Liste der Gegner der USA.

Im Folgenden versuche ich, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Die in Frage stehenden Aspekte sind aber so komplex und vielfältig, dass ich selbst die wichtigsten Themen meist nur benennen kann.

Die Attentate vom 11. September waren eine öffentliche Kampfansage an die auf fast allen Feldern übermächtigen USA, deren wichtigste Symbole angegriffen wurden. Um ein alttestamentarisches Bild zu gebrauchen: David, der Hirtenjunge, wagte es, den Fluss zu überschreiten und den Kampf mit dem mächtigen und Furcht erregenden Goliath auf der Seite des Heeres der Philister aufzunehmen. Durch die Schleuder als neue Kriegstechnik (übertragen: Selbstmord-Attentate mit gekaperten Zivilflugzeugen) gelang David ein schwerer Schlag gegen das Heer der Philister. In den folgenden Kämpfen des Alten Testaments gab es jedoch keine Guten, die gegen Böse kämpften, sondern nur bessere und schlechtere Feldherren sowie massenhaft Tote.

Die ideolo­gi­sche Polari­sie­rung der Welt in Gute und Böse

Die Bösen sind die Terroristen und die Guten diejenigen, die an der Seite der USA den Terror bekämpfen. Diese Lesart war sofort nach den Attentaten dominant. Zu befürchten ist, dass sich erneut ein Weltbild durchsetzt, in dem es keine Differenzierungen, Widersprüchlichkeiten und auch keine Ursachenanalyse mehr gibt. US-Präsident Bush beschrieb diese Haltung in seiner Rede im Deutschen Bundestag sehr eindringlich: Die „neue Bedrohung“ sei totalitär. Mit dem Satz „Andere töteten im Namen rassischer Reinheit oder eines Klassenkampfes“ stellte er sie in eine Reihe mit der faschistischen Bedrohung der 1930er und 1940er Jahre. Auch verwies Bush auf den Angriff von Pearl Harbor, der zum Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg führte, und nannte die Berliner Blockade als Symbol für den Beginn des Ost-West-Konflikts. Nun sei der Terrorismus eine globale Bedrohung wie einst Hitler-Faschismus und Sowjet-Kommunismus: „Jene, die gegen die menschliche Freiheit sind […] werden sie auf jedem Kontinent angreifen.“ Und: „Es kann keine dauerhafte Sicherheit geben in einer Welt, die der Gnade des Terrorismus ausgeliefert ist.“ Auf dem Höhepunkt seiner Rede bemerkte Bush, dass die Zivilisation insgesamt bedroht sei. Gemeint war damit natürlich die westliche. Damit zeichnete der US-Präsident ein geradezu manichäisches Weltbild der Bösen und der Guten. „Die Terroristen sind durch ihren Hass definiert. Sie hassen Demokratien, Toleranz und die frefe Meinungsäußerung. Sie hassen Frauen, sie hassen Juden, sie hassen Christen und sie hassen Muslime, die sich gegen sie wenden.“ Terroristen haben in Bushs Lesart weder einen zivilisatorischen noch einen historischen Hintergrund. Sie sind schlicht ein Abbild des absolut Bösen. Dagegen skizziert Bush die Guten: „Wir bauen eine Welt der Gerechtigkeit“ und mit unseren „Freunden werden wir das Haus der Freiheit bauen — für unsere Zeiten und für alle Zeiten.“

Doch Bush gelangte auch zu handfesten politisch-strategischen Schlussfolgerungen. Gegen die Bedrohungen des Terrorismus benötige man mehr denn je die NATO, dieses „erfolgreichste Bündnis der Geschichte“. Sie brauche eine neue Strategie und alle Mittel der modernen Verteidigung. Auch außerhalb Europas müsse sie handlungsfähig sein. Dabei begründete der amerikanische Präsident seine Forderung nach der Militarisierung der internationalen Politik nicht mit dem Rechte-Katalog der Vereinten Nationen oder dem geltenden Völkerrecht, sondern mit dem angeblich existenziellen Kampf zwischen Gut und Böse, hinter dem alles andere zurück zu stehen habe.

„Inzwischen nimmt sich Washington explizit das Recht heraus, Staaten auch ohne eine vorausgegangene Aggression gegen die USA oder ein anderes Land anzugreifen, wie Anfang Juni bei einer Rede an der Militärakademie in West Point von Bush unterstrichen wurde: ,Unsere Sicherheit verlangt eine Transformation des Militärs […] — eines Militärs, das bereit sein muss in kürzester Zeit in jeder dunklen Ecke der Welt einsatzbereit zu sein. Und unsere Sicherheit wird von allen Amerikanern fordern, vorausschauend, resolut und nötigenfalls bereit zu sein, für unsere Freiheit und die Verteidigung unserer Leben präventive Aktionen durchzuführen.‘ Erstmals verkündet hiermit ein westlicher Staatspräsident offiziell militärische Präventivschläge gegen andere Länder.“ (Wagner 2002: 28f.) Das ideologische Stichwort für diese neue Doktrin der Offensive heißt „defensive Intervention“.

Jeglicher Terrorismus ist eine Heraus­for­de­rung

Terror begleitet die Geschichte der Menschheit, freilich in unterschiedlichen Formen. Nach dem etymologischen Wörterbuch von Kluge wurde das Wort im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt und bedeutet „Schrecken“ und „in Schrecken versetzen“. Es taucht in verschiedenen Verbindungen auf. So etwa als „Terrorangriffe“ (NS-Jargon) durch Luftkrieg gegen die Bevölkerung, als Terror von Besatzungsregimen (z.B. Geiselnahmen und Erschießungen), als Vertreibungsterror (Balkan-Kriege), in Gestalt terroristischer Regime oder als Staatsterror. Als Terrorismus ist auch die militärisch nicht-sanktionierte Anwendung von Gewalt im Guerilla-Krieg der Schwachen gegen die Starken gebrandmarkt worden. Jeder Krieg — heute kommen durchschnittlich neun tote Zivilisten auf einen toten Soldaten — ist im Sinne des Wortes systematischer Terror, also Terrorismus.

Terrorismus ist die gewaltträchtige Form der internationalen und transnationalen Konfliktaustragung bzw. der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung. Zu diesen gewaltträchtigen Formen gehört neben dem ‚konventionellen‘ Krieg, dem Krieg mit Massenvernichtungsmitteln und dem Guerilla-Krieg auch der Attentats-Terror. Die heutige Verwendung des Terrorismus-Begriffs blendet jedoch den Terror des ,normalen Krieges‘ aus. Sie dient der Diffamierung der Gewalttätigkeit der Schwachen („feige und aus dem Hinterhalt“) und der moralischen Legitimation und Überhöhung des Krieges der Starken zum ,gerechten Krieg‘. Der moderne Terrorismus-Begriff ist eine ideologische Kampfformel, welche vor allem dazu dient, die auf Terror-Akte folgenden Vergeltungsschläge zu rechtfertigen.

Bei dem Kampf gegen den Terror geht es jedoch entgegen allen spontanen Impulsen nicht um gewaltsame Vergeltung, sondern um die Überwindung von Gewalt als Form der Konfliktbearbeitung. Schon die historische Dimension von Terrorismus zeigt, dass man diesen nicht als das Böse schlechthin betrachten kann, sondern versuchen muss, die jeweilige historische Konstellation zu begreifen. Begriffe wie ,gerechter Krieg‘ und ,humanitäre Intervention‘ beziehen ihren legitimatorischen Charakter von der einseitigen Verwendung des Begriffs des Terrors als der Form der Gewalttätigkeit der Schwachen, die nicht über die hoch entwickelten technischen Mittel des militärischen Terrors verfügen. Paradoxerweise wird den Schwachen einerseits ihre Form der Gewaltanwendung (Attentate, Selbstmordstrategien) vorgeworfen, gleichzeitig werden sie kriminalisiert, weil sie sich angeblich in verbrecherischer Weise die Massenvernichtungsmittel beschaffen wollten, über die die starken Staaten bereits ausgiebig verfügen. ,Die Guten‘, so die Logik, dürfen also über alle Mittel des Terrorismus und des Massenmords verfügen, nicht aber ,die Bösen‘.

Diese krude Logik ist auf das Engste verbunden mit der einzigartigen Machtposition der USA, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts gegenwärtig als einzige Global-macht in der Lage ist, in allen Teilen der Welt militärisch zu intervenieren. Die damit verbundenen Vorstellungen von Omnipotenz führen nicht nur zu einer „Arroganz der Macht“, wie sie der US-amerikanische Senator Fulbright während des Vietnam-Krieges am Wirken sah, sondern auch zu einer Relativierung der Bedeutung von Kooperation mit anderen Staaten. Das Wort von der unilateralistischen Politik der USA hat hier seinen Ursprung. Die Bundesgenossen der USA in Europa und Fernost haben im Rahmen der bestehenden Bündnisse an Eigenständigkeit merklich verloren und erscheinen immer mehr als Vasallen-Staaten der USA. Dies hat freilich nicht nur etwas mit der militärischen Überlegenheit Amerikas zu tun, sondern auch mit einer Interessenskongruenz zwischen diesen Länder und den Vereinigten Staaten. Deutlich wird dies etwa im Hinblick auf die strategische Sicherung der globalen Öl- und Gasversorgung. Hier betreibt der Westen eine Form der Globalisierung, die wenig Rücksicht nimmt auf die armen Länder und die Interessen der Industrienationen in den Vordergrund stellt. Hinzu kommt, dass auch die Verbündeten, etwa im Rahmen der NATO, sich vorwiegend auf den militärischen Konfliktaustrag orientieren, wie die gegenwärtigen Aufrüstungspläne der EU und deren Wünsche, für eigene militärische Operationen die NATO-Infrastruktur mit nutzen zu dürfen, zeigen.

Deutschland ist mit Fuchs und Flotte dabei

Aus der Sicht der Friedensbewegung sind die USA also die Speerspitze eines auch mit terroristischen Mitteln geführten Krieges gegen den Attentats-Terrorismus. Die mit den USA verbündeten Industriestaaten zeigen jedoch keineswegs eine friedliche Alternative zu diesem Kurs auf, sondern bieten das Bild unkritischer Fellow traveller. Selbst die Vorbehalte gegen einen Angriff der USA auf den Irak zum Sturz des Saddam-Hussein-Regimes aus den Reihen der EU-Staaten sind mit großer Vorsicht zu bewerten. Stationierungen des Spürpanzers Fuchs in Nahost sowie deutscher Flotteneinheiten am Horn von Afrika zeigen die Bereitschaft einer rot-grünen Regierung, im Kriegsfall militärisch mit einzugreifen. Dies hat freilich weniger mit dem Wunsch der Bekämpfung des Attentats-Terrorismus zu tun, als mit der Fortsetzung der Kohlschen Außen- und Sicherheitspolitik. Diese zielte darauf ab, Deutschland über die ,Normalisierung‘ der Militärpolitik — also der Befreiung von allen grundgesetzlichen Fesseln — auch als militärische Großmacht zu positionieren. Ferner sollte das deutsche militärische Potenzial nun gleichberechtigt in die Hegemonialwaagschale der EU gelegt werden können. Steigende Rüstungsausgaben werden von Berlin letztlich von allen Bundestagsparteien — Ausnahme ist nur die PDS — akzeptiert. Insgesamt hat sich also die Militarisierung der Außen- und Sicherheitspolitik, die schon lange vor den Attentaten in den USA auszumachen war, nur beschleunigt und verstärkt.

Mit dieser Entwicklung korrespondiert, die geringe Bereitschaft der US-Politik, sich einer eingehenden Analyse der Ursachen für den Attentats-Terrorismus sowie seiner ökonomischen, psycho-sozialen, religiösen und ethischen Hintergründe zuzuwenden. Würde man dies tun, könnte man zivile Strategien der Überwindung dieser Ursachen entwickeln, die allerdings weitreichende Konsequenzen auch für die dominierenden Industrie-Staaten hätten. Die eigene Politik müsste nachhaltig in Frage gestellt werden. Das eingefahrene Schema des Kampfes von Gut und Böse macht aber die westliche Politik blind für solche Versuche und führt letztlich zu einem erheblichen Realitätsverlust. Eine höchst gefährliche Entwicklung, die immer wieder zu verstärkter Aufrüstung und militärischer Aktivität führen muss, da nach dieser Logik das Böse nur mit Gewalt bezwungen werden kann.

Ein solches militaristisches Konzept der Attentats-Bekämpfung ist vor dem Hintergrund der Netzwerk-Strukturen des modernen Terrorismus zu bewerten. Diese überspringen mühelos staatliche Grenzen, sind in der einen oder anderen Form in zahllosen Staaten vorhanden, können verschoben und im Fall von Einrissen neu verknüpft werden. Formen der herkömmlichen Kriegführung zwischen Staaten erscheinen ihnen gegenüber lächerlich anachronistisch. Gegen solche Netzwerke mit militärischen Aktivitäten vorzugehen, impliziert die Bereitschaft, ohne Rücksicht auf internationales Recht in Staaten einzugreifen oder sie massiv zu bedrohen, weil man ihnen eine Zusammenarbeit mit Attentats-Terroristen unterstellt. Dies öffnet Tür und Tor für eine ständige Interventionspolitik gegenüber Staaten, deren Politik den USA oder der EU nicht gefällt. Der Vorwand, es lägen geheimdienstliche Erkenntnisse über die Unterstützung oder Duldung von Terroristen vor, lässt sich vermutlich in fast jeder Situation konstruieren und öffentlichkeitswirksam erheben. Einschüchterung wird zum leitenden Prinzip auf der internationalen Bühne.

Von immens negativer Bedeutung ist die Instrumentalisierung der Parole vom Kampf gegen den Attentats-Terrorismus. Dadurch wird — etwa im Falle von Russlands Tschetschenien-Politik — massiver Staatsterrorismus gegen die eigene Bevölkerung oder eine innenpolitische Opposition nun plötzlich zum edlen Kampf gegen den Attentats-Terrorismus umgedeutet. Washington und unter anderen auch Berlin akzeptieren in brutalem Zynismus gegenüber den vorgeblich von ihnen so hoch gehaltenen Menschenrechten weitgehend diese neue Deutung. Ähnliches gilt für Ankaras Kampf gegen die Menschenrechte seiner eigenen kurdisch-stämmigen Bevölkerung. Hier werden auch beharrlich die Chancen einer friedlichen politischen Lösung des Konflikts ignoriert. So hat die EU die seit Jahren Frieden und Gewaltverzicht anbietende PKK auf die Liste der Terror-Organisationen gesetzt. Wie soll man angesichts solcher Maßnahmen die EU-Staaten als friedenspolitischen Faktor noch ernst nehmen?

Das inter­na­ti­o­nale Recht wird zur lästigen Fessel

Die militärisch machtvolle Position der USA und ihrer Bündnispartner will im Kampf zwischen Gut und Böse auch nicht mehr die lästigen Fesseln des internationalen Rechts akzeptieren. Auch diese Tendenz zeichnete sich allerdings schon lange vor den Attentaten in New York und Washington ab. Die ,neue NATO‘ reklamierte bereits im April 1999 das Recht für sich, selbständig und ohne Rücksicht auf Entscheidungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen militärisch „out of area“ zu handeln. Angewandt wurde diese Doktrin schon kurz nach ihrer Verabschiedung im Krieg gegen Jugoslawien. Auch die Bombardierungen des Iraks durch US-amerikanische und britische Flugzeuge ist durch Beschlüsse der Vereinten Nationen nicht gedeckt. Ob die gegenwärtige Kriegführung in

Afghanistan nicht gegen internationales Recht verstößt, ist zumindest umstritten. Der Staatsrechtler Norman Paech argumentiert, seit dem 20. Dezember 2001 habe der US-Krieg in Afghanistan keine völkerrechtliche Legitimation mehr, da durch den ISAF-Beschluss des UN-Sicherheitsrats das Recht auf Selbstverteidigung für die USA entfiele.

Die herrschende Politik nimmt offensichtlich eine Zerstörung des internationalen Rechts und eine Degradierung der damit verbundenen Organisationen bewusst in Kauf, um eigenen Ziele durchzusetzen. Ihre Blockade der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs ist dafür nur ein Beispiel. Es ist unschwer vorstellbar, wie diese Politik auf solche Staaten wirken muss, die glaubten, in den internationalen Organisationen wirkliche Kooperationen anbahnen zu können und durch internationales Recht wenigstens teilweise geschützt zu sein. Und wer sich rechtlich kein Gehör verschaffen kann, mag leichter zur Gewalt greifen. In diesem Sinne könnte die Missachtung internationalen Rechts durch die großen Industriestaaten zur Stärkung des Attentats-Terrorismus beitragen.

Während der Friedensbewegung der 1980er Jahre lautete ein verbreiteter Slogan: „Barbaren werden wir durch barbarische Mittel.“ Diese Grundaussage gilt auch noch heute, und zwar gleich in sechsfacher Hinsicht:

1.Die Zerstörung internationalen Rechts und die generelle Bereitschaft zur militärischen Gewaltanwendung gegen Attentats-Netzwerke führt in den so genannten westlichen Demokratien auch innenpolitisch zu erheblichen Einschränkungen der Bürgerrechte. Die Innenminister nutzten die Situation und holten Projekte aus ihren Schubladen, die sie immer schon verwirklichen, aber nicht durchsetzen konnten — bis ihnen die Gunst der Stunde half.

2.Friedenspolitisch bedeutsam ist, dass es in den USA — anders als während des Vietnam-Krieges — keine relevante öffentliche Debatte über die US-Politik gibt. Die Gesellschaft scheint beinahe gleichgeschaltet, so dass von ihr keine Impulse für eine gewaltfreie Lösung der Konflikte zu erwarten sind. Auch in Deutschland hat sich —nimmt man die PDS aus — eine weitgehende Gleichschaltung der politischen Parteien ergeben. In der Bevölkerung selbst bestehen allerdings erhebliche Vorbehalte bezüglich des Einsatzes deutscher Truppen, die sich jedoch kaum in einer breiteren Mobilisierung ausdrücken.

3.Die Aufrüstung geht mit Riesenschritten voran und setzt sich über bisher bestehende rechtliche Schranken hinweg. Die Neuorientierung der US-Nuklearwaffenstrategie sieht eine drastische Erweiterung des Einsatzspektrums von Atomwaffen vor. Sie sollen künftig auch eingesetzt werden, wenn konventionelle Waffen nicht zur Zerstörung begrenzter Ziele ausreichen oder wenn „überraschende militärische Entwicklungen“ eintreten. Diese Ziele gehen über die traditionelle Funktion von Atomwaffen als Antwort auf Angriffe mit atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungsmitteln weit hinaus. Bedenklich erscheint vor allem die Entwicklung von Mini-Atomwaffen durch den militärisch-industriellen Komplex der USA. Das Wort „Mini-Nukes“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um Waffen mit großer Sprengkraft und starker Neutronenstrahlung handelt. Mit der neuen Atom-Strategie wird auch die im Zuge von Rüstungskontrollprozessen gegebene Zusage der offiziellen Atom-Mächte, keine Atomwaffen gegen Nicht-Nuklearmächte einzusetzen, hinfällig. Das internationale System der Rüstungskontrollpolitik, insbesondere der Vertrag über die Weiterverbreitung von Atomwaffen, ist auf das Höchste gefährdet.

4.Alle Staaten müssen sich fortan als potenzielles Ziel von Atomwaffen fühlen. Wer irgend kann, wird nun selbst atomar aufrüsten. Statt einer Friedensdividende nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist eine neue Aufrüstungsrunde zu erwarten. Sie ist bereits durch die enormen Erhöhungen des US-Militärbudgets nach dem 11. September eingeläutet.

5.Die Kündigung des ABM-Vertrages, der Aufbau eines Raketenschutzschildes und die nun de facto unbegrenzte Einsatzbereitschaft von Atomwaffen signalisieren, dass die einzige Globalmacht USA ihre Interessen vorwiegend mit militärischen Mitteln verfolgen wollen. Eine Militarisierung der internationalen Politik — noch weit über das bisher erreichte Maß — wird die Folge sein. Die Vereinten Nationen und die Alliierten werden zu Hilfskräften zur Beseitigung von Kriegsschäden.

6.Die riesigen Kosten für die Aufrüstung verschärfen weiter den Ressourcenmangel für die Bewältigung der drängenden Probleme im Bereich der Umwelt, der Sozialversorgung, der Bildung, der Entwicklungspolitik und der vorbeugenden, zivilen Konfliktbearbeitung, um Frieden zu sichern und Kriege und Gewalteskalationen zu vermeiden.

Afghanistan — eine Erfolgs­story?

Kritikern des Afghanistan-Krieges wird meist der Erfolg der Zerschlagung des Taliban Regimes in Afghanistan und die dadurch erreichte Befreiung der afghanischen Bevölkerung entgegen gehalten. In der Tat eröffnet der Sturz des repressiven Regimes den afghanischen Völkern die Chance auf eine bessere Gestaltung der Zukunft. Wie weit diese Realität wird, ist gegenwärtig schwer einzuschätzen, wurde doch der Sturz der Taliban vor allem durch den Einsatz der Nord-Allianz-Kräfte bewirkt, die sich zu einem großen Teil aus verbrecherischen und korrupten War Lords und ihrer Soldateska zusammen setzen. Ihre durch den Sieg errungene Machtstellung ist eine schwere Hypothek für die Zukunft Afghanistans. Und der Krieg selbst dürfte wohl mehr Probleme geschaffen als gelöst haben. Ein paar Bilder von unverschleierten Frauen in Kabul spiegeln keineswegs die Wirklichkeit im Lande wieder. Wohl zielten die politischen Hilfen vor allem der UN, aber auch die Deutschlands, in die richtige Richtung. Nur bleibt abzuwarten, ob sich aus den ersten Ansätzen eine dauerhafte Politik der Unterstützung von ökonomischen und demokratisierenden Aufbau-Prozessen entwickelt. Dies ist keineswegs selbstverständlich, wenn der Scheinwerfer der weltöffentlichen Aufmerksamkeit sich zu anderen Konfliktherden verschiebt. Schon hört man die ständige Klage des gerade neu gewählten Präsidenten Afghanistans, dass die zugesagten Mittel nur sehr schleppend ausgezahlt würden.

Die Methoden der Kriegführung und ihre Auswirkungen sind der Öffentlichkeit systematisch vorenthalten worden. Die berühmt-berüchtigten „Kollateralschäden“ dürften

auf jeden Fall erheblich sein. Gegenwärtig kursiert der nicht unbegründet erscheinende Verdacht, dass in Anwesenheit amerikanischer Militärs Folterungen und Massenerschießungen von gefangenen Taliban-Kämpfern stattfanden. In der Frankfurter Rundschau vom 10. Juni 2002 zitiert Karl Grobe einen Augenzeugen: „Wenn jemand da war, dann war er ein Feind. Uns wurde besonders aufgetragen, wenn da Frauen und Kinder waren, sollten wir sie töten.“ Die Aussage stammt nicht von einem Taliban oder von einem aus Tschetschenien heimgekehrten russischen Wehrpflichtigen. Er stammt von einem US-Soldaten und bezieht sich auf die ,Operation Anaconda` in Afghanistan. Anscheinend gelten die Menschenrechte in diesem Kriege nicht mehr für alle. Der Kriegsterror scheint dem Attentats-Terror in nichts nachstehen zu wollen. Doch der Zweck darf im Zeitalter des Kampfes um die Durchsetzung der Menschenrechte nicht die Mittel heiligen.

Das eigentliche Ziel der Bombardierung Afghanistans, die Zerstörung des Al-Qaida Netzwerks, ist nach den vorliegenden Informationen bislang nicht gelungen und es scheint keineswegs gewiss, dass es jemals mit militärischen Mitteln gelingen wird. Es ist auch nicht abzuschätzen, welche weiteren Destabilisierungen in der Region als Folge des Krieges gegen Afghanistan auftreten können. Die indisch-pakistanische Konfrontation ist als eine sehr ernste Warnung zu werten.

Der Attentats-Terrorismus von Al-Qaida zielt vor allem auf Resonanz in den islamisch-arabischen Ländern. Denn dort sind nach wie vor die Gefühle der Demütigung durch die westliche Politik von der Kolonialzeit bis zur Gegenwart wie auch die Erinnerung an die große arabische Kultur und die Bedeutung des Islam als Weltreligion präsent. Eine Strategie gegen den Attentats-Terrorismus hat dies zu berücksichtigen. Eine wichtige Ursache für die manchmal offen, manchmal klandestin positive Resonanz auf die Attentate in der arabischen Welt ist der israelisch-palästinensische Konflikt. Seine Lösung ist der Schlüssel zu einer solchen Strategie. Gerade die jüngste Rede des US-Präsidenten vom Juni dieses Jahres, in der er sich weitgehend auf die Seite der Israel-Politik Scharons stellte, zeigte jedoch keine wirkliche Bereitschaft der USA, zu einer friedenspolitischen Lösung zu gelangen. Nun wird in Israel eine Mauer gebaut, statt Versöhnungs- und Friedenspolitik zu betreiben.

Beim Golf-Krieg der USA gegen den Irak ging es angeblich um die Befreiung Kuwaits. Dies schien vielen in der Friedensbewegung unglaubwürdig. Sie protestierten schließlich unter der Parole: Kein Blut für Öl. Auch gegenwärtig ist zu fragen, welche anderen Ziele werden von den USA durch den Krieg in Afghanistan und durch eventuelle weitere Kriege verfolgt? Ein wichtiges Ziel wird bereits jetzt deutlich erkennbar, nämlich die Schaffung militärischer Stützpunkte in der zentralasiatischen Region, wie gegenwärtig Manas in Kirgisien. Schon im Kosovo-Krieg hatten die USA ein großes Interesse daran, bei Pristina einen modernen Luftwaffenstützpunkt von zentraler strategischer Bedeutung zu bauen. Die zentralasiatischen Staaten bergen erhebliche Öl- und Gasvorräte. Dort militärisch präsent zu sein und von dort aus auch ganz Asien militärisch kontrollieren und gegebenenfalls bedrohen zu können, ist sicherlich von erheblicher geostrategischer Bedeutung. Dem entsprechen auch die Interessen am Bau einer Pipeline durch Afghanistan, die vermutlich seinerzeit erheblich zur Machtergreifung durch die Taliban beigetragen haben, da die US- und andere Ölgesellschaften von diesen eine Absicherung einer solchen Pipeline erwarteten.

Die Zukunft: Aufrüstung, Kriege und die Verschär­fung aller Wider­sprüche

Bisher sind alle Probleme, die mit einer Überwindung des Attentats-Terrorismus in Zusammenhang stehen, völlig ungelöst. Vielmehr ist ein lang andauernder Krieg ohne geographische Begrenzung und mit präventiven Militärangriffen auf missliebige Staaten zu erwarten. An dessen Ende haben sich die bürgerlich-parlamentarischen Gesellschaften möglicherweise bis zur Unkenntlichkeit entdemokratisiert. Die Ressourcen für Problemlösungen werden in den militärischen Sektor umgeleitet und stehen so nicht zur Friedens-, Sozial- und Umweltentwicklung zur Verfügung. Zivile Konfliktbearbeitung bleibt auf der Strecke oder wird für den militärischen Konfliktaustrag instrumentalisiert.

Die Alternative zum militärisch-terroristischen Konfliktaustrag ist die friedliche, zivile Konfliktbearbeitung, möglichst verbunden mit einer präventiven Politik. Die Erkennung der jeweiligen Ursachen von Attentats-Terrorismus ist die Voraussetzung, um Gewalteskalation zu vermeiden und Strategien zu seiner Überwindung zu entwickeln. Es ist höchste Zeit, der weiteren Militarisierung der Weltpolitik eine zivile Alternative in der politischen Praxis entgegen zu setzen und mit ihrer Verwirklichung zu beginnen. Für die Friedensbewegung könnte die gemeinsame Orientierung lauten: „Krieg ist Terror — Für Frieden und globale Gerechtigkeit“. Damit wäre auch eine Öffnung der Friedensbewegung im Hinblick auf die Ursachen des Attentats-Terrorismus und zur Globalisierungsproblematik möglich.

Literatur

 

Wagner, Jürgen 2002: Multilateralismus ä la Bolton: Die Ausweitung der ,Achse des Bösen‘; in: ami 6, S. 28-29

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