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Die Amoralität unseres Staat-Kir­che-­Ver­hält­nisses

vorgängevorgänge 1611/1975Seite 103-05

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 103-05

Horst Herrmann: Ein unmoralisches Verhältnis. Bemerkungen eines Betroffenen zur Lage von Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, Patmos- Verlag Düsseldorf 1974, 160 Seiten, 18 DM.

Aus der Feder eines Teilhabers am Staat-Kirche-System der Bundesrepublik hat es wohl kaum je vorher eine offenere, schonungslosere Kritik (auch die persönliche Position nicht schonende) an diesem System gegeben als die in diesem Buch von Horst Herrmann geübte. Professor Herrmann nämlich ist Ordinarius für katholisches Kirchenrecht an der Universität Münster, und er ist, obwohl vom staatlichen Verständnis der Wissenschaftsfreiheit her eigentlich unangreifbar, als Mitglied einer theologischen Fakultät doch abhängig vom Wohlwollen seines zuständigen Ortsbischofs, die über einen Konkordatsartikel Einfluß auf die theologischen Lehrstühle nehmen, wozu die Republik, trotz Artikel 5 GG, ihnen Beihilfe leistet. Mit einem früheren Buch hatte Herrmann bereits Ärger mit der Kirchenobrigkeit: Bischof Tenhumberg verweigerte ihm die „kirchliche Druckerlaubnis” für ein Buch über „Ehe und Familie”, in dem er der .Amtskirche –oder wie Herrmann sie vorzüglich nennt: der „Altkirche” –vorzeigt, wie sehr sie in einer mittelalterlichen Theologie steckengeblieben sei. Das vorliegende Buch trägt, obwohl in einem katholischen Verlag erschienen, gar kein kirchliches Imprimatur mehr. Bleibt der Obrigkeit übrig, entweder gegen Herrmann (wie etwa gegen Hans Küng) zu intervenieren oder den bequemeren, heute immer üblicher gewordenen Weg des Totschweigens einzuschlagen.
Horst Herrmann in seinem Grundanliegen und seinem Stil eines Betroffenen vorzustellen erübrigt sich, weil in diesem Heft von ihm ein großer Aufsatz veröffentlicht ist, der seine Gründlichkeit, seine Wahrhaftigkeit, sein Bekennertum hinreichend kenntlich macht: kein Zweifel, daß er den Beruf des „Professors” in diesem ursprünglichen Sinne versteht. Hier kann es nur darum gehen, sein Buch unseren Lesern so angelegen zu machen, daß sie sich über den Aufsatz hinaus ermutigt fühlen, tiefer in die Materie einzudringen.
Das „unmoralische Verhältnis”: der Titel, den er dem Buch gegeben hat, wird von Herrmann in alle Teilbereiche des geltenden Kirche-Staat-Verhältnisses erforscht. Die eigentliche Brisanz liegt gerade darin, daß ein Kirchenrechts-Fachmann, ein rechtskundiger Theologe das „Verhältnis”, das doch eigentlich immer nur als staatsrechtliches, völkerrechtliches, verfassungsrechtliches behandelt und kritisiert wird, unter dem Aspekt der christlichen M o r a l untersucht, ohne dabei sein kirchenrechtliches Fachwissen zu vergessen. Herrmann sympathisiert dabei offen mit den Thesen der Jungdemokraten von 1973 und dem sogenannten Kirchenpapier der FDP über eine „freie Kirche in einem freien Staat”, nicht weil er dort parteipolitisch engagiert wäre, sondern weil er erkennt, daß in diesen von außerhalb der Kirche formulierten Vorstellungen möglicherweise ein besseres Christentum vertreten sei (oder sich wiederf inden könne) als in den Positionen oder Abwehrreaktionen vieler „Berufschristen” und der amtskirchlichen Verfecher des Status quo.
Nach dem einleitenden Kapitel über „Vorbedingungen sittlichen Verhaltens” folgen in zwei großen Hauptkapiteln (,‚Unverzichtbar moralische Grundlagen“ — leider kann kaum ein Autor mehr auf das Unwort „unverzichtbar” verzichten! — und „Spezialformen kirchenpolitischer Ethik”) gründliche Spezialerörterungen zu allen relevanten Sachproblemen des „unmoralischen Verhältnisses”. Fast in allen Unterabschnitten gelingt es Herrmann eine treffende, das „Verhältnis” entlarvende Überschrift zu formulieren; darunter so unverwechselbare wie: „Heilige Geschäftspartner, oder: Besitzt Petrus ein Grundstück in Rom?” (zum Problem des nur scheinbar „völkerrechtlichen” Vertragspartners von Konkordaten, dem „Heiligen Stuhl” bzw dem Vatikan), und: „Apostel Deutschlands, oder: Sind Diözesen Polizeireviere?” (zur Funktion der Bischöfe, die sich einerseits als autoritäre Führer gerieren, andererseits aber nur Erfüllungsgehilfen, „Staatsanwälte und Gerichtsvollzieher” des römischen Zentralismus sind), und: „Gelenkte Wahrheitssucher, oder: Forschen die Theologen in einem besetzten Land?” (über die Zwitterstellung der Theologieprofessoren zwischen Wissenschafts- und Forschungsfreiheit  —  staatlich — und verlangter Kirchenhörigkeit — vonseiten der Amtskirche); und: „Verfassungstreue Schuldner, oder: Hat sich die Kirche etwa auf Rentenbasis enteignen lassen?” (über die „ewige” Fortdauer der staatlichen „Leistungen” an die Kirche aufgrund des „Reichsdeputationshauptschlusses” von 1803).
Überhaupt ist — dies in Parenthese gesagt — der Autor ungemein erfindungsreich in glänzenden, treffenden Formulierungen, die auch, wo sie pamphletistisch sind, immer hart an der Sache bleiben. Kritisch zu vermerken ist allenfalls eine gewisse Ressentiment-Haltung; etwa da, wo er sich — ziemlich häufig — selbst „Böswilligkeit” unterstellt, ironisch den erwartbaren Reaktionen seiner Kirchenoberen entgegenkommend; oder da, wo er — ebenfalls überhäufig — ironisch davon spricht, diese oder jene „altkirchlich” behauptete Position habe gewißlich eine „biblische” Grundlage (wobei eben das, was er selbst für biblisch fundiert hält, als ernstgemeint nicht allzu deutlich unterscheidbar ist). Auch darf bemängelt werden, daß gelegentlich allzu selbstverständlich vorausgesetzt wird, unvoreingenommene Leser wüßten, was bestimmte theologische oder „christliche” Fachausdrücke bedeuten. Der lesende Laie wird erst spät bemerken, was das dauernd benutzte Wort „kenotisch” für eine bestimmte christliche Verzichtshaltung (von Kenosis = „Entäußerung“), die dem Autor so wichtig ist, eigentlich wirklich meint. Protestantische Leser mögen enttäuscht sein, daß selbst ein progressiver Theologe, überall, wo er sie ernst meint, immer nur von „der Kirche” spricht, obwohl es nur um die katholische der beiden Großkirchen geht.
Im einzelnen behandelt Horst Herrmann in den Hauptkapiteln: a) Die Probleme, die sich aus dem Reichskonkordat von 1933 ergeben; das eigentlich Unmoralische liegt ihm nicht so sehr darin, daß dieser Vertrag, obgleich schlimm genug, .mit Hitler abgeschlossen wurde, sondern daß in ihm Verhältnisse festgeschrieben wurden und von der Amtskirche ums Verrecken nicht aufgegeben werden wollen, die sowohl innerkirchliche Reformen wie ein neues Verhältnis zur demokratischen Republik unmöglich machen, — b) Die rechtliche und christliche Problematik des vermeintlichen Völkerrechtssubjektes „Heiliger Stuhl”. — c) Die körperschaftliche Bevorrechtigung der Kirchen im Staat, obwohl sie nicht anders ein „Verband”, eine Lobby sind als etwa die Gewerkschaften. — d) Die peinliche Abhängigkeit der „Ortskirchen” (hier der bundesrepublikanischen) von ;,vatikanischen Generalvertretern”, den päpstlichen Nuntien, die zugleich Botschafter beim Staat und Oberaufseher der „Rechtgläubigkeit” sind. — e) Die ausgesprochen subalterne Rolle der Bischöfe, e, die — wenn sie sich auch als „Nachfolger der Apostel“ gerieren – so sehr in Abhängigkeit stehen zum römischen „Polizeipräsidium”, daß sie diese nur durch „klerikales Gouvernantentum” und autoritäre Reaktionen nach unten, gegenüber dem „Kirchenvolk”, weitergeben können,  —  f) Die Privilegierung des rot, violett oder auch nur schlicht schwarz gewandeten Klerus durch das „Verhältnis”, die zementiert wird, ob-wohl sie die berufenen „Diener” vom Kirchenvolk nachhaltig trennt. – g) Die verfassungsrechtlich bestreitbare, kirchlich-christlich geradezu obszöne Organisation der Militärseelsorge hierzulande. – h) Die „Gelenktheit” der verfassungsrechtlich eigentlich „freien” theologischen Forschung und Lehre an den Universitäten durch ihr vertraglich gesichertes „Verhältnis zur katholischen Behörde”. – i) Die von „der Kirche” schamlos in Anspruch genommenen, im Dunkeln gehaltenen staatlichen Leistungen, deren Ablösung sie – obwohl die Verfassung das vorsieht – partout nicht wünscht. – j) Den anhaltenden Skandal des staatlichen Kirchensteuer-Systems, dessen Amoralität Herrmann weniger in den wennschondennschon systembedingten „Auswüchsen” als darin sieht, daß hier eine Kirche“ (ohne jeden Vergleich zu einem anderen Land des Westens und Ostens) so tut, als sei es das selbstverständlichste, sich durch eine Zwangssteuer aushalten zu lassen von einem vergleichsweise indifferenten „Volk”. – Und k),1), m), n) … – eine ganze Menge Probleme mehr.
Es liegt zwar nicht in der Natur der Sache, aber in der „Natur” der (gewollten) Versteinerung des „Verhältnisses”, daß die Reformvorschläge, die der Autor selbst zu machen hat (und davon gibt es eine Menge – am ausgef ührtesten in den Kapiteln über die theologischen Fakultäten und das Kirchensteuersystem), gleichsam verschlungen sind in den Clinch der Polemik gegen die Übermacht des „Verhältnisses”. Es macht die Verzweiflung des Autors deutlich, ob überhaupt etwas zu ändern ist – die aber ist nicht nur subjektiv.
Trotzdem entwirft er im Schlußkapitel „Revolutionäre Wendung zur Moral?” eine an der „Entäußerung” des Jesus von Nazaret orientierte andere Konzeption des „Verhältnisses”, die nicht auf Privilegierung d er K i r c h e, sondern auf das Sicheinlassen d e r  C h r i s t e n in der Solidarität der Demokraten (auch der nichtchristlichen) auf ein „offenes System” abstellt. Eine Rechtsordnung des „Verhältnisses” kann für Herrmann prinzipiell nur eine (ständig änderbare) Notordnung sein, die nicht einer Statusmoral, sondern einer „Veränderungsethik” verpflichtet ist. Kein Zweifel, daß nur so die Christen wieder offen werden können für die Probleme „dieser Welt” und ihrer „Mitbrüder”; fast kein Zweifel aber auch, daß die Amts-, die „Altkirche” alles tun wird, Öffnung um eine Offnung des Systems zu vermeiden – und wenn sie daran zugrunde geht.
Gewiß ist es nicht nur ein subjektives Empfinden, sondern Wirklichkeit: Horst Herrmann, der etablierte Theologieprofessor, kämpft gegenüber der Altkirche mit dem Rücken an der Wand. Da es aber um eine „neue christliche Souveränität”, einen Aufbruch zu neuen Ufern geht, hofft er gegen die Hoffnung, daß das Christsein übersteht gegen „all die ,Absicherer‘ und ,Besitzstandswahrer‘ mit ihren Wohlstandssorgen”. Allons enfants de la église …

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