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Rede zur Verleihung des Fritz-­Bau­e­r-­Preises 1975

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 13-15

(vg) Der Fritz-Bauer-Preis der Humanistischen Union für 1975 wurde am 26. Mai in Hamburg dem Richter Helmut Ostermeyer verliehen. Der 1968 von der Humanistischen Union zur Erinnerung an den ehemaligen Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, einen bedeutenden Reformjuristen, gestiftete Preis, würdigt Verdienste um die Humanisierung, Liberalisierung und Demokratisierung des Rechtswesens. Die bisherigen , Preisträger waren die Justizvollzugsanstaltsleiterin Helga Einsele, Bundespräsident Gustav Heinemann, die Publizistin Birgitta Wolf, die Abgeordnete Emmy Diemer-Nicolaus und der Rechtsanwalt Heinrich Hannover.
Helmut Ostermeyer versucht mit seinen justizkritischen Publikationen eine grundlegende Reform des Rechtswesens in der Bundesrepublik voranzubringen. Wichtig ist der Beitrag, den er zur Einbeziehung der Psychoanalyse und der Sozialwissenschaften in den Justizbetrieb geleistet hat. In seiner richterlichen Praxis zeichnet er sich durch Unbeugsamkeit gegenüber dem Justizapparat und durch Einfühlung und Verständnis für die kleinen Straftäter und Strafgefangenen aus.
Bei der Hamburger Feier wurde die Laudatio von dem Spiegel-Redakteur Gerhard Mauz, ein Vortrag von Professor Wolfgang Kaupen gehalten. Helmut Ostermeyer bedankte sich mit der nachfolgend wiedergegebenen Rede.
Helmut Ostermeyer ist den vg-Lesern als Autor seit 1967 bekannt; über seine Bücher gibt es in diesem Heft eine Sammelrezension von Sieghart Ott.

Liebe Zuhörer!
Ich habe Fritz Bauer nicht persönlich gekannt. Sein Name ist mir immer eine Verpflichtung gewesen, weil ich in Fritz Bauer einen Menschen einer vielleicht ausgestorbenen oder aussterbenden Rasse und Generation sah, einen Menschen, der den großen und humanistischen Zug hat und der eine große moralische Persönlichkeit ist. Einem solchen Menschen kann man immer nur nacheifern.
Ich bin nun heute so viel gelobt worden, daß es schwierig ist, auf Anhieb damit fertig zu werden. Es ist auch allerhand gesagt worden, was ich eigentlich selber sagen wollte. Gerhard Mauz hat hervorgehoben, daß wir nicht vergessen dürfen, daß heute die Menschen in den Strafanstalten leiden, während wir diskutieren, während wir Preise verleihen. Wolfgang Kaupen hat den Schwerpunkt seiner Rede darauf gelegt, daß die Justiz nicht im luftleeren Raum hängt, daß die Justiz ein Teil der Gesellschaft ist und nicht allein reformiert werden kann. Ich will darauf im Zusammenhang gleich noch eingehen.
Aber weil ich so viel gelobt worden bin, wie man es eigentlich erst bei der Beerdigung erwarten kann, möchte ich doch kurz sagen, wie denn alles so gekommen ist. In einem Punkt muß ich dann auch Herrn Mauz korrigieren. Ich glaubte sehr wohl zu wissen, was für ein Richter ich werden könnte und was ich als Richter sein könnte. Ich habe nämlich geglaubt, ich könnte als Richter der Gerechtigkeit dienen, wenn ich auch vielleicht zugeben muß, daß ich damals noch nicht genau wußte, was das ist, vielleicht weiß ich es heute auch nicht. Aber das habe ich geglaubt und das hat mir vorgeschwebt. Und dann sind Dinge vorgekommen, ich habe Dinge gesehen, sollte an Dingen teilnehmen, die jedenfalls nicht dem entsprachen; was mir vorgeschwebt hatte und die ich nicht für vernünftig ansehen konnte. Und dann ist eigentlich weiter nichts passiert, als daß ich etwas entwickelt habe, was man mir schon von Kindheit an attestiert hat, nämlich eben das, was ich nicht eingesehen habe, habe ich auch nie getan. Man hat das früher als Dickköpfigkeit bezeichnet, aber es ging weiter um gar nichts, als daß hier schlicht konkrete Dinge von mir verlangt wurden, die ich eben einfach nicht einsah. Ich wußte zu-nächst auch noch gar nicht, was da alles dranhängt. Daß da etwa 50 000 Menschen sind, die leiden in den Anstalten, darum ging es gar nicht. Ich entdeckte einfach nur Schritt  für Schritt die Unvernunft, die in diesem System steckt, und das habe ich dann eben auch ausgesprochen. Ich habe es nicht verschwiegen, ich habe nicht hinter dem Berge gehalten und bin mehr oder weniger wider Willen in diese Kämpferrolle hineingedrängt worden.
Ich bin eigentlich gar kein Kämpfer. Ich bin ein friedliebender Mensch; aber ich gebe eben nicht zu, was ich nicht einsehe. Meine Frau hält mir das heute noch öfters vor. Das ist der, will ich mal sagen, der persönliche Hintergrund von einer solchen Laufbahn als Justizkritiker, die ich gar nicht beabsichtigt hatte, in die ich hineingedrängt worden bin. Nachdem ich mich aber auf dieser Bahn befand und sah, mit welchen Mitteln die Gegenseite arbeitet, habe ich auch nicht mehr eingesehen, daß ich, gewisse Rücksichten noch nehmen sollte. 
Es ist ja wohl kein Zufall, daß ich der erste Richter und überhaupt der erste Angehörige der rechtsprechenden Justiz bin, der den Fritz-Bauer-Preis bekommt. Da meine ich, das muß ganz klar gesagt werden, daß ich diesen Preis nicht stellvertretend für die Deutsche Justiz empfange.
Was spielt denn diese Justiz für eine Rolle? Ich darf vielleicht noch kurz erweitern, was die Vorredner schon gesagt haben. Was tut die Ziviljustiz? Die Ziviljustiz muß durch den Gesetzgeber gezwungen werden, davon abzusehen, die kleinen Leute zu benachteiligen durch strenge Anwendung von Formularverträgen und allgemeinen Geschäftsbedingungen. Der Gesetzgeber muß einschreiten, nicht die Richter von sich aus sind in der Lage, hier ein Recht zu entwickeln, das den Schutzbedürftigen schützt. Ich erinnere an einige spektakuläre Urteile aus der Verfassungsgerichtsbarkeit: Das Universitätsurteil, an die Dinge, die das Bundesverfassungsgericht aus der Präambel zum Grundgesetz herausgezaubert hat, die ja überhaupt nicht Bestandteil des Grundgesetzes ist, um von dem Urteil zu § 218 ganz zu schweigen. Auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit, die ja den Bürger vor dem Staat schützen sollte, ist in vielen Entscheidungen mehr der Anwalt des Staates gegen den Bürger. Denken Sie etwa an die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Bremen gegen den Bau eines Heimes zur Resozialisierung von Obdachlosen und früheren Straftätern. Das Oberverwaltungsgericht hat den Bau dieses Heimes untersagt mit Rücksicht auf die vermeintlich wohlverstandenen Interessen der Nachbarn.
Und auch zur Strafjustiz muß ich noch etwas sagen und auch weil das Wort „Defense Sociale” gefallen ist. Ich habe mich immer bewußt zurückgehalten in dem Streit um ein Strafrecht oder ein Maßnahmenrecht. In meinen Augen war das ein Streit um Worte, denn jede Strafe ist eine Maßnahme, jede Maßnahme ist eine Strafe und viele, die Maßnahmen erleiden, sagen, daß die Maßnahme immer noch eine schlimmere Strafe sei als die Strafe. In diesem Streit habe ich mich immer zurückgehalten. Denn worum geht es bei „Defense Sociale”, Verteidigung, Schutz der Gesellschaft? Man hat auch bei diesen Begriffen immer noch den kleinen Kriminellen im Auge und überlegt sich, wie man die Gesellschaft vor ihm schützen soll, indem man ihm Therapie angedeihen läßt, indem man ihm also hilft statt ihn straft.
Aber die eigentliche Defense, die Abwehr, die Verteidigung, die die Gesellschaft nötig hat — auch hier wird nicht problematisiert, gegen wen sie sich da wenden muß. Wer ist es, der die Gesellschaft heute bedroht, der die Gefahren heraufbeschwört, die den Bestand unserer Gesellschaft in Frage stellen? Das sind ja nicht die, die Automaten oder Autos aufknacken und sich dann hinter das Steuer klemmen. Es sind auch nicht die paar ganz wenigen kranken Triebverbrecher und ebensowenig sind es die verschwindend wenigen Terroristen und Anarchisten. Die sind gar keine Gefahr für unsere Gesellschaft. Die Gefahren für unsere Gesellschaft kommen wo anders her. Die kommen von den Wirtschaftsstraftätern, die ein Vielfaches an Schaden für den Einzelnen und die Allgemeinheit anrichten. Sie kommen von denen her, die unsere Umwelt zerstören und vergiften. Hier wäre es Sache einer Defense Sociale, einzugreifen. Hier müßte die Gesellschaft die Instrumente entwickeln, die Gesetze schaffen, die Straftatbestände, um einzugreifen. Dann kann man ja immer noch sehen, was für Sanktionen gegen diese Leute die richtigen sind.
Um nur ein Beispiel zu nehmen für die Unaufrichtigkeit dessen, daß es angeblich immer um den Schutz der Gesellschaft vor Straftaten geht: Denken Sie doch nur an das Verhältnis der Todeszahlen. Wieviel Leute werden denn getötet durch vorsätzliche Straftaten. Wieviel Leute werden aber getötet durch Verkehrsunfälle, durch Betriebsunfälle, durch häusliche Unfälle, oder wieviel Leute werden zugrunde gerichtet überhaupt durch die Arbeitsbedingungen oder gesundheitlich zerstört durch die Lebensbedingungen? Denken Sie an die Kinder, die in Wohnsiedlungen, in Wohngettos heranwachsen müssen, wo sie sich überhaupt nicht mehr entfalten können, wo sie in ein enges Laufheck eingesperrt werden, und denken sie an die Aggression, die diese Kinder, die diese Generation, die in den Hochhäusern jetzt groß wird, in sich aufspeichert. Und dann fragt man sich, wogegen muß die Gesellschaft verteidigt werden? Gegen die Kinder oder gegen die Leute, die so in krimineller Weise Wohnsiedlungen planen und bauen, in denen notwendig Kriminalität und Aggression entstehen muß? Aber das ist, wie gesagt, alles eingebettet in den großen Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse.
Wir können weißgott aus der Justiz nicht den Motor der Entwicklung machen. Aber wir müssen doch auch sehen, daß die Justiz von ihrem Anspruch her gewisse Verpflichtungen hat, wenigstens ihre Stimme zu erheben. Die Justiz als Wahrerin und Schützerin der Gerechtigkeit hat sich für den Menschen einzusetzen, denn Recht ist an den Menschen gebunden und ist mit dem Menschen identisch, sie hat sich zur Wahrerin der menschlichen Belange zu machen und nicht zum Handlanger eines Systems, das autoritär strukturiert ist und in der Form des modernen Industriesystems sich anschickt, die Lebensgrundlagen der Menschheit zu zerstören. In diesem Zusammenhang meine ich, daß wir heute schon sagen können, daß Überlegungen über eine Justizreform, was wir an der Justiz bessern können, binnen weniger Jahre oder Jahrzehnte gegenüber den großen Problemen, die dann auf die Menschheit insgesamt zukommen, überhaupt schon als Randprobleme erscheinen. Und doch meine ich, sollten wir das Modell, mit dem die Justiz arbeiten könnte, nämlich das Gerichtsverfahren als einen fairen Prozeß zur Lösung eines Konfliktes, das sollten wir für diese auf uns zukommenden Probleme bereithalten und anbieten und insoweit kann man heute vielleicht auch noch Richter sein; jedenfalls wenn man sich zurückzieht in das Zivilrecht. Dort habe ich eigentlich keine Gewissenskonflikte mehr.
Ich wollte noch ein letztes Wort sagen zu dem Verhältnis der Justiz zur Gesellschaft, sozusagen als Anhängsel.
Was nützen auch innerhalb der Justiz alle Bemühungen um Reform und Humanität, wenn die Bundestagspräsidentin Frau Renger einer Gruppe von jugendlichen Straftätern den Zutritt zum Bundestag verbietet und dafür die Begründung gibt, die Bevölkerung würde dafür kein Verständnis haben? Das möchte ich sogar noch anzweifeln. Ich glaube, gegenüber jugendlichen Strafgefangenen hat die Bevölkerung dafür doch Verständnis und ich meine, daß wir nicht die Verantwortung für eigene autoritäre Einstellungen in dieser Weise von uns abschieben können auf ein angebliches Unverständnis der Justiz.
Ich danke ihnen.

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