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Strafrecht und Psycho­ana­lyse

vorgängevorgänge 1611/1975Seite 94-96

Zu den Schriften Helmut Ostermeyers

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 94-96

„Strafe ist Rache” urteilte schon Friedrich Nietzsche [1], und Sigmund Freud gab ihre tiefenpsychologische Begründung: „die Strafe gibt den Vollstreckern nicht selten Gelegenheit, unter der Rechtfertigung der Sühne dieselbe frevle Tat auch ihrerseits zu begehen“ [2]. Helmut Ostermeyer ist beiden verpflichtet. Den Erkenntnissen des Philosophen und des Entdeckers der Psychoanalyse stellt er die rechtstheoretische Kritik unseres heutigen Rechtssystems und die Erfahrung aus der lang-jährigen täglichen Praxis als Richter an einem Amtsgericht zur Seite. „Die Rache ist mein, spricht der Staat im Namen des Volkes und der Jurist nennt das ,staatliches Strafverfolgungsmonopol”: so lautet plakativ sein Motto zu seinem Buch „Strafunrecht”.
Helmut Ostermeyer den Lesern der Vorgänge vorzustellen, ist müßig: als ihr Mitarbeiter seit 1967 ist er ihnen wohlvertraut. Die Verleihung des Fritz-Bauer-Preises — die an kaum jemand dem Namensgeber dieser Auszeichnung geistig Näherstehenden hätte erfolgen können — ist jedoch willkommener Anlaß, sich erneut mit dem literarischen Werk des Preisträgers zu befassen.

„Strafrecht und Psychoanalyse” ist der Titel des wohl wichtigsten Buches Helmut Ostermeyers [3], in welchem er — beide Fachgebiete gleichermaßen souverän beherrschend — eine auf psychoanalytischer Grundlage basierende Theorie des Straf-rechts entwickelt. Das Vorhaben ist, soweit ersichtlich, ohne Vorbild. Zwar haben sich gelegentlich Psychoanalytiker mit Fragen der Strafrechtstheorie befaßt, das Thema jedoch stets nur am Rande berührt. So hat Ferenczi schon 1919 Neurosen als möglichen Grund für die Begehung von Verbrechen bezeichnet, in der Art der Strafbemessung und des Strafvollzugs „auch rein libidinöse, den Sadismus der strafenden Organe befriedigende Elemente” entdeckt und die Schaffung einer analytischen Kriminaltherapie anstelle des bloßen Freiheitsentzugs gefordert [4]. Ferner hat Reik in seiner Schrift „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ 1925 die Umrisse einer psychoanalytischen Strafrechtstheorie entworfen [5], wobei er das von Freud entdeckte Strafbedürfnis des Neurotikers als Ansatzpunkt für eine mögliche Überwindung des staatlichen Strafverfahrens betrachtete, auch darauf hinwies, „daß wir latent alle Keime zum Verbrecher in uns tragen”. Er forderte bereits eine gründliche psychologische Vorbildung für Strafrechtslehrer, Berufs- und Laienrichter, Verteidiger und Staatsanwälte sowie eine Strafrechtstheorie auf psychologischer Grundlage und eine Änderung des Strafzwecks. Doch bei den Juristen blieben diese und andere Anstöße ungehört. Nur die Kriminologie zieht — zögernd — die Erkenntnisse der Psychologie zu Rate. Für Rechtstheoretiker und Rechtsphilosophen gilt aber nach wie vor unverbrüchlich das Prinzip der Willensfreiheit, von der Nietzsche bereits sagte: „Die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, das heißt des Schuldig-finden-wollens . . . Die Menschen wurden ,frei` gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können — um schuldig werden zu können: folglich mußte jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewußtsein liegend gedacht werden“ [6].
Ostermeyer ist es gelungen, in „Strafrecht und Psychoanalyse” beide Fachgebiete so zu verknüpfen, daß als Ergebnis eine auch für die Praxis brauchbare psychoanalytische Rechtstheorie entstand. Kein Leser braucht sich allerdings von diesem Signum, das Ostermeyer selbst für sich nicht 1n Anspruch nimmt, abschrecken zu lassen. Es handelt sich keineswegs um einen rein theoretisierenden Traktat, sondern Qstermeyer bleibt stets der Praxis verhaftet und artikuliert sich in einer Sprache, deren Klarheit und Prägnanz im deutschen wissenschaftlichen Schrifttum selten ist, die man nur aus angelsächsischer Literatur kennt. Das kommt sehr der Absicht Ostermeyers zu-statten, bei den Juristen Verständnis für die Psychoanalyse zu wecken und die Psychologen in das System des geltenden Strafrechts einzuführen, die Angesprochenen also jeweils in ein für sie fremdes Sachgebiet einzuführen.
Vorzüglich ist Ostermeyer das Kapitel „Psychoanalyse für Juristen” gelungen, in welchem er — klar untergliedert — einen kurzen Abriß der wesentlichen Probleme der Psychoanalyse gibt, ohne wesentliches auszulassen. Natürlich kann eine solche Einleitung nicht das Studium weiterführender Schriften ersetzen, es wäre daher wohl nützlich gewesen, wenn für diejenigen Leser, die durch Ostermeyer erstmals mit Problemen der Psychoanalyse konfrontiert werden, eine Auswahl weiterführender Literatur beigegeben worden wäre. Im übrigen aber ist die Einführung Qstermeyers schlechthin beispielhaft, wird dem „Anfänger” ohne ihn nur verwirrenden wissenschaftlichen Ballast kurz und bündig die Funktion des Unterbewußt, des Es, Ich und Über-Ich nahegebracht, werden die Entstehung von Neurosen und ihre Ursachen erklärt, neurotische Symptome erläutert, kollektive Neurosen erörtert usw.
Nicht ganz so ausgewogen ist die Einführung in das Strafrecht für Psychologen, woran weniger der Autor als sein Gegenstand die Schuld trägt. Da das Strafrecht keine exakte Wissenschaft ist sondern von der Spekulation lebt, ist es nicht verwunderlich, ja geboten, bei seiner Darstellung kritische Analyse zu betreiben. Der potentielle Leser aus dem Fachgebiet der Psychologie könnte andernfalls dem Irrtum erliegen, das üppig sprießende Gesträuch juristischer Begriffe wie sein — des Psychologen — Begriffsgebäude erhebe Anspruch auf rational nachprüfbare Fundierung und Exaktheit im naturwissenschaftlichen Sinn, was vorzuspiegeln die Juristen ja nicht müde werden.
Nach diesen Einführungen stellt Ostermeyer die Psychologie der strafenden Gesellschaft dar, wobei er unter Anwendung psychoanalytischer Betrachtungsweise und Methoden die Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichem Verhalten und Verbrechen aufdeckt. Um mit seinen Worten aus dem Schlußkapitel zu sprechen: „Die Gesellschaft erzeugt das Verbrechen, um den Verbrecher strafen zu können. Sie straft ihn, um die Schuld loszuwerden, die ihr aus ihren eigenen verbrecherischen Neigungen erwächst. Psychologisch gesehen ist die Bestrafung der Verbrecher verschleierte Selbstbestrafung. Soziologisch gesehen ist sie echte Selbstbestrafung. Leidtragender ist die Gesellschaft selbst. Sie leidet an dem Verbrechen und sie leidet am Strafvollzug. Trotzdem gestaltet sie den Strafvollzug so aus, daß er das Verbrechen mehrt und damit wiederum die Strafen und das Leiden“ [7].

Strafrecht und Psychoanalyse — das sind die Brennpunkte, um die auch die übrigen Schriften Ostermeyers kreisen. Das bereits eingangs erwähnte Buch „Straf unrecht“ [8] ist eine ausgezeichnet formulierte Streitschrift, in welcher der Autor die Funktion der Kriminalrechtspflege kritisch, durchleuchtet. Ausgangspunkt ist auch hier: „Recht kommt von Rächen, gerächt ist gerecht. Keiner hört einen Unterschied . . . “ Ostermeyer nimmt sodann „Die Bediener der Gerechtigkeitsmaschine” aufs Korn: Polizei und Staatsanwalt,
Richter und Verteidiger. Zuletzt auch den Angeklagten, als Anhängsel gewissermaßen, denn: „Der Angeklagte, zunächst der Täter der Tat, also Subjekt, sinkt im Verlauf des Verfahrens zum Objekt herab, genau genommen zu einem Anhängsel des eigentlichen Verfahrensobjektes, der Tat.” Ihm — nicht dem Stand, dem er angehört — gehört stets Ostermeyers besonderes Interesse, sein „Mit-Leid” ohne Mitleid und Sentimentalität: „Verteidiger, Staatsanwalt und Richter als die Bediener, ja als die Räder einer unbarmherzigen Gerechtigkeitsmaschine, einer Rachemaschine, die den Angeklagten verschlingt: Dieses Bild ist keineswegs nur literarisch. Der Angeklagte fühlt sich im Gerichtssaal in einer Welt, die ihm zutiefst fremd, unvertraut und unheimlich ist … Wie ein Wasserfloh, der unter dem Mikroskop zu einem furchteinflößenden Ungeheuer wird. Dem Angeklagten bleibt die Arbeitsweise des Mikroskops undurchsichtig, denn dieses Mikroskop ist die Jurisprudenz, die Rechtswissenschaft, ein diabolisches System, das die Wirklichkeit verzerrt. Deshalb gibt es zwischen dem Angeklagten und den Bedienern der Gerechtigkeitsmaschine keine Verständigung“ [9]. Zu Nietzsche und Freud gesellt sich Kafka.

Die Erkenntnisse Ostermeyers implizieren Justizkritik, denn die von ihm vorgefundene Justiz entspricht in keiner Weise den Anforderungen, die an sie zu stellen sind. Ostermeyer gehört zu den wenigen Richtern, die nicht nur Zweifel am Rechtssystem, sondern folgerichtig auch an ihrem eigenen Berufsstand oder vielmehr an dessen Selbstverständnis äußern. Die Zweifel sind begündet. Nicht die erste aber die erste spektakuläre Publikation Ostermeyers in dieser Richtung findet sich in dem Sammelband „Im Namen des Volkes?”, in welchem vier Richter — Theo Rasehorn, Fritz Hasse, Diether Huhn und eben Helmut Ostermeyer — Reflexionen über Justiz und Recht anstellten [10]. Ostermeyers Beiträge in diesem Sammelband reichen von „Ratschlägen für Strafrichter” (eine Art „Richterspiegel”) bis zur bitteren Satire „Ein Urteil des Bundesgerichtshofs aus dem Jahre I975”.
In „Die Tabus der bundesdeutschen Presse“ [11] untersucht Ostermeyer die Gerichtsreportage. Er weist anhand einer empirischen Untersuchung nach, daß die Gerichtsberichterstattung oft die Ursachen der Kriminalität tabuiert, die Fragwürdigkeit der Strafjustiz als Institution, die Unzulänglichkeiten ihrer Beweiswürdigung und die Sozialschädlichkeit ihres Strafvollzugs unterdrückt, statt dessen ein Zerrbild von Kriminaliät und Strafverfolgung entwirft, den Richter dafür in einer Vaterrolle verklärt. In „Wie frei ist unsere Justiz?” beschäftigt Ostermeyer sich mit dem Verhältnis der Richter zu Recht und Macht und untersucht dessen soziologische Ursachen [12]. Wie die Rechtsprechung mit Strafgefangenen umspringt, zeigt Ostermeyer wiederum anhand der „Sündenbockprojektion“ [13], die dazu führt, daß der Strafgefangene dem vollständigen Gewahrsam des Inhabers der staatlichen Gewalt unterworfen, seiner Grundrechte fast völlig beraubt wird — einer Praxis, der das Bundesverfassungsgericht inzwischen entgegengetreten ist.
Dieser Aufsatz verfolgt nicht das Ziel einer vollständigen Bibliographie der Schriften Ostermeyers. Es wurde lediglich versucht, den Rahmen seiner Themen abzustecken. Diese erfuhren noch eine Erweiterung in einem Taschenbuch mit dem etwas reißerischen Titel „Die juristische Zeitbombe” [14], in dem Ostermeyer wiederum mit Engagement das Weltbild zurechtzurücken versucht, das die Justiz verrückt: Einwohner, die gegen den Abwurf von Übungsbomben demonstrieren, werden des Landfriedensbruchs bezichtigt, nicht die den Landfrieden brechenden Militärbehörden. Der Fall eines auf die schiefe Bahn geratenen Jugendlichen, dessen Mutter nichts von ihm wissen wollte, zeigt: Elternlosigkeit ist strafbar.
Ostermeyer ist ein Unbequemer im Lande, ein weißer Rabe. Ach, hätten wir doch mehr Ostermeyers.

Verweise:

1 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, 2. Band.
2 Totem und Tabu, Studienausgabe Bd. IX, Frankfurt 1974, 5361.
3 Mit einem Geleitwort Ulrich Sonnemanns, Wilhelm Goldmann Verlag, Das wissenschaftliche Taschenbuch, Re-25, München 1972,120 Seiten, broschiert, DM 22.
4 Sändor Ferenczi, Psychoanalyse und Kriminologie, zitiert nach: Schriften zur Psychoanalyse Bd I, Frankfurt 1970, S 297-299.
5 Theodor Reik, Geständniszwang und Strafrechtstheorie.

Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie, Internationale Psychoanalytische Bibliothek Nr XVIII, Leipzig/ Wien/Zürich 1925, insbes S 135 ff.
6 Nietzsche, Götzen-Dämmerung, Die vier großen Irrtümer, Nr 7.
7 Ostermeyer, Strafrecht und Psychoanalyse, Fußnote 3, S 109.
8 Reihe Hanser Nr 75, München 1971, DM 7,80.
9 aa0S58.
10 Rasehorn/Ostermeyer/Huhn/Hasse, Im Namen des Volkes?, Neuwied 1968.
11 Reihe Hanser Nr 66, München 1971, S 82 ff. „Straflust statt Rechtsbewußtsein. Die Gerichtsreportage als repressives Ritual.”
12 Kindler Paperback, München 1969, hrsg v U. Sonnemann, S 31 ff: „Richter, Recht und Macht”.
13 Zeitschrift für Rechtspolitik 1970, S 241: Ostermeyer, die Sündenbockprojektion in der Rechtsprechung.
14 Goldmann Taschenbuch Nr 1113, München 1973.

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