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§ 218: Die nächste Phase

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 1-4

1.


Selten hat eine Auseinandersetzung über die Reform eines Strafrechtsparagraphen so stark in die Breite und Tiefe gewirkt wie die über den § 218. Nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist sie erneut aufgeflammt, ohne daß ein Ende abzusehen wäre. Die verschiedenen Gesetzesvorschläge werden weitere Erörterungen veranlassen. Es ist daher nötig, darzustellen, wie es zu der jetzigen Situation kam, worin die entscheidende Differenz zwischen Reformern und Traditionalisten besteht, und was als Konsequenz möglich und geboten ist.

2.
Das Motiv der Reform

Wichtig ist, die Ursache für das Urteil des BVerfG nicht zu primitiv zu sehen, etwa, als ob es aufgrund der parteipolitischen Einstellung der Mehrheit des Senats vorbestimmt und unvermeidlich war. Voreingenommenheit. war sicherlich im Spiel, aber ohne das merkwürdige Verhalten der Bundesregierung und ihre Prozeßführung wäre es möglicherweise auch ganz anders gekommen. In dieser Beziehung weist Professor Martin Kriele in einem Artikel in Heft 7 der Zeitschrift für Rechtspolitik (April 1975) auf etwas Wesentliches hin.
Er unterscheidet die „ethisch-pragmatische”, die emanzipatorische und die konservative Motivation für die jeweilige Einstellung zum Problem. Die zum Reformgesetz führende Diskussion sei — z B mit dem Alternativ-Entwurf zum § 218 —von der ethisch-pragmatischen Motivation ausgegangen, die „den bestmöglichen Schutz des werdenden Lebens” anstrebt. „Dieses Motiv ist jedoch im Lauf der …Beratungen mit der emanzipatorischen Strömung in einer Weise zusammen-geflossen”, daß am Schluß der Debatte die ethisch pragmatische Begründung des Gesetzes „nicht mehr voll glaubwürdig” erschien.
Kriele meint, die Entscheidung hätte anders ausfallen können, wenn die emanzipatorische Tendenz, die das Lebensrecht des Embryos „ganz hinter ein Selbstentscheidungsrecht der Frau” zurücktreten läßt, von der „Basis” der Koalitionsfraktionen nicht so stark in den Vordergrund gerückt worden wäre.
Wenn Kriele mit Recht auf die negative Wirkung einer gewissen Unklarheit über die Motive hinweist, so hat er doch im Historischen unrecht. Der Schuh sitzt auf dem anderen Fuß. Denn, mag auch die ab 1969 geführte Debatte mit der ethisch-.pragmatischen Lösung der Alternativprofessoren angefangen haben, so stand der fast hunderjährige Kampf um die Reform des § 218 eindeutig und unbezweifelbar unter dem Zeichen des emanzipatorischen Gedankens.
Schluß mit dem Gebärzwang! — das war die stets wiederholte Losung des Kampfes, und die Bewegung für die Reform bezog ihre Kraft, trotz aller Fehlschläge und Enttäuschungen immer wieder Menschen zu mobilisieren, aus der Forderung, die Frauen aus ihrer unwürdigen, unselbständigen, unmenschlichen Situation zu befreien. Das gilt insbesondere für die Erörterung der letzten Jahre. Wie kaum vorher ist in dieser Phase der Standpunkt vertreten worden, daß der § 218 damit, daß er den Frauen ihr Recht auf Persönlichkeitsgestaltung im vielleicht wichtigsten Punkt verweigert, grundgesetzwidrig sei.
So war vielleicht das Urteil dadurch bedingt, daß das Gericht die Betonung des ethisch-pragmatischen Standpunkts als Taktik empfand. Andererseits wäre es vielleicht anders ausgefallen, wenn man das emanzipatorische Motiv als entscheidend vorgetragen und die Tatsache, daß die Fristenregelung werdendes Leben wirkungsvoller schütze, als zusätzlichen Vorteil dargestellt hätte.

3.
„Umarmungsstrategie”

Statt nun Freiheit, Selbstbestimmung, Menschenwürde in den Vordergrund zu stellen, ist die Bundesregierung bei der Führung des Verfahrens vor dem BVerfG in die Gewohnheiten der Umarmungsstrategie zurückgefallen. Sie behauptete wieder einmal, dasselbe zu wollen wie die CDU, genau so wie diese jede Form beginnenden Lebens heilig zu halten. Ihr eigentlicher Grund für die Reform sei, daß der Zweck der Lebenserhaltung einmal durch das bestehende Gesetz nicht erreicht werde, und daß dieser zweitens am besten mit dem Fristenmodell zu verwirklichen sei. Mit Recht haben die Antragsteller in der Begründung der Normenkontroll-Klage vom 25. zum Beispiel (S 6) Bundeskanzler Brandt zitiert, der im Bundestag ausgeführt habe, mit der Rücknahme der Strafandrohung solle „die einzige Möglichkeit, zugunsten des werdenden Lebens auf die Frauen einzuwirken”, gewonnen werden. Auch sei in den Beratungen des Bundestags immer wieder von den Koalitionsfraktionen betont worden, die Strafrücknahme sei nur Mittel zum Zweck, nämlich „den Schutz des ungeborenen Lebens wirksamer und wirkungsvoller zu gewährleisten als dies bislang durch die bloße Strafandrohung geschehen sei”. Man habe zur Begründung des Fristenmodells folgende Reformziele genannt: „die Rate des kriminellen Aborts zu senken, auf die Dauer die Zahl der Aborte überhaupt einzudämmen und der Schwangeren durch Teilrücknahme der Strafdrohung eine verantwortliche Eigenentscheidung zu ermöglichen.”
Man kann auch daran erinnern, daß schon Justizminister Jahn die Fristenregelung grundgesetzwidrig fand und daß Justizminister Vogel, wenn er auch so weit nicht ging, doch seine Meinung dahingehend verkündete, daß das Grundgesetz auch das ungeborene Leben schütze. Damit war dargetan, daß man seitens der Regierung den grundsätzlichen Standpunkt ihrer Prozeßgegner akzeptierte, statt, wie man annehmen sollte, ihn zu bestreiten.
Ebenso schwach ist der Schriftsatz von Professor Ehmke in diesem entscheidenden Punkt. Dort heißt es auf S 20 zur Entstehungsgeschichte des Art 2 Grundgesetz und seiner Geltung für das keimende Leben: „Der reine Wortlaut ,Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit‘ spricht nach dem … Ausgeführten zunächst gegen den Schutz ungeborenen Lebens durch Art 2 Abs 2 Satz 1 GG. Denn dieser Wortlaut spricht ganz offensichtlich vom ‚fertigen‘ Menschen. Die Entstehungsgeschichte zeigt aber, daß die Formulierung den Schutz ungeborenen Lebens nicht ausschließen sollte, wenn die Frage auch nicht ausdrücklich entschieden wurde. – Der Schutzzweck der Vorschrift legt mit der heute in der Lehre überwiegenden Meinung die Auslegung nahe, daß ungeborenes Leben als Vorstufe des Menschenlebens durch die Grundsatznorm, die ‚objektive Wertentscheidung‘ des Art 2 Abs 2 Satz 1 GG mitgeschützt wird.”
Nun ist es nicht richtig, daß die Formulierung des Grundgesetzes „den Schutz des ungeborenen Lebens nicht ausschließen” sollte. Der Wille der Mehrheit des Ausschusses war, daß dieses Problem n i c h t durch das Grundgesetz geregelt werden sollte, damit eine spätere gesetzliche Regelung durch das Parlament erfolgen konnte. Dies bringt Ehmke nicht deutlich heraus, sondern beläßt alles in der Schwebe. Mit dem zweiten zitierten Absatz nimmt er obendrein alles wieder zurück, was er anfänglich gesagt hat.

4.

Ehmke hat damit dem Bundesverfassungsgericht den Weg zu seiner Entscheidung freigegeben. Wenn etwas als Grundsatznorm der Verfassung bezeichnet wird, dann ist dies von dem Verfassungsgeber gewollt, und wenn man anerkennt, daß das Recht auf Leben den Schutz ungeborenen Lebens umschließt, hat man die Hauptsache akzeptiert, und bewegt sich nur noch auf Nebenkriegsschauplätzen, auch wenn man diese noch so eifrig zu Hauptsachen umzufunktionieren versucht.
Ehmke verzichtete – ganz folgerichtig – darauf, sich mit den vielfach angreifbaren Ausführungen der Klagebegründung auseinanderzusetzen. Er beschränkte sich darauf, zu verdeutlichen, warum die Fristenregelung besser geeignet sei, den Lebensschutz für Embryos zu gewährleisten. Aber gerade hiermit wurde dem BVerfG die Tür geöffnet, die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit durch eine Entscheidung über eine „Sachfrage” zu beantworten.
Die Frage nämlich, ob eine Indikationenregelung oder ein Fristenmodell besser geeignet ist, werdendes Leben zu bewahren, ist keine, deren Beantwortung in die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts gehört. Sie ist eminent politischer Natur, weil es darauf mehrere mögliche und einander ausschließende Antworten gibt. Sie gehört damit in die alleinige Kompetenz nicht einer gerichtlichen, sondern der politischen Instanz, d h des Bundestags. Wie so oft, zahlte sich Pragmatismus auch hier nicht aus. Mit dem „ethisch-pragmatischen” Standpunkt ermöglichte man es dem BVerfG, eine politische Entscheidung des Parlaments umzustoßen.

5.
Die „eigent­li­che” Differenz

Das Urteil zeigt deutlich, wie verkehrt es gewesen ist, den emanzipatorischen, humanitären und liberalen Aspekt der Reform verdrängt zu haben. Das Urteil lehnt die einzig mögliche Lösung ab, die darin besteht, den Konflikt zwischen zwei Rechtsansprüchen auf billige Weise auszugleichen. Die Fristenregelung tut das, während das BVerfG in seinem ethischen Rigorismus den absoluten Vorrang des Rechts der Ungeborenen auf Leben proklamiert. Dennoch — und obwohl es ausdrücklich ablehnt, das Selbstbestimmungsrecht der Frauen als gleichgeordnet zu betrachten, relativiert auch das BVerfG das Lebensrecht der Ungeborenen, indem es eine ganze Reihe von Ausnahmen schafft, wo das Recht der Frauen überwiegt.
Der Unterschied zwischen dem Standpunkt der Senatsmehrheit und dem Standpunkt der Bundestagsmehrheit besteht daher weder in der Ernsthaftigkeit, mit der man keimendes Leben schützen will, noch etwa in der größeren oder kleineren Aussicht, dies mit dem einen oder anderen Modell zu erreichen. Nein, — die Differenz liegt nur darin, daß das Fristenmodell den Frauen während einiger Wochen das Recht zur alleinigen Entscheidung zuerkennt, während das BVerfG die Frauen grundsätzlich unter die Entscheidung anderer zwingt.
Das BVerfG verkennt offenbar, wie sehr es die Persönlichkeitswürde weiblicher Menschen verletzt, wenn es ihnen nicht die moralische Kraft zutraut, eine menschlich zu verantwortende Entscheidung in dieser hauptsächlich sie angehenden Frage zu treffen. Es setzt bewußt eine konservative Auffassung fort, indem es die Frauen weiter von dem Willen von Gremien, von Ärzten, Geistlichen, irgendwelchen Dritten abhängig macht.

6.
Keine „zweit­beste” Lösung

Wenn jetzt versucht wird, eine irgendwie konstruierte Indikationenregelung als zweitbeste Lösung des Problems zu empfehlen, dann wird verkannt, daß diese alle wegen der mit ihnen verbundenen Entmündigung der Frauen schlecht sind. Nach Pressemeldungen zu urteilen, scheint allen Fraktionen der Gedanke gemeinsam zu sein, von einer „Einheits“-Indikation auszugehen, bei der die Unzumutbarkeit entscheidend sein soll, das werdende Kind auszutragen. Sonst besteht jedoch keinerlei Einigkeit. Dennoch spielt man bereits wieder mit dem Gedanken, „eine möglichst breite Mehrheit in dieser den Rechtsfrieden
stark berührenden Frage herzustellen” (Die Welt, 11.6.1975). Eine Lösung, der „eine möglichst breite Mehrheit” der Abgeordneten zustimmt, würde jedoch mit Sicherheit von einer erdrückenden Mehrheit der Wähler abgelehnt werden. Das hat gute Gründe, die mit der Funktion jedes Indikationenmodells zusammenhängen.
Das Fristenmodell wird abgelehnt, weil man der subjektiven Entscheidung der Frauen mißtraut. Da zieht man das Indikationenmodell vor, denn bei diesem wird das Vorliegen der Indikation objektiv festgestellt. Wer und was aber bürgt für Objektivität? Zweifellos ist dazu der „Arzt des Vertrauens” wenig geeignet. Im allgemeinen wird eine Schwangere d e m Arzt vertrauen, der ihre Situation versteht und ihre daraus entstehenden Absichten unterstützt. Wo bleibt da die objektive Feststellung der „Unzumutbarkeit”? Der. Verdacht eines Zusammenspiels zwischen Patientin und Arzt wird noch durch den Vorschlag bestärkt, ein zweiter Arzt sei zu Rate zu ziehen, ohne jedoch dessen Votum verbindlich zu machen.
Die CDU ist weit von solchen Vorstellungen entfernt. Sie will amtliche, (objektive?) Beratungsstellen, in denen die Frauen „positiv motiviert” und inbezug auf ihre „Pflicht” dem werdenden Leben gegenüber aufgeklärt werden sollen. Sollten sie danach immer noch die Schwangerschaft abbrechen wollen und einen dazu bereiten Arzt finden, dann muß dieser mit zwei behördlich ermächtigten Kollegen — in Abwesenheit der Schwangeren! — beraten, wobei vermutlich die Entscheidung fallen soll. Eine etwa nötige Sozialbeurteilung hat auf Grund einer von den Ärzten einzuholenden Stellungnahme einer behördlich ermächtigten Beratungsstelle zu erfolgen. Man sieht, mit welchen Konstruktionen Objektivität gewahrt werden soll.
Nun wäre es eine logische Folge, wenn eine wesentlich durch die Fortsetzung der Umarmungsstrategie der SPD mit herbeigeführte Situation duch eine abstimmungsmäßige Neuauflage der „Großen Koalition” beendet würde. Politisch würde damit jedoch nichts erledigt. Die Frauen würden weiterhin in dieser Frage entmündigt bleiben. Sie würden ein derartiges Gesetz so wenig achten wie das bisherige. Alle Übel — Lüge und Verstellung, Ungleichheit und Ausbeutung, Erpressung und Nötigung — würden fortdauern!

7.
Feststel­lungen und Forderungen

1. Die Reform des § 218 ist wieder einmal nicht gelungen, — also besteht sie als Aufgabe weiter!
2. Eine Gesetzgebung im Rahmen des BVerfG-Urteils, insbesondere wenn sie von der
CDU mitgeprägt wird, ist keine Reform. Ein Gesetz ohne emanzipativen Fortschritt, das den Frauen weiterhin das Selbstbestimmungsrecht vorenthält, ist keine Reform. Eine solche Gesetzgebung sollte verhindert werden.
3. Es ist ein Gesetzentwurf vorzulegen, der unter Berücksichtigung einiger Gedanken des BVerfG-Urteils die Fristenregelung erneut vorbringt. Es wäre z B möglich, die Beratungspflicht deutlicher zu gestalten, wie dies auch im Mehrheitsgutachten der Alternativprofessoren enthalten war. Möglich wäre auch anstelle der Strafrücknahme eine „Nichtverfolgung” der Schwangeren und des behandelnden Arztes. Schließlich ließe sich ebenfalls eine Karenzzeit von wenigen Tagen zwischen Beratung und Eingriff einführen.
4. Daß ein solcher Gesetzgebungsakt zu. einem Konflikt zwischen Parlament und Verf assungsgericht führen wird, ist nicht sicher, wenn auch denkbar. Es ist nicht sicher, weil nicht vorausgesehen werden kann, ob das BVerfG überhaupt wieder angerufen werden würde. Es ist ebenfalls zweifelhaft, ob das BVerfG dieses neue Gesetz wieder als verfassungswidrig bezeichnen würde. Ein sicher möglicher Konflikt bringt aber auch ein Gutes mit sich: durch ihn wird anläßlich einer die Bevölkerung stark interessierenden Frage das Bewußtsein für die Souveränität des Parlaments und für die Grenzen traditionaler Rechtsprechung geschärft — zum mindesten geweckt!
5. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß man die Reform deutlich und ehrlich begründet. Das Unrecht, das der § 218 den Frauen zufügt, ist im Wege einer Rechtsgüterabwägung zu beseitigen. Unser Grundgesetz kennt keine Norm, die das Leben alles Lebendigen schützt. Das Grundgesetz ist für geborene Personen. Wohl aber kennt unser Recht einen Schutzanspruch für werdendes Leben. Wie dieses Recht gesetzlich geformt wird, ist Sache der Legislative, nicht der Judikative. Unrichtig ist die Vorstellung, eine Differenzierung der Mittel zum Lebensschutz sei unmöglich, weil Leben ein sich kontinuierlich entfaltender Prozeß ohne scharfe Einschnitte ist. Dies verhindert keineswegs, höchst differierende Phasen und Zuständlichkeiten des Lebens anzuerkennen. Im Gegenteil, wer dies unterläßt, widerspricht damit aller Erfahrung des Lebens zugunsten einer verkehrten Doktrin.

8.

Über die Chancen einer derartigen Haltung braucht nicht gestritten zu werden. Wer meint, das BVerfG würde allen Einsichten unzugänglich sein, tut ihm vermutlich unrecht. Ein Rückblick auf viele, wenn auch nicht alle Entscheidungen läßt durchaus eine solche Annahme zu.
Skeptischer muß man jedoch inbezug auf das Parlament sein. Kann man wirklich noch hoffen, daß sich dort eine Mehrheit für eine Politik findet, die nicht „Schlimmeres verhüten” will, sondern versucht, etwas grundsätzlich Richtiges gegen alle Hindernisse durchzusetzen, — auch wenn es lange dauert?

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