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Baader-­Mein­hof-Prozeß nach zehn Verhand­lungs­tagen

vorgängevorgänge 1611/1975Seite 118-19

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 118-19

(vg) Wir drucken im folgenden einen Kommentar, den Werner Hill am 28. Juni 1975 in Radio Bremen gesprochen hat. Wenn das vorliegende Vorgänge-Heft erscheint, sind fast zwei Monate vergangen und der Prozeß ist um einige Verhandlungstage weiter. Wir halten es dennoch für notwendig, Vorgänge im Zusammenhang mit diesem Prozeß zu dokumentieren, die die rechtsstaatliche Ordnung empfindlich tangieren.

Nach zehn Verhandlungstagen im Prozeß gegen den harten Kern der Baader-Meinhof-Gruppe in Stuttgart ist manchen Beobachtern das Gefühl abhanden gekommen, sich wirklich in einem Gerichtssaal zu befinden. Vielmehr verbreitet sich die Empfindung, daß man einem surrealistischen Lehrstück beiwohne, welches etwa heißen könnte: „Von der Ausschöpfung rechtlicher Möglichkeiten und der Kunst, sich taub zu stellen.”
Vielleicht hätte man die Stammheimer Szenerie schon längst vergessen, ließe das tägliche Durchsuchen und Getaste, die Inspektion der Geldbörse und der Brieftasche und aller sonstigen Behältnisse gelassener über sich ergehen, wenn es dem Gericht gelungen wäre, endlich zur Sache vorzustoßen. Aber nicht einmal die Vernehmung zur Person haben die Richter bis jetzt hinter sich gebracht. Der Gegenstand der Anklage ist nicht verlesen. Zwar macht der Vorsitzende zu Beginn jedes Prozeßtages den schon routinemäßigen Versuch, „zur Person” zu kommen. Aber dann gehen die Finger der Wahl- und Vertrauensverteidiger hoch und es werden Anträge gestellt, jeweils vier. Der eine begründet, die anderen ergänzen. Der Vorsitzende äußert die Vermutung, daß die Bundesanwaltschaft wohl Stellung nehmen wolle und dafür eine Beratungszeit brauche. Je nachdem, ob die Bundesanwälte länger oder kürzer beraten wollen, werden die Angeklagten hinausgeführt oder sie können im Verhandlungsraum bleiben. Das Gericht erscheint, hört die Stellungnahme, genauer: die ablehnende Stellungnahme der Bun- desanwaltschaft und zieht sich dann selbst zur Beratung zurück, in der Regel schon wissend, wie lange man zum Nachdenken brauchen werde, denn das wird zur Freude der Prozeßbeobachter vorher bekanntgegeben. Man kann die Frühstückspause entsprechend einrichten.
Wenn im Anfang des Prozesses die Vermutung geäußert wurde, die Vertrauensverteidiger, die man, ob Wahl-, ob Pflichtverteidiger, so nennen muß, weil die vom Gericht bestellten Pflichtverteidiger jedenfalls nicht das Vertrauen der Angeklagten haben — die Vertrauensverteidiger also seien ständig auf Prozeßordnungslücken-Suche aus und verschleppten durch ellenlange Antragsbegründungen das Verfahren, so ist eine solche Vermutung in der jetzt erreichten Prozeßsituation nicht mehr berechtigt. Die Vertrauensverteidiger haben es gar nicht mehr nötig, den Prozeß in die Länge zu ziehen, weil das die Strafverfolgungsbehörden selbst besorgen. Nicht genug, daß die drei Vertrauensverteidiger Andreas Baaders kurz vor Beginn des Prozesses aufgrund eines in seiner Qualität, Wirksamkeit und Weisheit fragwürdigen Gesetzesaktes ausgeschlossen wurden: jetzt haben Bundes- und Länderstaatsanwaltschaften in einer offenkundig konzertierten Aktion zwei der ausgeschlossenen Anwälte verhaftet und die Büros und Wohnungen auch des dritten und sogar einer amtierenden Verteidigerin durchsucht. Sie haben mitgenommen, was ihnen zur Stützung der verschiedenen Anklagen dienlich erschien. Damit war nicht nur die Verteidigung in ihrer forensischen und öffentlichen Wirkung behindert — was der Gerichtsvorsitzende zugeben und woraufhin er den Prozeß unterbrechen mußte —, nein, im Grunde ist ja auch das Gericht selbst durch die Aktionen desavouiert worden. Der Terminplan des Gerichts wird durcheinandergebracht, weil die Bundes- und Staatsanwälte mal wieder zuschlagen und auch das Material mitgehen lassen, welches das Gericht einem neu zugelassenen Vertrauensanwalt zugedacht hatte, der bisher die für seine Arbeit nötigen Unterlagen vom Gericht noch nicht bekommen hat. Er wird sie voraussichtlich in der nächsten Woche bekommen, aber erst, nachdem die Staatsanwaltschaft ihre Kopien davon angefertigt hat. Die Verteidigungskonzeption ist, wenigstens zum Teil, in die Hände der Bundes- und Staatsanwälte gelangt, und damit ist die Waffengleichheit im Prozeß bedroht.
Natürlich bestreiten das die Vertreter der Bundesanwaltschaft: Es handle sich da jeweils um andere Staatsanwälte und um andere Verfahren. Aber sie bestreiten es nicht intelligent genug: sie geben bei der nächsten Frage unfreiwillig zu erkennen, daß sie doch und schon jetzt Informationen über den Inhalt der beschlagnahmten Materialien haben. Sie wollen nämlich verhindern, daß der Prozeß ihrer Aktion wegen unterbrochen wird, und so behaupten sie, die beschlagnahmten Stücke enthielten nichts, was in diesem Prozeß jetzt gebraucht würde. Aber woher wissen sie das plötzlich so genau? Im übrigen ist es in Anbetracht der zunächst ja vom Gericht zugelassenen Blockverteidigung nicht möglich, zwischen den einzelnen Verfahren und Personen so säuberlich zu unterscheiden, wie die Bundesanwaltschaft es zu tun angibt. Wenn man die Kanzlei Groenewolds in Hamburg durchsucht, dann kann man dort möglicherweise auch Ablichtungen von Briefen und Akten anderer noch amtierender Verteidiger finden, und man hat sie auch gefunden, weil ursprünglich und ganz legal jeder der Vertrauensverteidiger dieses Verfahrens für jeden Angeklagten zugelassen war. Der Gesetzgeber hat ein solches Verfahren mit Wirkung vom 1. Januar unterbunden — längst nachdem sich das Verteidiger-Kollektiv gebildet hatte und der Aktenaustausch organisiert worden war.
Jetzt operieren die Staatsanwaltschaften zwar auf einer Basis der Legalität, wenn sie im Verfahren A bei B Akten beschlagnahmen und sie gegen C verwenden, aber diese Legalität ist — im Verhältnis zu den grundlegenden Prinzipien der Strafprozeßordnung — noch etwas grün und unausgereift. Sie dient dem staatlichen Verfolgungsinteresse mehr als dem Schutz des angeklagten Individuums.
Die Frage soll nicht unterdrückt werden, ob wir, ob Staat und Justiz es denn so genau nehmen müssen mit dem Recht angesichts von Beschuldigten, die ihrerseits mit den Rechtsvorschriften nur spielen, sie aber — nach eigener Aussage — nicht akzeptieren. Ja, wir müssen es genau nehmen, denn Recht ist nur, was für jedermann in gleicher Weise gilt. Wir zerstörten unseren Rechtsstaat, wenn wir seine Regeln nicht auf alle gleichermaßen anwendeten. Nicht wenige Prozeßbeobachter von Stammheim befürchten, daß die sich dort gelegentlich zeigende Unsicherheit in der Rechtsauslegung, daß der allzu lasche, formalistische Umgang mit Argumenten unsere Justiz allgemein infizieren könnte. Läuft das nicht schon, so fragte mich ein Kollege, auf eine Verweigerung des rechtlichen Gehörs hinaus?
Wir beobachten diesen Prozeß mit wachsender Beklommenheit und mit einer langsam versiegenden Hoffnung darauf, daß der Rechtsstaat sich in Stammheim so souverän zeige, wie das dieser Sache angemessen ist. Es sollte nicht mehr geschehen, daß man aus dem Munde des Richters Vorweg-Urteile über die Beschuldigten hört, wenn auch nur in Zitatform. Man sollte, wenn ein Strafverteidiger wegen Beteiligungs-Verdachts ausgeschlossen oder verhaftet wird, dafür besseres Beweismaterial haben als die Behauptung, er habe auf Pressekonferenzen ein internationales Interesse für die Angeklagten erregt und für ihre angeblich politischen Ziele geworben. Man sollte sich, auch gegenüber einem die Formen nicht wahrenden Angeklagten, zu gut dafür sein, seinerseits den Angeklagten zu schulmeistern in dem „Stil”: „Sie als Akademiker müßten doch wissen …”: Es geht ja nicht darum, was der Akademiker Raspe wissen müßte, sondern was er getan hat. Ist es nötig und dient es dem Recht, daß Verhaftungsaktionen immer so spektakulär inszeniert werden? Daß der eine Verteidiger in der Pause einer Schwurgerichtsverhandlung gefaßt wird, daß die andere, die doch täglich im Stammheimer Justizgebäude den Bundesanwälten präsentiert ist, an einem sitzungsfreien Tage in Stammheim von sechs Autos gestoppt und der erkennungsdienstlichen Behandlung zugeführt wird? Die Potenz unseres Rechtsstaats sollte sich anders zu artikulieren wissen!

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