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Solidarität in der Vertei­di­gung der Grundrechte

vorgängevorgänge 1611/1975Seite 97-99

aus: vorgänge Nr. 16 (Heft 4/1975), S. 97-99

Heinrich Albert, Heinrich Böll, Helmut Gollwitzer u.a.: „Pfarrer, die dem Terror dienen“? Bischof Scharf und der Berliner Kirchenstreit 1974. Eine Dokumentation. rororo-aktuell 1885, Reinbek 1975, 136 Seiten, 4.80 DM.

Wofür steht der „Berliner Kirchenstreit 1974”? Was an ihm ist — über seine innerkirchliche Bedeutung hinaus — exemplarisch und nach einem guten halben Jahr noch so aktuell, daß man den Lesern dieser Zeitschrift die Lektüre des rororo-Bändchens unbedingt empfehlen möchte?
Auf diese Frage läßt sich mit dem Herausgeber der Reihe, Freimut Duve, zunächst zweierlei antworten:
1. Der Berliner Kirchenstreit muß verstanden werden als einer der immer zahlreicher werdenden Versuche in unserem Lande, „alle Maßstäbe christlichen, demokratischen und sozialen Handelns im Handstreich zu verbiegen”. An ihm läßt sich beispielhaft belegen, wie „mit dem Terror-Wort Baader-Meinhof und einer brutalen Pressemechanik immer längere Dominoketten bis tief ins Zentrum unserer demokratischen Verfassung hinein ausgelegt” werden.
2. Der mutige Kampf von Männern wie Scharf, Albert, Gollwitzer und zahlreicher anderer engagierter Pastoren und kirchlicher Mitarbeiter ist nicht nur ein Kampf innerhalb der Kirche, sondern geschieht zugleich „stellvertretend für viele außerhalb, die angesichts wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen zunehmend Angst haben um den Bestand der demokratischen Verfassung”.
– Im Verhalten dieser Männer wird eine „Solidarität der Demokraten” sichtbar, die freilich erheblich anders akzentuiert ist als die offiziell geforderte und sich der Unterwerfung unter herrschende politische Ideologien, ererbte bürgerliche Feindschaften und institutionalisierte weltanschauliche Trennungen widersetzt.
Damit ist gesagt, daß der Berliner Kirchenstreit des Spätherbstes 1974 keine institutionell und lokal begrenzte Affäre, sondern Modellfall eines politisch-ideologischen Grundkonflikts ist, der unser öffentliches Leben in immer neuen Akten durchzieht. Die Dramaturgie und die Dramaturgen dieses Konflikts sind seit langem dieselben; und sie sind, dank ihres Pressepotentials, allgegenwärtig. Methoden und Ziele haben sich bis heute nicht geändert, nur die Anlässe wechseln:
Ob es der Mord an Günther von Drenkmann und die Verhaftung zweier kirchlicher Mitarbeiter oder ob es die Lorenz-Entführung war; ob es die neue Berliner Kontroverse um die Gefängnisseelsorge oder ob es eine frühere Bekanntschaft der Tochter des Bundesverfassungsrichters Helmut Simon mit Carmen Roll (zum Baader-Meinhof-Kreis gehörig) ist, — allemal ist das Schreckenswort „Baader-Meinhof” der willkommene Hebel, um nicht nur den Terrorismus zu verurteilen, sondern alle, die links von der Mitte der „schweigenden Mehrheit” zu denken und zu handeln wagen, dem Geruch des „Sympathisantentums” preiszugeben. In ihrer Austauschbarkeit markieren die Schlagzeilen einer gewissen Presse und die entsprechenden Aussprüche von Politikern eine erschreckende Kontinuität und Konsequenz:

— „Handgranaten im Talar” (Bild, 25.11.75)
— „Baader-Meinhof -Bischof” (Landtagspräsident Wilhelm Lenz, CDU, Ende November 1974) — Böll und Gollwitzer gehören zu denjenigen, „die in unserem Lande die Saat der Gewalt gepflegt und kultiviert haben” (Berlins CDU-Chef Heinrich Lummer, Anfang Dezember 1974)
— „Pfarrer, die dem Terror dienen” (Quick, 5.12. 74)
— „Der Mann, der als Geisel gefordert wird: Heinrich Albertz — wer ist das? Der 1967 zurückgetretene regierende Bürgermeister gehört schon seit langem zum schillernden Personenkreis, der sich besonderer Sympathien der äußersten Linken  erfreut“ (Hamburger Abendblatt, 1 . 3 . 75)
— „ein pastoral aufgezäumtes Sympathisantentum mit dem Terrorismus” (Die Welt vom 10.6.75 im Zusammenhang mit der Berliner Kontroverse um die Gefängnisseelsorge).

Diese wenigen Ausschnitte aus einer beliebig verlängerbaren Kette von verbalen Pflastersteinen sollten jedem engagierten Demokraten zeigen, daß wir uns die Devise „Warten wir mal ab, bis sich der Pulverdampf verzogen hat”, gegenwärtig nicht mehr leisten können. Das Schwergewicht der innenpolitischen Kontroverse mag sich demnächst vom Baader-Meinhof-Komplex auf die Frage der Berufsverbote verlagern. Der Grundkonflikt aber bleibt der gleiche: Es geht um den in der deutschen Geschichte wahrhaftig nicht ersten Versuch, alle Ansätze eines radikaldemokratischen Denkens und Handelns, eines christlichen oder humanistischen Engagements, das die Denk- und Verhaltensgewohnheiten unserer Gesellschaft sprengt, im Keim zu ersticken.
Es ist der große Vorzug der vorliegenden Dokumentation, daß man an einem verhältnismäßig überschaubaren Fall einige Auskünfte und Klarheiten über die Hintergründe, Methoden und Perspektiven dieses Grundkonflikts gewinnen kann. Dazu würde ich folgendes zählen:
1. Das Buch kann vor der Illusion bewahren, wir hätten jene politisch-ideologische Konstellation, an der die Weimarer Demokratie unter anderem zugrunde gegangen ist, in der Bundesrepublik endgültig überwunden. — Im Medium einer vielschichtig zusammengesetzten konservativ-autoritären Ideologie gibt es auch heute ein mächtiges Interessenkartell zwischen Teilen der Kirche, der Presse und vor allem in der CDU beheimateter Personen und gesellschaftlicher Gruppen, das sich, notfalls mit allen Mitteln, gegen jeden weiteren Ausbau der Demokratie im politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bereich zu widersetzen versucht. Dieses Interessenkartell ist in der Regel konkret schwer nachzuweisen; im Berliner Kirchenstreit trat es jedoch mehrfach offen ans Licht. Im 4. Kapitel des vorliegenden Bandes (Rechtstendenzen in der Kirche) findet der Leser dazu nicht nur aktuelle sondern auch historische Angaben.
2. Das Buch kann vor der Illusion bewahren, wir hätten in unserer Gesellschaft wenigstens einen Grundkonsens über zulässige und nicht zulässige Formen der Auseinandersetzung erreicht. Nur die direkte Gewalt wird in unserem Land von nahezu allen abgelehnt; alle anderen Formen von Gewalt sind faktisch zugelassen, nur dürfen sie nicht beim Namen genannt werden. Die wenigen in dem Band abgedruckten Artikel aus der Pressekampagne gegen Bischof Scharf belegen zum Beispiel, wie wohlfeil in Wirklichkeit die Sprache der Gewalt, die rücksichtslose Inanspruchnahme latenter Vorurteile und die hemmungslose Diffamierung einzelner Personen und ganzer Gruppen in den letzten Jahren geworden ist. Darauf mit Erschrecken aufmerksam zu machen, gebieten nicht nur christliche und humanistische Moral, sondern auch der Wille, demokratische Grundrechte zu verteidigen. Kann man in dieser Gesellschaft und in dieser Zeit das 8. Gebot predigen, ohne von dem immer bedrohlicher werdenden Versuch zu reden, zum Beispiel die Unterscheidung zwischen Angeklagtem und Verurteiltem zu verwischen und vom Angeschuldigten den Beweis seiner Unschuld zu verlangen? (vgl dazu u.a. das in dem Band abgedruckte Plädoyer von Heinrich Böll für den Rechtsstaat).
3. Das Buch kann dennoch allen, die durch die zitierten Ereignisse und Tendenzen aufs tiefste beunruhigt sind, Mut machen, ihr Schweigen aufzugeben und ihre oft erst still vollzogene Solidarität in die Praxis umzusetzen. In den Dokumenten von den beiden Dezember-Kundgebungen in Berlin (,‚Kirche in der Verantwortung“ mit Gustav Heinemann, Reymar von Wedel, Friedrich-Wilhelm Marquardt ua; „Verleihung der Carl von Ossietzky-Medaille” mit Carola Stern, Helmut Gollwitzer und Heinrich Böll) gibt es viel, woran man sich halten und was einem zur Klarheit des Denkens und Verhaltens helfen kann.

Die Verleihung der Carl von Ossietzky-Medaille an Heinrich Böll und Helmut Gollwitzer am 8. Dezember 1974 im jüdischen Gemeindehaus von Berlin wurde zugleich zu einer Vertrauenskundgebung für Bischof Scharf. Die Laudatio von Carola Stern auf Gollwitzer und die Bemerkung von Heinrich Böll, das Verhalten des Berliner Bischofs sei fast „zum Evangelischwerden”, signalisieren, daß Frauen wie Carola Stern und Männer wie Albertz, Böll,  Gollwitzer und Scharf überkommene Gegensätze (evangelisch-katholisch, christlich-humanistisch, freiheitlich-sozialistisch), die zum Inventar und Korsett des spätbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und ihrer politischen Moral gehören, hinter sich gelassen haben, in ihrem Engagement für die elementaren Grundrechte des Menschen und in ihrem Eintreten für eine gewaltfreie und gerechtere Regelung der menschlichen Beziehungen aber nicht korrumpierbar sind. Dieses „neue Denken” ist es, das den konservativ-autoritären Geist zu Abwehr und Haß provoziert, weil es seine Ordnungen, seine „Welt” radikal infrage stellt.
Mit diesem Haß werden wir, so wie die Dinge stehen, noch lange zu tun haben; und die Versuchung, darauf ebenfalls mit Haß und Gewalt zu reagieren, ist nicht gering. Diese Versuchung aus sittlicher Kraft und politischer Überzeugung auszuschlagen, dazu können die Autoren des vorliegenden Bandes verhelfen.

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