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Die Doppel­struktur der Stadt als politische

Kommune und zivilgesellschaftliche Bürgergemeinde

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S. 20-28

das dringend sich äußernde Bedürfnis..,, der Bürgerschaft… eine tätige Einwirkung auf die Verwaltung des Gemeinwesens beizulegen und durch diese Teilnahme Gemeinsinn zu erregen und zu erhalten. “ (Präambel der Preußischen Städteordnung von 1808)

Im Folgenden geht es um die doppelte Funktion der modernen Stadt als politisches Verfassungsorgan einerseits und als zivilgesellschaftlicher Lebens- und Entfaltungsraum andererseits. Zunächst wird die Entwicklung dieser „Doppelstruktur” historisch nachgezeichnet: die politische Kommune (als Gesamtheit der kommunalrechtlich verfassten und institutionalisierten Politik- und Verwaltungsstrukturen) und die gesellschaftliche Sphäre des städtischen „Gemeinwesens”, die „örtliche Gemeinschaft” stehen sich schon seit geraumer Zeit gegenüber (vgl. Wollmann 2002b). Es soll vor allem verdeutlicht werden, dass in der jüngsten Diskussion um die „Bürgergemeinde” diese der deutschen Kommunalgeschichte eigentümliche „Doppelstruktur” vielfach vernachlässigt, wenn nicht ignoriert und damit der konzeptionelle und politische Neuigkeitswert der Rede von „Bürgergemeinde” überzeichnet wird. In einem zweiten Schritt soll, mit 1945 ein-setzend, die jüngere Entwicklung dieser beiden Stränge detaillierter betrachtet und der gegenwärtige Diskussions- und Praxisstand knapp markiert werden. Abschließend soll erörtert werden, ob und — wenn ja – welches Handlungspotenzial die mögliche Verbindung dieser beiden Strukturen und „Gesichter” von Stadt und die hieraus folgenden politischen und (zivil-)gesellschaftlichen Rollen ihrer Bürger angesichts der sozioökonomischen und budgetären Probleme und Herausforderungen, denen sich unsere Städte derzeit gegenübersehen, eröffnen können.

1. Die politisch-­ge­sell­schaft­liche „Doppel­struk­tur” der Gemeinden und Städte

In ihrer auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgehenden Entwicklung prägt sich die konzeptionelle und institutionelle „Doppelstruktur” der Städte einerseits darin aus, dass (beispielhaft in der einleitend zitierten Preußischen Städteordnung; vgl. Engeli/Haus 1975: 107ff.) die institutionell verfasste „Stadtgemeinde” geschaffen wurde — als „Inbegriff sämtlicher Bürger der Stadt” — mit der von diesen (allerdings nach einem das besitzende Bürgertum bevorteiligenden und die Frauen ausschließenden Wahlrecht) gewählten Gemeindevertretung („Stadtverordnetenversammlung“) und dem wiederum von dieser zu wählenden „Magistrat”. Durch die „unbeschränkte Vollmacht” der Gemeindevertretung, die Bürger „in allen Angelegenheiten des Gemeinwesens der Stadt” zu vertreten und „sämtliche Gemeine-Angelegenheiten für sie zu besorgen”, findet die alle lokalen Angelegenheiten umfassende Zuständigkeit als Grundformel der kommunalen Selbstverwaltung Eingang in die deutsche Kommunalgeschichte. Die Regelung, die jeden Bürger verpflichtete, „öffentliche Städteämter, sobald er dazu berufen wird, zu übernehmen und sich den Aufträgen zu unterziehen, die ihm zum Besten des Gemeinwesens der Stadt gemacht werden” – und dies grundsätzlich ohne Entgeltung —, war die „die Geburtsstunde des bürgerlichen Ehrenamtes” (Sachse 2002). Ungeachtet der Einschränkungen, die dieses frühe Kommunalmodell (und seine Schattierungen in der Vielzahl der deutschen Einzelstaaten) im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts unter dem Griff der reaktionären Staatsregierungen erlitt, entwickelte sich so das der deutschen Kommunaltradition eigentümliche breite Aufgabenmodell. In dem Maße, wie sich die Staatsregierungen bis ins späte 19. Jahrhundert aus den durch Industrialisierung und Urbanisierung ausgelösten sozialen Problemen weitgehend heraushielten, oblag es den Städten, Hilfestellungen zur Linderung der sozialen und Wohnungsnot (vgl. Wollmann 1983) und Einrichtungen der „Daseinsvorsorge” (Wasserversorgung, Kanalisation usw.) einzuleiten und damit (von Konservativen und „Manchester liberalen” des „Munizipalsozialismus” bezichtigt) Vorreiter des modernen Sozialstaats zu werden.

Auf der anderen Seite und parallel zu dieser Entwicklung wurden die Städte und ihr „Gemeinwesen” seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Motor und Schauplatz der sich immer stürmischer entfaltenden „bürgerlichen Gesellschaft” und der kapitalistischen Wirtschaft — mit lokalen Gewerbetreibenden und Fabrikanten, einem rasch emporschießenden bürgerlichen Vereinsleben, karitativen Einrichtungen der Kirchen sowie der Vereine und Selbsthilfeorganisationen der Arbeiterbewegung.

Die das philosophische und politische Denken des 19. Jahrhunderts prägende Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft bildete sich also auch in den Städten ab und zeigte sich vor allem daran, dass das städtische Bürgertum die Städte und Gemeinden als eine bürgerlich gesellschaftliche Sphäre betrachtete, die im klaren Gegensatz zum monarchisch beherrschten Staat stand.

2. Die Stadt als „politische Kommune”

Das die deutsche Kommunaltradition kennzeichnende breite Aufgabenmodell, auf dem auch die Neubegründung der kommunalen Selbstverwaltung nach 1945 beruhte, erhielt im Verlaufe der 1960er und 1970er Jahre ein noch ausgeprägteres Profil, da – in Widerspiegelung der auf allen politischen Ebenen verfolgten neo-keynesianischen Interventions- und Sozialstaatspolitik – die Städte und Kreise in dieser Phase viele zusätzliche und wachsende Aufgaben insbesondere in der Infrastruktur, Umwelt- , Stadterneuerungs-, Sozial- und Beschäftigungspolitik übernahmen. Der Eingriffsradius der Städte in sozioökonomische Probleme und Prozesse wurde so enorm erweitert. In dem Maße freilich, in dem die Regelungsdichte „von oben” in den Städten zunahm und diese in finanzielle Abhängigkeit von den Ländern brachte, zeichnete sich die Gefahr einer wachsenden Indienstnahme und „Verstaatlichung” der kommunalen Politik- und Verwaltungsebene ab.

In ihrer politisch-demokratischen Verfassung waren die Kommunen nach 1945 — ungeachtet der Unterschiede zwischen den verschiedenen Kommunalordnungen — vorrangig vom repräsentativ-demokratischen Prinzip bestimmt, wonach die von den Bürgern gewählte Kommunalvertretung das oberste kommunale Entscheidungsorgan war. Sieht man von Baden-Württemberg, wo Mitte der 1950erJahre verbindliche kommunale Referenden eingeführt wurden, sowie einigen Ländern ab, die für Kleinstgemeinden die Möglichkeit (direkt-demokratischer) Gemeindeversammlungen vorsahen (vgl. Wollmann 1999: 40), waren den Kommunalverfassungen der Nachkriegszeit direkt-demokratische Bürgerrechte unbekannt.

Diese Dominanz der repräsentativen Demokratie blieb bis in die späten 1980er Jahre erhalten, wenn auch zwei Modifikationen zu erwähnen sind, die aber letztlich an der Entscheidungszuständigkeit der Kommunalvertretung — jedenfalls formal — nicht rüttelten. Dies sind zum einen jene Regelungen, die darauf gerichtet sind, die Bürger — über die gewählten Vertreter hinaus — an Entscheidungsprozessen (beratend) zu beteiligen und damit den Kreis der „ehrenamtlich” Tätigen zu erweitern. Hierzu gehören die Mitwirkung „sachverständiger” Bürger in Ausschüssen der Kommunalvertretung (vgl. Schefold/Neumann 1996: 93f.), die Kinder- und Jugendhilfeausschüsse in der Kommunalvertretung, die neben Mitgliedern der  Gemeindevertretung auch von den Jugendverbänden benannte Vertreter umfasst, die volles Stimmrecht besitzen (vgl. Greese 1999: 723ff.), sowie jene Kommissionen und Beiräte, die von den Kommunen seit den 1960er Jahren in der Absicht gebildet worden sind, gewisse Beteiligungsmöglichkeiten für solche Bevölkerungsgruppen zu schaffen, deren Partizipationschancen aus spezifischen Gründen (geringe „soziale Kompetenz”, geringe Handlungsressourcen usw.) ansonsten schmal sind (vgl. Roth 2001: 135). In diesen Kontext gehören vor allem die Ausländerbeiräte (vgl. Kersting 1997b; SchefoldlNeumann 1996: 140ff.), die Seniorenbeiräte (vgl. Kersting 1997a), die Behindertenbeiräte (vgl. Kersting 1997a) und die so genannten Kinder- und Jugendparlamente (vgl. Greese 1999: 726). Als — vielfach von den Betroffenen gewählte — Interessenvertretungen eröffnen Beiräte durchaus die Möglichkeit, sich bei Gemeindevertretung und Verwaltung Gehör zu verschaffen (vgl. Kersting 2002:151).

Parti­zi­pa­tive Verfahren

In den späten 1960er und 1970er Jahren erlebte die Bundesrepublik mit dem Entstehen von Bürgerinitiativen und Protestbewegungen eine „partizipatorische Revolution” (Kaase 1982), auf die das politische System durch einen Schub von Anhörungs- und Beratungsverfahren reagierte, ohne freilich die Dominanz der repräsentativ-demokratischen Prämisse in Frage zu stellen.

Beispielhaft sei auf die in den 1970er Jahren in Bundes- und Landesgesetzen eingeführte (konsultative) Bürgerbeteiligung an Planungsverfahren verwiesen (vgl. Enquete-Kommission 2002a: 598ff.), insbesondere auf die (1976 in das Bundesbaugesetz aufgenommene) so genannte vorgezogene Bürgerbeteiligung anlässlich der Aufstellung von kommunalen Bauleitplänen. Des weiteren sind für die kommunale Praxis — wiederum teilweise in die 1970er Jahre zurückreichend — punktuelle oder ad-hoc-Verfahren der Bürgerbeteiligung zu nennen (vgl. Enquete-Kommission 2002a: 598). Hiervon sei vor allem die Lokale Agenda 21 hervorgehoben: Im Abschlussdokument „Agenda 21” der 1992 in Rio de Janeiro abgehaltenen UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung wurden die Kommunen weltweit aufgefordert, in Konsultation mit allen kommunalen Akteuren eigene Pläne film eine nachhaltige Entwicklung zu verabschieden. Inzwischen haben fast neun-zig Prozent der Städte einen Beschluss zur Lokalen Agenda 21 getroffen, fast drei Viertel haben ein Leitbild für nachhaltige Entwicklung verabschiedet oder planen Entsprechendes. Schließlich ist noch die von Peter Dienel in den 1970er Jahren konzipierte und seitdem in Städten wiederholt praktizierte „Planungszelle” als partizipatives Politikberatungsverfahren hervorzuheben (vgl. Dienel 1996: 116f.).

Insgesamt ist also über die Jahre ein durchaus beachtliches Repertoire an Verfahren der Bürgerbeteiligung entstanden, durch die die Informations-, Anhörungs- und Mitspracherechte der Bürger im lokalen Kontext erweitert worden sind, ohne an dem Entscheidungsrecht der Kommunalvertretungen zu rütteln. Trotzdem haben diese partizipativen Verfahrensneuerungen die lokale Planungspraxis und -kultur vielerorts nachhaltig verändert.

Kommunale Bürger­be­gehren und -entscheide als direkt­de­mo­kra­ti­sches Entschei­dungs­recht

Seit den frühen 1990er Jahren ist in die bisherige Vorherrschaft der repräsentativen Demokratie auf der lokalen Ebene dadurch eine bemerkenswerte Bresche geschlagen worden, dass binnen weniger Jahre in allen Bundesländern verbindliche lokale Referenden (sowie die Direktwahl der Bürgermeister und teilweise auch deren Abwahl durch Referenden) eingeführt worden sind.

Bislang haben die Bürger von kommunalen Referenden bemerkenswert geringen Gebrauch gemacht (vgl. Wollmann 2002c: 245ff, auf Basis der Daten von Gabriel 1999) — mit Ausnahme von Bayern und Nordrhein-Westfalen, wo eine deutlich höhere Anwendungshäufigkeit als in den anderen Ländern zu beobachten ist. Überdies wurde ein erheblicher Teil der Bürgerentscheide nicht aus der Mitte der Bürgerschaft (als „Bürgerbegehren“), sondern aus der Mitte der Gemeindevertretungen (als „Ratsbegehren”) initiiert. Rechnet man die bislang bundesweit durchgeführten Bürgerentscheide auf die Gesamtzahl der Gemeinden um, fände ein Bürgerentscheid in der einzelnen Gemeinde durchschnittlich einmal in 200 Jahren statt.

Die Tatsache, dass von den kommunalen Referenden in der Bundesrepublik bislang in wesentlich geringerem Umfang Gebrauch gemacht wird als in der Schweiz und in den USA, den beiden Ländern, in denen kommunale Referenden die längste Tradition haben, dürfte zum einen institutionell zu erklären sein. Sind doch sowohl in der Schweiz als auch in den USA die Initiativ-Begehrenshürden deutlich niedriger und Abstimmungsquoren kaum vorgesehen (vgl. von Armin 2000: 320£), Hinzu kommt, dass diesen Ländern der den deutschen Regelungen geläufige Ausschluss von Themen, insbesondere von Finanz-und Haushaltsthemen („Finanztabu“), unbekannt ist. Insgesamt ist damit die institutionelle Anreiz und Gelegenheitsstruktur für die Bürger, an der Entscheidung kommunaler Themen mitzuwirken, in der Bundesrepublik wesentlich schwächer ausgeprägt. Des weiteren sind offenbar -politikkulturelle Faktoren im Spiel. Während die direktdemokratischen Teilhaberechte und deren Wahrnehmung in der Schweiz und in den USA in eine entsprechende Verfassungstradition und politische Kultur eingebettet sind, steht ein entsprechen-der Kulturwandel in der Bundesrepublik noch immer weitgehend am Anfang.

Ungeachtet der bislang verhältnismäßig geringen tatsächlichen Anwendungsrate ist nicht zu bezweifeln, dass die Einführung der verbindlichen lokalen Referenden die kommunalpolitischen Karten im Verhältnis von Bürgern und Kommunalvertretung neu gemischt hat, und die Bürger in ihrer politischen Rolle unübersehbar gestärkt worden sind. Die bloße Möglichkeit eines Bürgerbegehren wird von den Kommunalvertretungen als ein kommunalpolitisches „Damoklesschwert” wahrgenommen, auf das sich diese durch frühzeitige Kompromiss- und Konsenssuche einstellen, Einschränkend bleibt freilich zu erwähnen, dass diese vermehrten Einflusschancen weniger von den bislang artikulations- und vertretungsschwachen Bevölkerungsgruppen als vielmehr von „gut ausgebildeten, sozial integrierten und einkommensstarken Bevölkerungsgruppen” (Gabriel 2002: 147f.) genutzt werden.

3. Die Stadt in ihrer (zivil-)gesell­schaft­li­chen Dimension

Bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückreichend, sind die Städte in das „zivil-gesellschaftliche” Umfeld ihrer „örtlichen Gemeinschaft” eingebettet. Dies gilt insbesondere für den Bereich der sozialen Dienstleistungen, die nach dem traditionellen, vom Bundessozialhilfegesetz von 1961 bekräftigten „Subsidiaritätsprinzip”, überwiegend von den gemeinnützigen Wohlfahrtsverbänden („freien Trägern“) erbracht werden.

In auffälliger zeitlicher Parallelität zur Expansion des Sozialstaats und der damit ein-hergehenden weiteren Ausdehnung der kommunalen Aktivitäten in den 1960er und 1970er Jahren (und vermutlich zumindest teilweise in Reaktion auf diese) erlebten die Städte in dieser Phase das Aufbrechen und Vordringen (neuer) sozialer Bewegungen, die vielfach von einem „gegen gesellschaftlichen” (und teilweise auch militanten) Impetus beflügelt waren (vgl. Roth 1999: lOff.). Zugleich traten zahlreiche soziale und ökonomisch-alternative Selbsthilfegruppen an die Öffentlichkeit, die zur raschen Ausdehnung eines Dritten oder Alternativen Sektors – in der Zwischenzone „zwischen Staat und Markt” – beitrugen.

In der sozialwissenschaftlichen Diskussion der damaligen Zeit spiegelte sich diese politisch-gesellschaftliche Entwicklung darin wider, dass den Forderungen des expandierenden Sozialstaats nach einer Verkürzung auf ein institutionalisiertes, wenn nicht „verstaatlichtes” Kommunalmodell entgegengetreten und dem die Vorstellung von einer die politische und gesellschaftliche Arenen und Sphären umfassenden lokalen Politik entgegengesetzt wurde (vgl. Grauhan 1975: 12). In diesem Zusammenhang zogen auch die Wohlfahrtsverbände zunehmende Kritik auf sich, in der gegen ihre „großorganisatorische Verformung” und ihren Übergang „von einer Institution bürgerschaftlicher Selbstorganisation zur professionellen Sozialbürokratie”, zur „gesellschaftlichen Außenstelle staatlicher Sozialbürokratie” (Sachsse 2002: 26) Front gemacht wurde. Im soziologischen Diskurs wurden hinsichtlich der persönlichen Dienstleistungen die konzeptionelle Aufmerksamkeit auf die „Koproduktion” zwischen den in Betracht kommenden Dienstleistern und den Betroffenen gelenkt (vgl. Badura/Gross 1976) und engagiertes „Laientum” an der Stelle von „Professionalisierung, Verrechtlichung und Monetarisierung” gefordert. Mit ähnlicher Stoßrichtung wurde die „Doppelstruktur” der Stadt mit dem Bild von der „Zweiten Stadt” (vgl. Blanke/Evers/Wollmann 1986) und mit dem Konzept einer „neuen Ehrenamtlichkeit” (A. Evers) in den Blick gerückt.

Angesichts der beeindruckenden Dichte und Heterogenität zivilgesellschaftlicher Aktivität in den Städten und Kommunen gehen diese Forderungen ganz offenbar in die richtige Richtung. In einer Studie von Anheier u.a. aus dem Jahre 2000 wurde dieses Netzwerk bürgerschaftlicher Einrichtungen auf Grundlage der Indikatoren Selbstorganisation, Gemeinsinn und bürgerschaftliches Engagement empirisch erfasst (87ff.) Die zentralen Ergebnisse lauten:

Die Selbstorganisation der zivilgesellschaftlichen Aktivitäten wies in den letzten Jahren eine hohe (und absehbar weiterhin ungebrochene) Dynamik auf. So ist die Zahl der Selbsthilfegruppen und Initiativen von 25.000 im Jahr 1985 auf 60.000 im Jahr 1995 gestiegen.

Aus repräsentativen Umfragen zum Gemeinsinn lässt sich ablesen, dass neben den auf individuellen Nutzen abstellenden Beweggründen Gemeinsinn-orientierte Motive einen hohen Stellenwert haben. So sagten jeweils mehr als acht von zehn Bürgern, dass sie sich engagieren, weil anderen zu helfen ihrem Leben einen Sinn gibt.

Darüber hinaus belegen neuere Untersuchungen, dass sich jeder dritte Bundesbürger über 14 Jahren in irgendeiner Form ehrenamtlich engagiert und hierfür im Durchschnitt knapp fünf Stunden Zeit in der Woche aufwendet. Allerdings zeichnen sich im Grad und in der Häufigkeit des organisatorischen Kontextes der individuellen zivilgesellschaftlichen (ehrenamtlichen) Aktivitäten erhebliche und folgenreiche Verschiebungen ab. Die klassische ehrenamtliche Betätigung mit ihrer eher dauerhaften Einbindung in Vereine und Institutionen (aber auch in Parteien und Gewerkschaften usw.) schwindet, während die eher losen, aus je konkretem Anlass und um ein bestimmtes Projekt gebildeten Zusammenschlüsse und gestifteten Engagements einer „neuen” Ehrenamtlichkeit in Bürgerinitiativen und anderen ad-hoc-Gruppen zunehmen – in Widerspiegelung jenes allgemeinen Wertewandels, in dem die Entscheidung des Einzelnen, sich ehrenamtlich zu engagieren, weniger von vorgegebenen organisatorischen und verbandlichen Interessen als vielmehr durch seine biographische Situation und sein Selbstverwirklichungsinteresse bestimmt wird (vgl. Sachsse 2002: 27).

4. Die politische und gesell­schaft­liche Rolle der Bürger – Chancen für eine Synthese?

Fasst man unsere Kurzdarstellung mit Blick auf die in diesem Aufsatz angesprochene „Doppelstruktur” der Stadt zwischen „politischer Kommune” und „zivil-gesellschaftlicher Gemeinschaft” und den hieraus folgenden politischen bzw. gesellschaftlichen Rollen der Bürger zusammen, so kann zweierlei festgehalten werden.

In ihrer politischen Rolle sind die Bürger durch die Einfiürung der verbindlichen lokalen Referenden unverkennbar gestärkt worden, auch wenn die tatsächliche Nutzung der Referenden hinter der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung deutlich zurückbleibt. Hinsichtlich ihrer (zivil-) gesellschaftlichen Rolle deuten die herangezogenen empirischen Befunde auf eine bemerkenswerte Dichte und Dynamik der (zivil-)gesellschaftlichen Initiativen und Netzwerke hin, die – allen Unkenrufen zum Trotz – in den letzten Jahren eher zu als abgenommen hat. Die „gesellschaftliche” Bürgergemeinde hat mit der Ausdehnung der Selbsthilfegruppen und -aktivitäten und der Entfaltung der Handlungsfelder der „neuen Freiwilligkeit” und „neuen Ehrenamtlichkeit” eine zusätzliche Dimension und zugleich an Dynamik gewonnen (vgl. Enquete-Kommission 2002a: 309f)

So scheinen die Voraussetzungen für eine noch stärkere Verknüpfung der unterschiedlichen Rollen der Bürger aussichtsreich und tragfähig gegeben zu sein (vgl. Schröter/Wollmann 1998), um den für unsere Städte (über-)lebenswichtigen Gemeinsinn am Leben zu halten.

Allerdings bedarf es hierzu der gebotenen institutionellen Vorkehrungen und auch der organisatorischen wie finanziellen Unterstützung. In diesem Zusammenhang ist zustimmend an das Konzept vom „aktivierenden Staat” zu erinnern, das sich die rot-grüne Bundesregierung auf ihre Fahne geschrieben hat und das der Bundeskanzler in emphatischem Pleonasmus(„zivile Bürgergesellschaft“) als eine „neue Arbeits- und Verantwortungsteilung zwischen Staat und Gesellschaft” beschworen hat. Die unterstützende Rolle des Staates wird hierbei mit der Formel umschrieben: „Die Zivilgesellschaft braucht einen besseren, einen aktiven und einen aktivierenden Staat” (Schröder 2000: 202). Entsprechende unterstützende Konzepte und Aktivitäten sind den Kommunen abzuverlangen. „Kooperationsformen zu finden, die dem Eigensinn, den Ressourcen und der Leistungsfähigkeit schwach organisierter Initiativen angemessen sind und zugleich stärkere Akteure integrieren, gehört zu den anspruchsvollsten Entwicklungsaufgaben der Kommunalpolitik.” (Enquetekommission 2002a: 348) Etwas technokratisch, aber zutreffend wird auch von einem von den Gemeinden zu leistenden (und zu finanzierenden!) „Partizipationsmanagement” (Bürgerbeauftragte, Freiwilligenagenturen, Stadtteilbüros usw.) gesprochen.

Für ein Gelingen dieser Verknüpfung und der Entfaltung der hieraus möglichen Synergien zeichnen sich freilich mehrere Hürden und Schranken ab, die beiseite zu räumen wären. So ist zwar die Stärkung der direktdemokratischen Rechte der Bürger beachtlich. Jedoch drohen diese (wie auch die Entscheidungskompetenzen der Kommunalvertretungen) in dem Maße ins Leere zu laufen, wie das traditionelle Aufgabenmodell der Kommunen durch einflussmächtige Faktoren ausgehöhlt und das überkommene Kommunalmodell zum „Auslaufmodell” zu werden droht (vgl. Wollmann 2002a). In-folge der finanziellen Zwänge und Abhängigkeiten sind auch die in die Erbringung von sozialen und Gesundheitsleistungen eingebundenen Organisationen und Gruppen hin-sichtlich ihrer zivilgesellschaftlichen Herkunft und Verortung in doppelter (zwar gegenläufiger, jedoch gleichermaßen fataler) Richtung bedroht. Auf Grund ihrer (durch die Finanzkrise noch verstärkten) Abhängigkeit von öffentlicher Förderung und ihrer traditionellen fast symbiotischen Verklammerung mit dem Öffentlichen Sektor könnte ihre „Quasi-Verstaatlichung” weiter fortschreiten. Zugleich könnten die Kommerzialisierung und Hinwendung zu jahrmarktähnlichen Entgelten ihre Umwandlung in de-facto-Markt-Institutionen (und damit ihre weitere Entfernung aus der zivilgesellschaftlichen Herkunft) befördern (vgl. Anheier u.a. 2000: 84).

Die erforderliche Unterstützung und Stärkung zivilgesellschaftlicher Aktivitäten durch die Kommunen droht dem rigorosen Rotstift zum Opfer zu fallen, der in erster Linie bei den so genannten „freiwilligen” Zuwendungen als dem schwächsten Glied der Kette an-setzt. Es ist keineswegs abwegig zu befürchten, dass die kommunale Zivilgesellschaft als „,Sparschwein` des Staates” (Priller 2002: 45), als „Lückenbüßer für Löcher in den öffentlichen Kassen” (Dettling 2002: 2) herhalten muss. Das aber würde die Doppelstruktur der Stadt als politische Kommune und bürgerschaftlicher Lebensraum nachhaltig in Frage stellen.

Literatur

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28 vorgänge Heft 1/2004, S. 20-28
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