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„Die Soziale Stadt” - Stadt­er­neu­e­rung als Lernpro­zess?

Über Versuche der selbstreflexiven Erneuerung eines Politikfeldes[1]

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S.61-69

 

1. Einleitung

Ende 1999 reagierte eine Gemeinschaftsinitiative von Bund, Ländern und Gemeinden auf neue städtische Erscheinungsformen von Armut und Ausgrenzung. Das Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf – die Soziale Stadt” umfasst inzwischen über dreihundert städtische Gebiete in mehr als zweihundert Gemeinden, in denen neue Ansätze einer sozialorientierten Stadterneuerung erprobt werden.

An das Programm „Die Soziale Stadt” knüpfen sich verschiedene Erwartungen. Primär soll es der Abwärtsdynamik von Stadtquartieren entgegenwirken, die in das soziale und wirtschaftliche Abseits zu fallen drohen. Neben diesem Gebiets-Ziel verfolgt das Programm jedoch auch ein Policy-Ziel: Es soll dort die bisherigen politisch-administrativen Muster der Problembewältigung verändern, wo bisher das bisherige Instrumentarium der Stadterneuerung zu kurz griff. Damit strebt es neue Formen der Governance an: Die Umsetzung ist als  Verbundaufgabe mehrerer staatlicher Ebenen und Fachressorts sowie privater Akteure angelegt. Die Entwicklungspotenziale der Gebiete sollen nicht allein über eine Politik der Umverteilung, sondern vor allem über Kooperation zwischen staatlichen und privaten Akteuren gefördert werden. Die Programme zielen auf ausgewählte Gebiete, in denen sich die gravierendsten Probleme, aber auch mögliche Potenziale zu ihrer Lösung finden.

Bisher war das Geschäft der Stadterneuerung im Wesentlichen der materielle Umbau der Städte; nunmehr soll die Politik der Stadterneuerung selbst modernisiert werden — Franke et al. (2002) sprechen in diesem Zusammenhang sogar von „Stadtpolitikerneuerung”. Der folgende Beitrag will diesem Aspekt der Selbst-Transformation eines Steuerungsinstrumentes nachgehen. Denn bisherige Erfahrungen mit dem Programm lassen Suchbewegungen erkennen, in denen die Vorgaben aus der Konzeptionsphase des Prozesses allmählich in eine veränderte Praxis übersetzt werden. Absicht dieses Beitrages ist es, die Bedingungen zu identifizieren, unter denen diese Umsteuerungen stattfinden. Wie steht es um die Chancen zu einer Selbsterneuerung der Stadterneuerung? Wie – also über welche Mechanismen – wird dieser Prozess in Gang gesetzt und am Laufen gehalten? Derartige Fragen werden heute zunehmend in Begriffen des Lernens gestellt. Inwieweit lässt sich die Erneuerung der Stadterneuerung also als Lernprozess beschreiben?

II. Lernen in regulativen Arran­ge­ments

Das Programm „Die Soziale Stadt” ist Teil der Städtebauförderung des Bundes. Für die Stadtplanung ist diese seit über drei Jahrzehnten finanziell wie rechtlich das maßgebliche Instrument der Stadterneuerung. Historisch ist die Disziplin Stadtplanung – und exemplarisch gerade ihr Praxisfeld Stadterneuerung – Ergebnis von Lernprozessen, bei der Inhalte, Kontexte und Instanzen des Lernens nachgewiesen werden können (Jessen 1997); allein die letzten dreißig Jahre der Stadterneuerung zeigen deren Anpassungsfähigkeit (Walther 2003; 2004). Welche Anleihen zur Erklärung solcher Umsteuerungen lassen sich machen?

Der Versuch, selbstreflexive Umsteuerungen in Kategorien von Lernprozessen zu fassen, ist längst nicht mehr nur Sache von Lernpsychologie und Erziehungswissenschaften. Der Reorganisationsdruck in vielen gesellschaftlichen Bereichen rückt Fragen nach der Lernfähigkeit von Organisationen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses verschiedener Disziplinen. Unterschiedliche Diskurse in Betriebswirtschaft, Management-Studies und Politikwissenschaft, die von Netzwerken über die Organisationssoziologie bis zur neueren Planungstheorie reichen, thematisieren Lernprozesse. Noch wenig geklärt ist dabei der Zusammenhang, in dem Individuen, Institutionen und Professionen lernen und ob der Lernbegriff überhaupt auf Politik („Policy learning“), Organisationen („Organisational Learning“/Learning Organisations“) und Netzwerke bezogen werden kann. Bleibt der Begriff des Lernens vielleicht auf die individuelle Verarbeitung und Wahrnehmung von einzelnen Akteuren beschränkt? Dann wäre nicht vom Lernen der Professionen, Organisationen und Politik zu sprechen, das eigene Qualitäten hätte – etwa eine spezifische „Intelligenz von Institutionen” (Gualini 2001). Viel-mehr ginge es dann nur um lernende Akteure in ihrem jeweiligen Kontext: in ihren Biografien, in professionellen Handlungsfeldern, und in Organisationen.

Ohne diese konzeptionellen Fragen hier entscheiden zu können, bieten Stadterneuerung und speziell das Programm „Die Soziale Stadt” Anschauungsmaterial, wie und unter welchen Bedingungen in der Stadterneuerung Lernprozesse stattfinden und wie sie angestoßen und auf Dauer gestellt werden können. Dazu einige Stichworte:

Die Pfadab­hän­gig­keit des Lernens

Lernprozesse in der Stadterneuerung finden unter spezifischen institutionellen Umständen statt. Sie sichern Kontinuität, leiten aber auch Brüche ein. Die gerichtete Diskontinuität als Veränderung von Prämissen, Regeln und Routinen gründete im Politikfeld Stadterneuerung paradoxerweise auf der Kontinuität der institutionellen Bedingungen, unter denen neue Deutungsmuster sich verändernd durchsetzen konnten. In der Stadterneuerung war dies bisher der finanz-, verfassungs- und verwaltungsrechtliche Hintergrund der Investitionshilfen des Bundes (in Gestalt der Städtebauförderung nach § 104 (a) GG und das besondere Städtebaurecht § 164).
Das institutionelle Gerüst blieb bis heute weitgehend gleich. Neu am Bund-Länder-Programm „Die Soziale Stadt” ist jedoch, dass die Städtebauförderung des Bundes um den Appell ergänzt wird, andere Finanzierungsquellen, Fördergegenstände und Organisationsformen zuzuschalten, um den Wirkungsgrad der Maßnahmen zu erhöhen. Vor allem aber bot das Regelwerk des Städtebaus mit seinem zeitlich, sachlich und räumlich begrenztem Sonderrecht das willkommene Bett für den Gebietsansatz („Area Base“), um den Mitteleinsatz und Eingriffe in Eigentum auf eigens per Satzung ausgewiesene Gebiete zu konzentrieren. So konnte der neue Ansatz in altem Gewande auftreten. Oder in einem anderen Bild gesprochen: das Programm „Soziale Stadt” füllte neuen Wein in alte Schläuche.

Regulative Arran­ge­ments – Mehre­be­nen­po­litik, Födera­lismus und städtische Regime

Lernprozesse bei Mehrebenenpolitik vollziehen sich durch Abstimmung und Interessenabgleich. In der Bundesrepublik wurde das föderalistische Mehrebenen-Gefüge über Jahrzehnte als politisch vorteilhaftes System von checks und balances betrachtet. Mittlerweile gilt es vielen hingegen als Erblast einer zu dichten Politikverflechtung. Die Stadterneuerung, die seit 1970 mit den Gemeinschaftsaufgaben gemäß § 104 (a) GG eine der wenigen Möglichkeiten nutzt, die sich verfassungsrechtlich bieten, um Bundesmittel direkt an die Gemeinden – unter Länderbeteiligung – weiterzureichen, ist Teil der Mehrebenen-Politik und Gegenstand „vertikaler” Abstimmung zwischen Bund und Ländern, die ihre operative Grundlage jährlich neu verhandeln. Das Ergebnis ist die „Verwaltungsverordnung Städtebauförderung” (VV).

Mit der geringer werdenden Verteilungsmasse hat sich auch die Art des Arrangements geändert – mehr Handlungskoordination, weniger distributive Politik. In den 1970er Jahren war Stadterneuerung vor allem ein gestaltungsmächtiges Mittel der Umverteilung. Seitdem ging das Fördervolumen des Bundes drastisch zurück (BBR 2002). Allein der Stadtumbau Ost als letzte Säule der Städtebauförderung setzte wieder mehr Mittel ein, die sich allerdings nicht an den anfänglichen Größenordnungen messen können. Heute entscheidet indessen weniger die Quantität einer Mittel verteilenden Politik als vielmehr die Qualität der Koordination des Handelns verschiedenster Akteure, die sie als Ertrag in Aussicht stellt: Sie ist lediglich mit einem Minimum an finanziellen Anreizen ausgestattet, damit sie überhaupt greifen kann.

Als Teil eines regulativen Arrangements ließe sich das Programm wie ein Anstoß zu neuen Formen der Governance interpretieren, weil es die alten Handlungsprämissen, Institutionen, Wahrnehmungen und Problemlösungsroutinen „perforiert” – also schwächt (Mayer 1995: 233). Oder indem es andererseits positive, neue Handlungsprämissen und neue institutionelle Chancen eröffnet – also stärkt. Man könnte in diesem Sinn nach Konstellationen von Institutionen, Akteuren und Normen suchen, welche lokale „Veränderungskoalitionen” vor Ort (etwa im Sinne eines „local capacity building”) ermöglichen.

So würde das Programm „Die Soziale Stadt” tatsächlich zum Geburtshelfer von Innovation und zu einer möglichen Quelle von Selbsterneuerung werden, wenn der verengte stadtpolitische Handlungsspielraum als Voraussetzung für kreative (also nicht nur reaktive) Anpassungsleistungen interpretiert wird — in schwacher Form als metropolitan organizing capacity (vgl, van den Berg et. a1.1997) und in starker Form von Painter/Goodwin (2000) als local regulatory capacity (vgl. Güntner 2000).

Die Ambiguität der Programm­vor­gaben

Als Mehrebenen- und Mehrzielprogramme sind Strategien sozialer Stadtentwicklung meist ein Patchwork unterschiedlicher Förderlogiken und Fachpolitiken. Weil sich ihre Mittel nicht umstandslos ihren Zielen fügen, werden sie als in sich widersprüchlich eingeschätzt (vgl. Moulaert 2000; Walther/Güntner 2002). Dies gilt besonders für das Programm „Die Soziale Stadt”. Seine Logik investiver Interventionen nach Art. 104 (a) GG steht im Gegensatz zu seinen sozial transformierenden Intentionen. Rechtlich wie politisch erzeugt es dadurch Ambiguität — als Basis verschiedener Auslegungsmöglichkeiten.

Rechtlich stehen dem erklärten Ziel der direkten Beeinflussung der sozialen Verhältnisse die begrenzten Möglichkeiten eines Instrumentariums gegenüber, das lediglich indirekte Einflussnahme erlaubt. Die Städtebauförderung ist vor allem Investition in Sachen — in Straßen, Gehwege, Gebäude der sozialen Infrastruktur wie Kinder- oder Jugendfreizeitstätten, nicht jedoch in deren Personal. Sie eignet sich wenig, soziale Ziele bzw, die im Gebiet Ansässigen direkt zu erreichen (vgl. Siebel 1985: 160). Das neue Programm soll aber auch Klientele erreichen, also direkt auf soziale Sachverhalte wie Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung, Suchtverhalten, Gewalt gegen Menschen und Sachen einwirken. Dafür ist es von Haus aus jedoch nicht ausgestattet. Es fordert lediglich die Gemeinden auf, entsprechende Finanzierungsquellen und Maßnahmen selbst zu erschließen. Soziale, personenbezogene und wirtschaftliche Interventionen sollen nun gleichrangig sein. Dieser Appell könnte suggerieren, dass die strukturellen Grenzen der bisherigen Praxis nicht mehr gelten. Doch sie bestehen weiterhin.

Politisch schwankt das Programm zwischen hoheitlich-hierarchischer und kooperativ-egalitärer Steuerung. Ihren hoheitlich-verfiigenden Charakter hat auch die Stadterneuerung längst aus funktionalen Gründen durch kooperatives und koordinierendes Handelns ergänzt (vgl. Selle 1996), seitdem etwa deutlich wurde, dass sich die Investitionsbereitschaft von Hauseigentümern in der Mietermodernisierung nicht verordnen lässt. Aus Steuerungsobjekten wurden so Steuerungssubjekte. Inzwischen gilt nicht nur für Hauseigentümer und Betriebsinhaber: Endogene Potenziale in den Quartieren, die das Programm fördern soll, können nicht durch exogene Vorgaben entfaltet werden. Mit der „Sozialen Stadt” wird nun auch diese Ambiguität von (vertikaler) Ressourcenvergabe und -kontrolle einerseits und (horizontaler) Koordination andererseits zum Programm. Denn hoheitliche Rahmensetzungen bleiben einerseits bestehen. Zweckbezogene Mittel müssen zugewiesen und kontrolliert, räumliches und sachliches Sonderrecht für deren Verwendung muss geschaffen werden, so z.B, mit der Gebietsabgrenzung. Andererseits ist die planende Verwaltung nur eine Akteurin unter mehreren, der mit anderen an der Lösung einer gesellschaftspolitischen Aufgabe beteiligt und auf die spezifischen Ressourcen der anderen angewiesen ist.

Ambivalenz des Handelns — Innova­ti­ons­dy­namik durch insti­tu­ti­o­nell abgesi­cherte Irritation

Können professionelle Akteure der Stadtplanung und der sozialen Berufe unter solchen widersprüchlichen Handlungsvorgaben lernen? Oder verwirren ambivalente Auslegungen und führen zu einer inkonsistenten Praxis? Im Zusammenhang einer regulativen Politik, die vor allem Problemdefinitionen und Deutungen richtigen Handelns mobilisieren muss, scheinen uneindeutige Handlungsvorgaben durchaus auch produktive Aufgaben zu übernehmen. Denn erst sie lassen neue Deutungen zu — auch solche, die in Widerspruch zu bisherigen Problemdefinitionen und Lösungen stehen. Ambivalente Handlungsvorgaben werden zu einer wichtigen kognitiven Komponente, weil sie neue Ansätze befördern können.

Organisationssoziologie, Managementtheorie oder kulturtheoretische Untersuchungen hybrider Kulturen widmen sich seit einiger Zeit den produktiven Folgen von uneindeutigen, ambivalenten Handlungsvoraussetzungen. Sie können zeigen, dass im Umgang mit Differenz und mit Widersprüchen eher eine notwendige Voraussetzung für Innovationen liegen. Nicht deren Beseitigung, sondern ihr Fortbestehen und ihre produktiven Wirkungen stehen deswegen im Zentrum der iJberlegungen. Verbindet man diesen Gedanken mit netzwerktheoretischen Ansätzen zu „organisationalen Netzwerken” (DiMaggio/Powell 1991), die solche Irritationen institutionell absichern können, dann ergibt sich eine veränderte Perspektive. Erst eine solch institutionell abgestützte Irritation bietet neue institutionelle Bearbeitungschancen und damit Chancen für Veränderung. Im Anreizcharakter für „dritte Wege” (vgl. Maclennan 2002) läge ihre Stärke. Deswegen liegt es nahe, solche Überlegungen auf das Programm „Die Soziale Stadt” zu beziehen. Die Ambitionen des Programms müssen deswegen nicht an seinen Ambivalenzen scheitern. Sie machen vielmehr das Gegenteil möglich: Zweideutige Ansagen eröffnen erste Schritte zur Durchsetzung neuer Richtungen.

„Symbolischer Mehrwert”— wie neue Interpretationen entstehen können Individuelle Lernprozesse sind symbolisch vermittelt. Neuere politikwissenschaftliche Ansätze des Politikwandels setzen seit der „kognitiven Wende” Anfang der 90er Jahre verstärkt auf die Wirkungsmacht von Ideen und Wissen, Deutungen, kurz: auf symbolisch vermittelte, kognitive Ursachen. Symbole wirken durch ihren Bedeutungsüberschuss. Anders als Zeichen sind Symbole nicht eindeutig. Die vielen Unschärfen und Uneindeutigkeiten des Programms „Die Soziale Stadt” bieten Ansatzpunkte für unterschiedliche Auslegungen: In Mehrzielprogrammen erzeugen sie gleichsam einen symbolischen Mehrwert, weil sie mehrere Deutungen zulassen. Bedeutungsüberschüsse leisten Interpretationen Vorschub, die über die unmittelbar bekannten Sachverhalte hinaus gehen. Auch divergierende Interessen und Interpretationen können sich auf dieselbe Grundlage berufen. In der so eröffneten Auseinandersetzung um Deutungen wird der symbolische Mehrwert kapitalisiert.

Bundesländer wie Baden-Württemberg wünschten zwar bei den Verhandlungen um die erste Verwaltungsverordnung Städtebauförderung 1999 eine finanzielle Aufstockung der Mittel, nicht jedoch ein qualitativ neues Programmelement; andere Länder stützten vor allem den neuartigen Ansatz der funktionalen Integration und Mittelbündelung. Für die Kommunen, die nahezu die gesamte Ausgestaltungslast des neuen Programms tragen, ist der Deutungskampf erst recht folgenreich, weil vor Ort die Politik der „Sozialen Stadt” erst Gestalt annimmt. Zwischen den Bundesländern ist aktuell die Auseinandersetzung um die wechselseitige Deckungsfähigkeit der Haushaltsmittel der Städtebauförderungsmittel erneut entbrannt und damit über die Deutungshoheit, worin das Spezifikum der einzelnen Programmsäulen besteht — bisher hat das Programm noch einen eigenen Ansatz, die Mittel sind damit nicht übertragbar.

III. Fazit: Irritation und Innovation

In den neuen, widersprüchlichen Prozesselementen zwischen institutioneller Kontinuität und Diskontinuität in der Stadterneuerung liegen weder nur Beschränkungen oder negative Handlungsprämissen für planerisches Handeln, noch bloße Widersprüche symbolischer Politik oder allein bloße Restriktionen, die das Handeln primär einengten. Das Programm „Die Soziale Stadt” setzt mit seinen mehrdeutigen Signalen auch positive Handlungsprämissen, die sich als Öffnung für neue Problemlösungen deuten lassen. Zur Umsetzung der Ziele des Programms stehen gleichzeitig alte (aber nicht mehr angemessene) und neue (aber noch nicht bewährte) Lösungswege offen. Das ist die zwiespältige Ausgangslage, die das Programm für kommunales Handeln erzeugt. Und es ist die Ausgangslage und Material für Lernprozesse.

Der Programmabschnitt „Die Soziale Stadt” der Städtebauförderung scheint so erstmalig in der Stadtplanung eine explizit soziale Orientierung zu ermöglichen, um den Herausforderungen einer Stadtentwicklung des sozialen Ausgleichs mit einem veränderten Instrumentarium zu begegnen. Sie wird allerdings erst „am laufenden Motor” (Klaus Selle), im Experimentiermodus und in Suchprozessen entwickelt. Gegenstand der Betrachtung waren die Bedingungen und Ursachen, unter denen sich diese Anpassungsprozesse als Prozesse reflexiver Umsteuerung vollzogen.

Die Ursachen dafür, dass Lernprozesse innerhalb und mit der Städtebauförderung möglich sind, liegen weniger in ihrer Finanzausstattung. Mit Bordmitteln allein vermag das Programm nur wenig von dem realisieren, was es beansprucht; es hat primär „Appellcharakter” (Heidede Becker). Im Kern ist der Programmteil „Die Soziale Stadt” der Stadterneuerung ein primär regulatives Politikmodell. Es soll neue Formen der Handlungskoordination ermöglichen, kann sie aber selbst weder vorschreiben noch erzwingen. Die Umstände, unter denen neue Formen der Stadterneuerung entwickelt und erprobt werden, sind zunächst eher von Unschärfe und Unbestimmtheit geprägt. Paradoxerweise gehören sie zum regulativen Kern, der erst die Entwicklung neuer Modelle der Handlungskoordination ermöglicht. Mit einiger Plausibilität kann man die Elemente von Ambiguität und Ambivalenz, von Deutungs- und Aushandlungserfordernisse als. Elemente von Lernprozessen bezeichnen: Die Akteure lassen sich auf das Spiel riskanter Deutungen ein, nehmen neue Wege und Irritationen wie Wagnisse auf sich.

Im Handlungsfeld der sozialen Stadterneuerung finden reflexive Umsteuerungen statt, wo ungleiche, z.T. einander ausschließende Ordnungen oder Handlungslogiken koexistieren, und wo widerstreitende oder einander scheinbar ausschließende Elemente verknüpft werden (müssen). Es geht dabei weniger um das traditionelle, inkrementale „Verbesserungslernen”, d.h. um die kontinuierliche Anpassung von Wahrnehmung und Handeln an sich wandelnde Bedingungen (Lernen erster Ordnung). Vielmehr werden hier die bisherigen Handlungsprämissen korrigiert (Lernen zweiter Ordnung, „double loop”) und vor allem reflexive Lernprozesse „dritter Ordnung” erzeugt, in denen Akteure oder Akteurssysteme die Prämissen ihres eigenen Handelns selbst zum Gegenstand machen.

Die Parallelen zwischen der Diskussion über Lernprozesse und dem Beispiel der „Erneuerung der Stadterneuerung” liegen, auf eine knappe Formel gebracht, in einer Serie von Paradoxien. Lernprozesse in einem emergenten Politikfeld wie dem der „Sozialen Stadt”, so scheint es, sind immer doppelt, also an jeweils zwei Pole gleichzeitig gebunden:

Zeitlich müssen Lernprozesse Kontinuität und Diskontinuität vermitteln: Sie bauen auf den Fortbestand bisher gültiger Normen, Regeln und Wahrnehmungen ebenso wie auch auf den (partiellen, gezielten) Bruch mit ihnen. Lernprozesse sind also in ihrer institutionellen Gebundenheit sowohl pfadabhängig als auch ungebunden als Sprung in der Evolution zu beschreiben;Sozial sind sie sowohl an die Einsicht und Verhaltensänderung individueller Akteure als auch an den kollektiven, institutionell gesicherten Austausch mit anderen gebunden. Lernprozesse sind also Ergebnisse sozialen Lernens;

Symbolisch speisen sie sich sowohl aus eindeutigen als auch an mehrdeutigen Sachverhalten; Lernprozesse sind dort möglich, wo die Voraussetzungen und der Um-gang mit entsprechend ambiguen (sprich mehrdeutigen) Interpretationsangeboten und ambivalenten (sprich mehrwertigen) Interpretationsleistungen vorliegen;

Kognitiv setzen sie die Parallelität von Außen- und Binnenperspektive voraus: Sie knüpfen sowohl an die Binnensicht der Akteure als auch an die Betrachterperspektive von außen an; dies gibt dem mimetischen, nachahmenden Lernen über „gute Beispiele” eine andere, grundlegendere Bedeutung; regulative Politik setzt damit besonders auf die kognitive Dimension: sie muss die Eigenschaften ausbilden, symbolisch anderes Denken und Handeln auch mit begrenzten finanziellen Ressourcen zu mobilisieren, Rechtlich liegen sie im Spannungsfeld zwischen der Gestaltungsmacht, die materiellen Verfügungsrechten folgt und derjenigen, die sich aus Deutungen richtigen Handelns in diesen regulativen Arrangements ergibt. Die Deutungskämpfe liegen zwischen widerstreitenden politischen Interessenordnungen, in denen das politisch gewichtigere Argument, und jenen Bereichen des Handelns, in denen das bessere fachliche Argument zählt.

Ambiguität und Ambivalenzen des Programms „Die soziale Stadt” stellen die Akteure vor erhebliche Herausforderungen. Diese sind nicht Ausweis seiner gelungenen Konstruktion — und erst Recht kein Garant für ein Gelingen des Prozesses. Praktiker irritiert die Unbestimmtheit der Programmvorgaben. Auch politisch ist das Programm unwägbar. Die Programmkonstruktion beinhaltet immer auch die Möglichkeit des weiter-sowie-bisher: Bündnisse der Beharrung sind mindestens genauso möglich wie das Entstehen von Veränderungskoalitionen. Auch die positiven Konnotationen des Lernbegriffs werden nicht automatisch eingelöst. Denn weder die hoheitlichen Maßgaben eines Regelwerkes oder ein Finanzierungs-Füllhorn noch planende Verwaltungen allein können dieses Gelingen aus sich heraus erzeugen. Aber ihre widersprüchlichen Vorgaben schaffen immer mehr Anlässe, diese Voraussetzungen zum Thema einer veränderten Praxis zu machen: Sie können auch als produktive Irritation und damit ebenso als Geburts- und Innovationshelfer gesehen werden: Innovation und Lernen nicht trotz, sondern wegen der Ambivalenzen eines Programms.

[1] Die hier vorgetragenen Überlegungen werden in einen ausführlicheren Kontext gestellt in meinem Beitrag: „Die Soziale Stadt — Lernprozesse in der Stadterneuerung? Das Programm „Soziale Stadt” zwischen Wandel und Kontinuität der Städtebauförderung”; in: Altrock, U. et al. (Hg.) Planungsrundschau (1/2004). Ursula Stein und Simon Güntner verdanke ich ergänzende Hinweise.

Literatur

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Verwaltungsvereinbarung (VV) über die Gewährung von Finanzhilfen des Bundes an die Länder nach
Artikel 104a Absatz 4 des Grundgesetzes zur Förderung städtebaulicher Maßnahmen, 1999-2003 Walther, Uwe-Jens 2003: Innovation trotz Ambivalenz; in: vhw Nachrichten 2/2003 (Mai)
Walther, Uwe-Jens 2004: Irritation und Innovation: Stadterneuerung als Lernprozess?; in: Greiffenhagen, Sylvia/Neller, Katja (Hg.): Praxis ohne Theorie? Wissenschaftliche Diskurse zum Bund-Länder-Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf— Die Soziale Stadt”, Opladen

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