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Editorial

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S.1

Die Hure Babylon oder das heilige Jerusalem: Schon seit Jahrtausenden ist unser Stadt-Bild von extremen Gegensätzen geprägt. Erschien die moderne Großstadt vielen als gefährlicher, alles verschlingender Moloch, so verhieß sie anderen Freiheit und Selbstverwirklichung, die einzige Alternative zur „Idiotie des Landlebens” (Karl Marx). Doch in jüngster Zeit verschwindet die Stadt als Möglichkeitsraum zunehmend aus der Debatte: Die Krise der deutschen Kommunen, von der allenthalben die Rede und die oft brutale Realität ist, lähmt. Der „Sozialfall Kommune” wird zum vorherrschenden Modell: Regelmäßig ächzt der Deutsche Städtetag laut unter neuen finanziellen Einbußen und Steuerausfällen. Abwanderung und demographischer Wandel heißen die mittlerweile viel diskutierten neuen Bedrohungen gerade ostdeutscher Kommunen; Schrumpfungrund Stadtrückbau statt Stadtumbau sind die aktuellen Stichworte der Debatte.

Doch Verfallsgeschichten können keine Lösungen für die kommunale Krise liefern. Die Idee der Stadt muss vielmehr unter veränderten Rahmenbedingungen regeneriert und transformiert werden. Max Weber hat die Stadt als Ort der Emanzipation und Keimzelle der westlichen Moderne beschrieben. Damit das weiterhin gilt, lässt sich zum Glück jenseits der Krisendiagnosen einiges tun: Der künftige Weg der Stadt soll in diesem vorgänge-Heft skizziert werden.

Warnfried Dettling bündelt zu Beginn die wesentlichen Herausforderungen, die Städte der Gegenwart bewältigen müssen. Dazu auch gehört die Integration von Zuwanderern, die von Hartmut Häußermann und Walter Siebel als zentrales Problem analysiert wird. Hellmut Wollmann verweist auf die eigenwillige, in einem längeren historischen Prozess entstandene städtische Doppelstruktur als politische Kommune und zivilgesellschaftliche Bürgergemeinde. Die demokratische Stadt ist dabei, so Nils Leopold, in einem ihrer Kernbereiche akut bedroht: grassierende Videoüberwachung gefährdet die städtische Öffentlichkeit. Auch private Sicherheitsdienste haben Konjunktur: Benno Kirsch entdeckt jedoch nach wie vor im Staat den eigentlichen Verursacher freiheitsgefährdender Hypertrophie des Sicherheitsbedürfnisses, Was Kommunen gegen den neuen Trend des „Graswurzel“-Rechtsextremismus tun können, beschreibt Ingo Siebert. Felicitas Hillmann schildert am Beispiel Berlins, welche verschiedenen Städtebilder von der gegenwärtigen Stadtforschung reproduziert werden und wie diese da-durch politisch wirksam werden. Uwe-Jens Walther weist der Stadtplanung als angewandte Wissenschaft künftige Wege. Heike Liebmann und Tobias Robischon führen am Beispiel des britischen Huddersfield vor, wie Städte auch hierzulande neue Potenziale für sinnvollen städtischen Wandel entwickeln könnten. Ein anderes Beispiel für neue Modelle, die Krise unserer Städte zu meistern, stellen Stephanie Bock und Bettina Reimann vor: den Forschungsverbund Stadt 2030, an dem mehrere deutsche Kommunen teilnehmen und mit verschiedenen Lösungen experimentieren. Ein dabei zunehmend beliebtes Rezept sind Public Private Partnerships; Garsten Krebs beschreibt am Beispiel von Wolfsburg und VW, welche Risiken und Chancen in einer solchen Beziehung stekken. Lena Schulz zur Wiesch schaut auf Jerusalems Stadtpolitik der letzten Jahrzehnte und entdeckt Möglichkeiten, den Nahostkonflikt zumindest lokal erträglicher zu machen. Ein Literaturbericht rundet wie immer den Thementeil ab.

Der Essay von Michael Th. Greven widmet sich dem Werk Claus Offes, sicher eines der einflussreichsten Sozialwissenschaftler der Bundesrepublik in den letzten Jahrzehnten. In den Kommentaren und Kolumnen greift u.a. der ehemalige Bundesverfassungsrichter Jürgen Kühling die heuchlerische Kopftuch-Politik der unionsregierten Länder Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg an.

Intellektuell anregende Lektüre wünschen wie immer

Thymian Bussemer und Alexander Lamm

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