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Die immanente Utopie der Gerech­tig­keit

Claus Offes bundesrepublikanischer Denkweg

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S112-126

Werk und Vita Claus Offes zu deuten, fällt nicht leicht. Ein dicker Packen Fotokopien und einige alte zerlesene Bücher halfen bei der Vorbereitung, doch es bleibt ein schwieriges Unterfangen. Was könnte eine angemessene Perspektive sein? Als – wenn auch nicht im direkten akademischen Sinne – Schüler, Leser, Bewunderer, seltener Kritiker bin ich Angehöriger einer anderen, jüngeren Bildungskohorte, der wesentliche frühe Erfahrungen mit Claus Offe nicht teilt. Er gehört ganz offenkundig zu den Prä-68em und trat bereits 1961 – also mit gerade 21 Jahren – als Mitverfasser der legendären SDS-Denkschrift Hochschule in der Demokratie (Nitsch u.a. 1965) auf, von der ein Einflußstrang zu den Kreuznacher Thesen der Bundesassistentenkonferenz und schließlich darüber hinaus bis zur Institutionalisierung der Gruppenuniversität durch das Hochschulrahmengesetz von 1976 führte. Ich dagegen kam mit meinem Abitur 1968 für die heroische Phase ein wenig zu spät – und kaum in die Gefahr, im SDS mehr als ein Erstsemesterzaungast mit „roten Ohren” zu sein, im SDS, der sich bereits drei Monate nach meinem Eintritt auch in Bonn unter maßgeblicher Beteiligung von Hannes Heer aufspaltete. Damals konnte ich nicht verstehen, warum ich mich plötzlich an den revolutionären Errungenschaften des Großen Vorsitzenden Mao orientieren sollte, wo es doch viel dringlicher erschien, den drohenden Einzug der NPD in den Bundestag durch ein Go-In in die zentrale Wahlkampfveranstaltung des Herrn von Thadden in Bonn-Godesberg zu verhindern.

Die Unsicherheit über die angemessene Perspektive bleibt und mag manche Sprünge, Inkohärenzen und Auslassungen1 im Folgenden wenn schon nicht rechtfertigen, dann doch erklären. Es sollte nicht zuletzt sichtbar werden, daß ich über Claus Offe auch im Rahmen einer fast dreißig Jahre währenden freundschaftlichen Bekanntschaft spreche, die über die Kinderfeste in ostwestfälischen Sommer-Gärten mit Claus am Grill, über einen langen zweisamen Tag auf der Documenta in Kassel Anfang der 1980er Jahre, über das Erlebnis des etwas unter Atemnot leidenden Flötenspielers Claus Offe auf einem der Feste im Hause gemeinsamer Freunde in Marburg, über einen sonntäglich über Gewürze fachsimpelnden Gang durch Torontos China-Town bis hin zu der recht oberlehrerhaften Frage in seinem Doktorandenkreis in Berlin 2002, wie ich das mit der „politischen Gesellschaft” (Greven 1999) eigentlich ernst meinen könnte, für mich viele denkwürdige Erinnerungen umfaßt.

Hier soll eine panoptischere, Persönliches mit Inhaltlichem und Objektivem, Wissenschaftliches mit Politischem mischende Perspektive gewagt werden. Natürlich sind da aber zuerst die Texte Claus Offes und deren Kontexte, deren erneute oder erstmalige Lektüre mir eine so noch nie gefundene, nie gesuchte, konzentrierte Einsicht in vierzig Jahre politiksoziologischer Denk-und Publikationstätigkeit vermittelten. Viel Wiedererkennen und Erinnern gab es dabei, aber auch Entdecken und das Erstaunen darüber, wie falsch oder unvollständig eigene Einnerungen sein können: Texte wie der eigenartiger Weise in der sonst so sorgfältig geführten Bibliographie nicht enthaltene, m,W. aber erste veröffentlichte Aufsatz von Claus Offe zur Sozialökonomie des Studiums in der Zeitschrift des SDS neue kritik vom Mai 1963, Texte wie die als erste Monographie zunächst nur in Fachkreisen bereits Aufsehen erregende Dissertation Leistungsprinzip und industrielle Arbeit (1970), die vielen Aufsätze und Rezensionen bis zu den in den letzten Jahren mit wachsender Berühmtheit immer häufigeren Zeitungsartikeln und Interviews.

Läßt sich dabei ein roter Faden der Entwicklung erkennen, das geheime und stets durchgehaltene Motiv im Sinne des „Weberschen Moments”, oder auch nur das eigentümliche Stilmittel oder die typische Methode? Ist es die Vier-Felder-Matrix oder der argumentationsstrukturierende Ordnungssinn, bei dem drei analytisch identifizierten Problemen immer und stets drei Strategien oder Handlungsoptionen zu entsprechen scheinen? Oder sucht und findet man gerade umgekehrt in den Texten nicht ihren Autor, gar den einen Autor mit seiner „Entwicklung”, den es trotz der vierzig Jahre immer schon gegeben haben soll und der es weiter bleiben wird, was immer ihm in Zukunft noch einfällt? Soll man die Werkeinheit und ihren Autor dahinter konstruieren oder de-konstruieren? Und was ist dem jeweiligen Entstehungskontext, was dem Einfluß akademischer Lehrer oder aktueller Lektüre, was schließlich politischen Entwicklungen geschuldet? Resultiert die Themenwahl aus deren Wahrnehmung und Analyse oder aus der wissenschaftlichen Anschlußfähigkeit akademischer Diskurse?

SDS und Wissen­schaft: Die Anfänge einer akade­mi­schen Karriere

So viele Fragen – und eine erste, im Nachhinein nicht mehr überraschende Entdeckung: Obwohl ich Autor und Person so viele Jahre kenne, werde ich sehr viele nicht beantworten können. Die zugänglichen Lebensläufe enthalten nur minimale Eckdaten, die langjährigen Hintergrundgespräche und erst recht die Texte selbst machen von der eigenen Geschichte und Person wenig Aufhebens, der fehlende Hang zur Anekdote macht es dem Biographen trotz langer Bekanntschaft schwer: „Geboren 1940” – schon der Ort Berlin wird nicht verraten; Eltern, Geschwister – Fehlanzeige; Kindheit, Schulzeit und Abitur am altsprachlichen Gymnasium in Wuppertal-Elberfeld fehlen ganz; das „Studium der Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie in Köln und der FU Berlin” wird 1965 mit einer Diplomarbeit zum Begriff der Technik bei A. Gehlen und H. Schelsky mit dem Diplom in Soziologie an der FU abgeschlossen. Von dieser Qualifikationsarbeit können offenkundig erste Aufsätze zur damals lebhaft werden Technokratiediskussion in Zeitschriften wie der Stadtbauwelt zehren (1969), Herbert Marcuses eindimensionaler Mensch wird nachträglich in den Kontext gerückt (1968). Bis zum Abschluß des Studiums im Lebenslauf kein Wort über akademische Lehrer, Schulen, Interessen oder Einflüsse. Umso auffälliger dann und, gerade wenn man bedenkt, dass die persönliche Zuordnung der Assistenturen zu Lehrstühlen in der SDS-Denkschrift und dem kritischen Zeitgeist eher als Sakrileg betrachtet wurde, wohl nur als wichtiges Signal zu verstehen, die nächste Angabe: „1965-69 Assistent am Soziologischen Seminar (Institut für Sozialforschung), Universität Frankfurt (Lehrstuhl J. Habermas)”. Kritische Theorie des IfS, mehr noch Jürgen Habermas, der schon als Autor des Vorwortes zur Buchpublikation der SDS-Denkschrift 1965 sich mit den Thesen der Jüngeren identifizierend in Erscheinung trat, auf dem Hintergrund langjähriger poltischer Theoriearbeit im SDS – damit dürfte die für die akademische Biographie zunächst prägende Genealogie von Claus Offe selbst akzentuiert worden sein. Was bringt um 1960 herum einen Zwanzig-jährigen in den quantitativ sehr kleinen Kreis derjenigen, die sich im gerade aus der SPD ausgeschlossenen Sozialistischen Deutschen Studentenverbund in Theoriekreisen und selbstorganisiertem Studium nicht nur um eine gegen die Godesbergisierung der SPD gerichtete marxistische Gesellschafts- und Klassenanalyse bemühen, sondern auch quer zur Logik des Kalten Krieges, des allgemein perzipierten „Wirtschaftswunders” und der Erfolge der „Sozialen Marktwirtschaft” und unter dem frischen Eindruck des Mauerbaus nüchtern um eine sachliche Einschätzung der DDR-Entwicklung? Ich kenne die konkreten biographischen Umstände nicht, die Claus Offe für einige Jahre in diese Zusammenhänge bringen und er hat sich m.W, dazu selbst bisher nicht geäußert. 1968, auf dem vermeintlichen Höhepunkt des Einflusses dieses Verbandes – der sich m.E, aber bereits seit spätestens 1966, was immer sein Einfluß auf die realpolitische Studentenbewegung gewesen sein mag, in seinen wissenschaftlichen Dokumenten und Beiträgen fruchtlos in sektiererische Varianten der Retraditionalisierung theoretischer Kategorienund Analysen verstrickt –, 1968 finden wir Claus Offe auf dem Frankfurter Soziologentag. Theodor W. Adorno war Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie und maßgeblich für Ort und den Titel Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? – eine Frage, die er in seinem Eröffnungsvortrag recht eindeutig und marxorthodox kapitalismuskritisch beantwortete. Offe war Co-Autor eines damals viel mehr beachteten Beitrages von 5 Assistenten (neben ihm J.Bergmann,G. Brandt, K. Korber und E. Th. Mohl) mit dem Titel Herrschaft, Klassenverhältnisse und Schichtung (Bergmann u.a. 1969). Dieser Auftritt auf der ansonsten Ordinarien vorbehaltenen großen Bühne der Zunft fand nicht nur erhebliche Medienbeachtung, sondern etablierte die Namen der Vortragenden in der Disziplin.

Politische Herrschaft und Klassen­struk­turen

Über Claus Offe kann man nicht sprechen, ohne dabei die Bedeutung seiner Texte und ihre ganz praktische Rolle für mich und andere meiner Bildungskohorte zu bedenken. Einer von ihnen sticht heraus, nämlich jener zentrale, erstmals 1969 in der „Frankfurter” Einführung in die Politikwissenschaft erschienene Text Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Hier vermag ich über die persönliche Anekdote hinaus etwas über die gerade einsetzende Ausstrahlung Claus Offes in den Sozialwissenschaften zu berichten. Im Wintersemester 1968/69 habe ich in Bonn – eher beiläufig und ohne damit verbundenes Ziel, neben Philosophie, Psychologie und ein wenig Germanistik – Politikwissenschaft zu studieren begonnen. Eine geregelte „Einführung” in das Fach als besondere Lehrveranstaltung gab es noch nicht. Als sie kurze Zeit später aus einem Kreis von Assistenten und studentischen Tutoren, zu denen ich gehörte, heraus konzipiert und Ende der 1960er Jahre in Bonn erstmals durchgeführt wurde, gab es auf dem Buchmarkt drei „Einführungen”: neben der bereits erwähnten, 1969 von Gisela Kreis und Dieter Senghaas bei der EVA herausgegebenen „Frankfurter” als erste die aus dem Tübinger und Heidelberger Millieu stammende von Gerhard Lehmbruch (1967) und dann die „Marburger”, 1968 herausgegeben von Wolfgang Abendroth und Kurt Lenk bei UTB. Die Berliner vom OSI, für das Fach damals doch so wichtig, kamen mit Blanke/Jürgens/Kastendieks zweibändiger Kritik der politischen Wissenschaft (B.Blanke u.a. 1975) mit ihrer Veröffentlichung für uns um Jahre zu spät – vielleicht auch, weil sie sich auf dem Olymp des OSI über die Notwendigkeit der Ausbildung von Politologen in der pädagogischen Provinz erhaben fühlten. Die Orts- und Herkunftsbezeichnungen gewannen im Zuge der in diesen Semestern sich rapide politisch und wissenschaftlich ausdifferenzierenden Strömungen der außerparlamentarischen Opposition und der darin nur einen, sich manchmal zu wichtig nehmenden Teil bildenden Studentenbewegung, schnell pro-grammatischen Charakter. Offes Text ist mit Sicherheit der Beitrag aus allen diesen Orientierungs- und Programmierungsversuchen der sich gerade zum Massenausbildungsfach aufblähenden jungen Disziplin, der die größte und nachhaltigste Wirkung erzielte – wohl auch für ihn selbst. Mit diesem Text setzte auch Claus Offes internationale Karriere ein, die sich in kurzer Zeit in zahlreichen Übersetzungen (italienisch und eng-lisch zunächst, später dann auch japanisch) und Nachdrucken niederschlug. In diesem Beitrag wurde eine Synthese von unorthodoxem Marxismus und Systemanalyse, gebrochen durch die später für Offe so typische persönliche Fähigkeit zur analytischen Ausdifferenzierung von Optionen und Alternativen, für die Grundfragen der politischen Herrschaftsanalyse fruchtbar gemacht. Sie fand von den Niederlanden über Skandinavien, Großbritannien, Italien bis zu den USA und Kanada einen geradezu explodierenden und überaus aufnahmefähigen akademischen Markt für den damaligen westdeutschen Exportschlager neo-marxistische Staats- und Klassentheorie vor. Der Text erschien 1969, im Jahr der sogenannten „Septemberstreiks” in Deutschland, einer Streikwelle, die branchenübergreifend und international rund um den Globus, besonders aber in Italien die akademisch und in den politisierenden Sozialwissenschaften schließlich Regale füllende Ablagerung von „Klassenanalysen” und „Staatsableitungen” praktisch für kurze Zeit zu bestätigen schien: Nunmehr war offenbar der „Spätkapitalismus” immer weniger in der Lage, seine marxistisch aus der Kapitalanalyse deduzierte „Widerspruchslogik” zu domestizieren. Viele gerade aus der Alters- und Bildungskohorte von Claus Offe, die mit ihm die Bildung und Politisierung durch den SDS der 1960er Jahre teilten (ehemals bekannte Namen darunter, wie Sebastian Herkommer, Frank Deppe, Jürgen Krysmanski, Bernd Rabehl) erlagen in dieser Situation der romantischen Identifikation mit dem theoretischen Mythos des „an und für sich” revolutionären Proletariats und begaben sich auf den Weg in eine theoretisch-analytische Regression – die unter den damaligen Umständen eine bürgerlich wissenschaftliche Universitätskarriere keineswegs ausschloß.

Ganz anders dagegen wirkt der Text von Claus Offe. Was an ihm, heute wiedergelesen, besonders auffällt, ist die doppelte Distanz: einerseits zu der eben bloß angedeuteten, damals aber von vielen über Jahre verfolgten theoretisch-politischen Sackgasse einer überwiegend nur deduzierenden, empirisch blinden und politisch voluntaristischen Marx-Orthodoxie von sog. „Staatsableitungen” in ihren späterhin akademisch und auf einem sich eigens ausbildenden Publikations- und Zeitschriftenmarkt heißumkämpften revisionistischen und anti-revisionistischen Varianten. Andererseits ist aber auch eine Distanz erkennbar zum sich damals etablierenden, heutigen sozial- und vor allem politikwissenschaftlichen mainstream etatistisch orientierter policy-science. Bei diesem mainstream dürfte schon damals – und heute noch? – der durchaus ernstgemeinte und die Fragestellung strukturierende Titel Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spät-kapitalistischer Gesellschaftssysteme eingewisses Fremdeln evoziert haben. Tatsächlich geht es in erster Linie um „Herrschaft”, also „Ausbeutung” und „Ungerechtigkeit” unter kapitalistischen Verhältnissen, gegen die die „Steuerungsproblematik” ausbalanciert, aber eben nicht bis zum Verschwinden der ersteren hin ausgespielt wird. „Spätkapitalismus”, dieser erstmals von Werner Sombart verwendete Begriff, dient Offe zur Abgrenzung gegen damals eine Renaissance erlebende Basis-Überbau-Schematismen einerseits, inhaltlich aber vor allem zur Phaseneinteilung: Überholt sei die „politische Verfassung liberal-kapitalistischer Gesellschaft” mit ihrer von politischen Eingriffen ungeregelten Privatsphäre. „Heute müssen wir jedoch damit rechnen, daß die Abwehrfunktion dieser Rechtsinstitute nirgends mehr ernsthaft den Aktionshorizont des politischen Systems einschränkt. Gesellschaftliche Prozesse vollziehen sich in dem politischen System spätkapitalistischer Gesellschaften nahezu ausnahmslos nicht jenseits der politischen Handlungssphäre, sondern sind durch politische Dauerintervention reguliert und getragen” (1969b: 140f.; Hervorh. i. Orig.); selbst der „gesellschaftliche Warentausch” und der „private Kapitalverwertungsprozess” sei „bis ins Detail” politisiert bzw. „politisch vermittelt” (ebd.: 140, 156). Claus Offe spricht in diesem Sinne vom „integralen politischen System” „einer geradezu verstaatlichten Gesellschaft” (ebd.: 141).

Deshalb also heißt bei ihm der Spätkapitalismus damals „Spätkapitalismus” – und erinnert mich in manchem, was man und vor allem Claus Offe mir verzeihen möge, an die „politische Gesellschaft” (Greven 1999): ähnlich die überragende Bedeutung der Politik für Form und Entwicklung der Gesellschaft, anders die heute nicht mehr glaub-würdige Hoffnung auf ein baldiges Ende des Kapitalismus.

Was die Herrschaftsausübung anbelangt, so entwirft der Aufsatz zu den „Herrschaftsmechanismen im System der politischen Willensbildung” ein ziemlich ernüchterndes Bild der Demokratie. Gestützt u.a. auf Agnolis These vom Parteiensystem alsder „pluralen Fassung einer Einheitspartei” (1969b: 143), dagegen agenten- und einflußtheoretische Ansätze von Miliband bis Stamokap mit strukturalistisch ansetzenden Argumenten zurückweisend und kritisierend, entwickelt Claus Offe seine nachmals zur sozialwissenschaftlichen Halbbildung verkommende analytische Differenzierung unter-schiedlicher „Organisations-” und „Konfliktfähigkeit” (1969b: 145), die sich zu einem „selektiven Filter” von Institutionen und Mechanismen zusammenfüge (1969b: 151), des-sen wesentliche Funktion „die zuverlässige Ausschaltung und Unterdrückung systemgefährdender Bedüfnisartikulationen” sei. Auf diesen beiden Grundargumenten aufbauend wird dann die Theorie beziehungsweise politische Erwartung eines kommenden Klassenkampfes mit folgenden Sätzen endgültig begraben: „Da sowohl zwischen Arbeit und Ein-kommen wie zwischen Einkomen und der konkreten Struktur der Lebenschancen politisch manipulierbare Variablen in großem Umfang intervenieren, lassen sich die neuen Formen der sozialen Ungleichheit nicht mehr unmittelbar auf ökonomisch definierte Klassenverhältnisse abbilden und als deren Reflex erklären. Statt dessen sind auf der Ebene des politischen Systems diejenigen Mechanismen aufzusuchen, die das ,vertikale` System der Ungleichheit von Klassenlagen einerseits durch ein ,horizontales` System der Disparität von Lebensbereichen ablösen, andererseits durch Interventionsverzicht Fragmente unmittelbar ökonomisch verursachter Ungleichheit konservieren […] Wenn die Annahme realistisch ist, daß unter Bedingungen des wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismus die Herrschaft von Menschen über Menschen (oder von einer Klasse über andere) weit-hin abgelöst worden ist durch die Dominanz weniger gesellschaftlicher Funktionsbereiche gegenüber den anderen, dann können wir nicht erwarten, daß sich auch dieses Verhältnis noch in der Konfrontation von Kollektiven darstellt, wie es in den Theorien des Klassenkampfes angenommen wurde” (1969b: 154).

Noch in den ersten Jahren nach meiner Berufung nach Marburg 1978 wurde diese Argumentation Claus Offes Semester für Semester in dem bis weit in die 1980er Jahre obligatorischen (marxistischen) „Grundarbeitskreis” zusammen mit Dahrendorfs älterer Klassen- und Konflikttheorie von einigen Kollegen und „Genossen” als Beispiel des die Realitäten des Kapitalismus ideologisch verschleiernden Revisionismus vor staunenden Erstsemestern stets aufs Neue entlarvt – bevor sie dann endlich im „Grundarbeitskreis [3]” in die Geheimnisse des „Kapitals” eingeweiht wurden. Selbst wo er nur als Pappkamerad gebraucht wurde, kam man an der Prominenz Claus Offes also Ende der 1970er Jahre nicht mehr so leicht vorbei.

Unzweifelhaft ist der Hintergrund und Ausgangspunkt wie auch noch der Tenor dieses Beitrages marxistisch, „neo-marxistisch”, wie man damals zu sagen pflegte – obwohl das zu Zeiten natürlich auch schon auf Rosa Luxemburg, Karl Korsch, Georg Lukäcs und last not least die Frankfurter Ur-Väter Max Horkheimer und Theodor W. Adorno zugetroffen hatte. Das bedeutet u.a., dass „die kritische Perspektive der Emanzipation von dieser [kapitalistischen – M.G.] Unterdrückung”, mindestens aber die sich dann als vergeblich erweisende Frage nach der „systemgefährdender Bedürfnisartikulation” und natürlich deren Befriedigung unauffällig, aber auch unübersehbar den politisch-normativen und theoretischen Horizont des ganzen Textes abgibt. Die „Bedingungen rationaler Selbstaufklärung der Mitglieder [einer Organisation wie der Parteien – M.G.] über ihre eigenen kollektiven Interessen“ werden sogar noch mit dem Hinweis auf Georg Lukäcs Geschichte und Klassenbewußtsein angetippt (1969b: 151).

Anders als mir meine Erinnerung vorgab, kommt die Entwicklung der analytischen Instrumentarien kollektiver Handlungsfähigkeit (Organisations-und Konfliktfähigkeit) ohne expliziten Bezug auf Mancur Olsons bereits damals ins Deutsche übersetzten Logik kollektiven Handelns aus, läßt aber bereits in diesem Stadium in nuce die später für Claus Offe so typisch werdende Verbindung eines kritisch gewendeten und undogmatisch eingesetzten rational-choice-Ansatzes mit seiner kritischen Gesellschaftstheorie neomarxistischer Provenienz und einem milden systemfunktionalistischen Instrumentarium erkennen. Man kann das als einen äußerst produktiven, stets auf die konkrete Analyse von Problemen angewandten und nicht programmatisch gewendeten Ekklektizismus charakterisieren, der sich in damaliger Zeit sehr positiv von den affirmativ-bekenntnishaften Wissenschaftsprogrammen seiner Umgebung absetzte.

Im Kontrast zu seinem soziologischen Diplom und der Akzentuierung seiner soziologischen Dissertation ist die inhaltliche Problematik wie theoretische Fundierung dieses Textes aus der Sache heraus schon damals genuin politikwissenschaftlich – auch wenn die normativ an der Begründung und Rechtfertigung von Demokratie orientierte Perspektive erst in den 1990er Jahren klar hervortritt.

Frankfurt, Berkeley, Harvard, Starnberg, Bielefeld: Krisen des Krisen­ma­na­ge­ments

Zwischen dem Ende der Assistentenzeit 1969 in Frankfurt und der ersten Berufung auf den Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Soziologie an der Fakultät für Soziologie in Bielefeld 1975 enthält der knappe Lebenslauf keine Angaben zur beruflichen Stellung, sondern nur den Hinweis auf die 1973 in Konstanz für Politikwissenschaft erfolgende Habilitation. Tatsächlich verbrachte er drei folgenreiche Jahre zunächst bis 1971 in Berkeley und dann ein Jahr in Harvard. Seitdem, so hat man den Eindruck, ist Claus Offe an US-amerikanischen Universitäten ebenso – oder ebenso wenig? – zuhause, wie an deutschen. Später werden längere Aufenthalte in Stanford und Princeton, den Niederlanden und Australien sowie eine regelmäßige Lehrtätigkeit an der New School in New York folgen. Die meiste Zeit vor der Bielefelder Berufung dürfte er dann am Max-Planck-Institut in Starnberg zugebracht haben.

Symptomatisch für die dortigen Diskussionen und Forschungsarbeiten, die u.a, den geistigen Hintergrund zu Jürgen Habermas‘ erstem Weltbestseller Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus von 1973 bildeten, sind die folgenden programmatischen Sätze aus einem Artikel von Claus Offe mit dem Titel Krisen des Krisenmanagements: Elemente einer politischen Krisentheorie aus dem selben Jahr. „Die Frage, warum die politische Steuerungskapazität spätkapitalistischer Gesellschaften so gering, ihre Fähigkeit zum ,geplanten sozialen Wandel‘ so lückenhaft ist, wird nicht gestellt […] Wir werden deshalb die ,interventions-`, ,wohlfahrts-` oder ,sozialstaatlichen` Steuerungsstrategien entwickelterkapitalistischer Industiegesellschaften nicht [sic! – M.G.] unter der Perspektive untersuchen, wie ihre Wirksamkeit gesteigert werden könnte, sondern warum ihre Wirksamkeit – trotz aller Verbessserungsversuche – so begrenzt ist […] Ziel unserer Studie ist es, die Grenzen der ,policy-making-capacity` des kapitalistischen Staates theoretisch zu verstehen und exemplarisch nachzuweisen” (1973: 197). Das verstand man damals als „Systemkritik” – eine grundsätzliche Entscheidung, auf die viel Wert gelegt wurde und die man sich wechselseitig jederzeit trefflich bestreiten konnte – und das Ergebis stand also im Vorhinein fest, ergab sich immer noch aus den gesellschaftstheoretischen Prämissen. So begleitete man in Starnberg gewissermaßen in kritischer Spiegelung die gerade von der sozialliberalen Regierung, insbesondere von Kanzleramtsminister Horst Ehnike massiv forcierte und wissenschaftlich unter der Leitung von Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf konstruktiv vorangetriebene Planungs- und policy-Orientierung einer reformorientierten, aber in den Augen ihrer Kritiker „affirmativen” und letztlich vergeblichen Politikwissenschaft durch die Arbeit an einer „politischen” – im Unterschied zur genuin marxistisch politökonomischen – Krisentheorie des „Spätkapitalimus”. Übrigens sieht man noch im Nachhinein ebenfalls deutlich, dass zwischen der Betonung des sozialmoralischen Integrationsaspekts in Jürgen Habermas‘ Legitimationsproblemen (1973) und dem von Claus Offe in seiner ihn endgültig berühmt machenden, in Amerika geschriebenen Aufsatzsammlung Strukturprobleme des kapitalistischen Staates (1972) noch aufrechterhaltenem Unfähigkeitsaxiom einer widerspruchsfreien gerechten Politik unter kapitalistischen Verhältnissen sich zeitweise eine nicht nur theoretische, sondern auch eine politische Kluft auftat. Sie dürfte nicht zuletzt zu den internen Problemen am Starnberger Institut beigetragen haben. Jürgen Habermas hatte sich zu dieser Zeit, ablesbar an den Texten, bereits endgültig von der Vorstellung verabschiedet, dass sich das „sozialistische Projekt” – von dem seine Texte in kaum verklausulierter Sprache bis weit in die 1960er Jahre ihre politische Inspiration erhielten – realpolitisch in überschaubaren Zeiträumen würde verwirklichen lassen.

Tenden­z­wende in den 1970er Jahren

Titel und Fragestellung seiner 1975 bei Suhrkamp parallel zu seiner Bielefelder Berufung unter dem Titel Berufsbildungsreform erschienenen Fallstudie zur Reformpolitik ordnen sich jedenfalls schon eher in den damals sehr stark von dem neuen Konstanzer Studiengang für Politik- und Verwaltungswissenschaft geprägten politiknahen, beratungsorientierten Ansatz einer kritischen Regierungslehre ein. Dort stand für diesen Ansatz neben Fritz W. Scharpf und Frieder Naschold nun auch Thomas Ellwein ein – d.h., die konzeptionelle Verbindung zum Neomarxismus war abgebrochen. Spätestens zu dieser Zeit hatte jedenfalls Claus Offe den Ausweg aus der politischen wie theoretischen Sackgasse einer nur immer wieder die Prämissen der prinzipiell die Reformunfähigkeit des Kapitalismus durch aktive Politik bestätigenden und sich darin als Kritik folgenlos erschöpfenden neo-marxistischen Sozialwissenschaft gefunden.

In den Hintergrund tritt damit die kritische gouvernementale, an Steuerung wie Planung orientierte Perspektive einer allgemeinen Krisentheorie. Im Kontext der Mitte der 1970er Jahre voll einsetzenden Korporatismusdebatte machte Claus Offe nunmehr fruchtbar und kritisch Gebrauch von seinen eingangs dargestellten analytischen Instrumentarien kollektiver Handlungsfähigkeit. Gegen manch allzu harmonistische Annahmen der Gleichgewichtigkeit der drei kollektiven Hauptakteure des korporatistischen tripartism bringt Claus Offe in mehrenen Aufsätzen die strukturelle Unterlegenheit der „Organisations- und Konfliktfähigkeit” der Arbeitsseite gegenüber dem Kapital in Erinnerung – und dies vor allem in dem Maße, in dem sich auf dem Arbeitsmarkt seit Mitte der 1970er Jahre die damals für Westdeutschland neuartige „strukturelle Arbeitslosikgeit” auszubreiten beginnt. Die dadurch unvermeidliche Überlastung und Krisenhaftigkeit der traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements einschließlich des üblichen Geschlechter- wie Generationenvertrages sowie die durchaus soziologische Phantasie ins Feld führende Suche nach grundsätzlichen Alternativen bildet für die späten 1970er und die 1980er Jahre die zentrale Thematik Claus Offes.

Mit der Semantik der Texte ändert sich nunmehr auch der historisch politische Horizont. „Grundsätzliche Alternativen” zu den historisch nicht weiter belastbaren Strukturen wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme in Zeiten abnehmenden Wachstums und niemals wieder erreichbarer Vollbeschäftigung unter Bedingungen des traditonellen Vollerwerbsberufsmodells werden seit Mitte der 1970er Jahre semantisch und theoretisch nicht mehr in den Horizont des Spätkapitalismusbegriffs gestellt. Mit ihm verschwindet auch „Herrschaft” und „System” – im Sinne des politischen Gegensatzes von „immanent” und „systemtranszendierend” – aus dem Vokabular Offes; der Kapitalismus wird nunmehr zunehmend unter dem Gesichtspunkt seiner immanenten Optionalitäten und Kontingenzen als „Moderne” analysiert. Mag „Gerechtigkeit” schon immer, auch im marxistischen Denken von Marx selbst, ein leitendes Motiv von Kapitalismuskritik und Klassenanalyse gewesen sein – eine „Gerechtigkeit” freilich, die dabei „systemimmanent” um keinen Preis zu haben gewesen wäre –: In den neuen Texten von Claus Offe zur Krise der Arbeitsgesellschaft der 1980er Jahre wird „Gerechtigkeit” manifest und normativ an den systemeigenen Anspruch sozial- und wohlfahrtsstaatlicher Institutionen und den lebensweltlichen Normen der Zivilgesellschaft angedockt, die darin nicht mehr in erster Linie als bourgeoise Klassengesellschaft erscheint. Damit wird „Gerechtigkeit” vom ursprünglichen Systemproblem zum Optimierungsprogramm rationaler Politik gewissermaßen säkularisiert. Dabei wird die kapitalismuskritische Analyse bei Claus Offe auch später niemals zur Affirmation des Privateigentums und der Marktvergesellschaftung als solcher ideologisiert. Gerade die Vorbehalte letzterer gegenüber bleiben ein Leitmotiv. Soviel residual sich wohl immer noch aus dem Marxismus speisende Grundsatzkritik bleibt bei ihm stets gegenwärtig, daß über die funktionale Notwendigkeit von Eigentum und Markt hinaus deren Spannungsverhältnis zu gemeinschaftlichen Gerechtigkeitsnormen und Politiken zu deren Gestaltung stets das Hauptthema Offes bleibt.

Eine neue Theorie der Gerech­tig­keit?

Das Gerechtigkeitsoptimierungsprogramm mündet praxeologisch orientiert in einer seit den frühen 1980er Jahren beständig und nachdrücklich wiederholten Plädoyer zu relativen Entkopplung von Erwerbsstatus und Arbeitsmarktbeteiligung von materielle Grundsicherung. Während der Aufbau der Systeme sozialer Sicherheit in der Traditio. der Bismarckschen Sozialpolitik letztlich – inzwischen allerdings bereis stark aus Steuei mitteln subventionierte – bloß Versichertengemeinschaften gegen gemeinsame Risike unter Erwerbstätigen geschaffen habe, argumentiert Claus Offe – ähnlich wie bereil Thomas Marshall Ende der 1940er Jahre – nunmehr müsse der Gedanke der Solidaritl unmittelbar an den Bürgerstatus gekoppelt und von der Bedingung eigener Erwerbstätig keit ebenso abgekoppelt werden wie von dem als entwürdigend empfundenen Nachwei der Bedürftigkeit, wie er im Ende der 1950er Jahre geschaffenen Grundsicherungsprc gramm der „Sozialhilfe” nach dem BSHG konstituierend sei. Seit dem Ende der 1970f Jahre ist Offe nach meiner Beobachtung einer der ersten etablierten Sozialwissenschaftle: die von der unrevidierbaren Prämisse ausgehen, dass die „Arbeitsgesellschaft” nie wiedf im klassischen Sinne Vollerwerbsgesellschaft sein könne. Ihr ginge also im Sinne des  Mottos des Bamberger Soziologentages Anfang der 1980er Jahre endgültig ,die Arbe aus‘ – was neben den unaufhaltsamen Rationalisierungs- und Produktivitätssteigerunge der Ökonomie nicht zuletzt auch mit dem veränderten Erwerbsverhalten von Frauen zusammenhänge. Die dabei auftretenden organisatorischen und gerechtigkeitsbezogene Probleme sind eminent, weil eine sich in der Entwicklung der Moderne als „Arbeitsgesel schaft” selbst entwerfende Gesellschaft von Art und Beschaffenheit der jeweiligen Arbe ja nicht nur Einkommen und soziale Sicherheit, sondern auch gesellschaftliche Anerkei nung, Selbstbild und Selbstwertgefühl der Individuen abhängig mache. Die daraus resu tierenden Dilemmata zeigten sich früh und intensiv in der Skepsis, mit der ursprünglic und in weiten Teilen wohl auch noch heute die Gewerkschaften als traditionelle Intere senvertreter der zumeist männlichen Vollerwerbstätigen auf Modelle der Flexibilisierun; Arbeitszeitverkürzung und -umverteilung jedenfalls immer dann reagierten, wenn dam auch eine Umverteilung von Einkommen verbunden sein sollte. Claus Offes Überlegw gen gehen aber über die Umverteilung auf traditionellen Arbeitsmärkten oder über df wiederholt gemachten Vorschlag von Lebensarbeitszeitkonten mit garantierten „Sabba Jahren” weit hinaus und sind bereits viel früher in seiner systemkritischen Phase entwi] kelt. Bereits in seiner 1967 abgeschlossenen Dissertation hatte er, lange vor der später einsetzenden Debatte um eine arbeitsunabhängige Grundsicherung, vor dem Hintergrund d Annahme, „daß Vollbeschäftigung der gesamtgesellschaftlichen Arbeitskraft nicht mel realisierbar sei” (1970: 16), postuliert: Der „Widerspruch zwischen der Fiktion techr scher Einkommensermittlung [auf der Basis des „ideologischen Leistungsprinzips” M.G.] und der Tatsache normativer Einkommensermittlung fände seine Lösung in eine Modell der Distribution, das normative Geltungshierarchien auf politischer Ebene zur Disposition stellt und damit die Verteilung von Einkommen und sozialen Lebenschancen dem Prozeß einer öffentlichen Willensbildung angleicht“ (1970: 171). 25 Jahre nach diesen Sätzen untersucht er zusammen mit Rolf G. Heinze Modelle „organisierter Eigenarbeit” in „Kooperationsringen” (Heinze/Offe 1990) und interessiert sich für die Frage, wie Formen gesellschaftlich nützlichen Engagements mit Gratifikationslogiken und dem Modell der gesellschaftlichen Grundsicherung zusammengebracht werden können.

Wenn seit dem Ende der 1970er Jahre bei Claus Offe ein grundsätzliches Denken in Systemalternativen semantisch und tatsächlich nicht mehr festzustellen ist, so sei hier zu diesen Überlegungen der kritische Kommentar ergänzt, mit dem ich mich selbst schon vor Jahren an der Debatte über ein leistungs- und bedürftigkeitsentkoppeltes „Bürgergehalt” beteiligt habe: Es hieße ausgerechnet dieser kapitalistischen Gesellschaft gerade in Zeiten sich steigernder internationaler Wirtschaftsverflechtungen mit den damit ein-hergehenden Konkurrenzzwängen immanent jenes Mehr an Solidarität zuzutrauen, des-sen sie funktional wie im Falle der „Sozialhilfe” zu ihrer Stabilisierung und Integration gar nicht mehr bedürfte, also ein Mehr, das einmal mit der Utopie eines freiheitlichen Sozialismus verbunden gewesen war. Diese Idee vermochte sich bisher freilich nur um den Preis der Freiheit und des Verzichts auf die international wettbewerbsfähige Ausschöpfung ihrer eigenen Leistungs- und Produktivitätspotentiale eine Zeit lang zu stabilisieren. Unterstellte man, dass die dafür notwendigen Solidaritätspotentiale in Form von Umverteilungsbereitschaft bei den Leistungsfähigen sich entgegen den bisherigen und aktuellen Erfahrungen irgendwie doch noch in Freiheit bewerkstelligen ließen, so fürchte ich doch, dass die Realisierung solcher Modelle am internationalen Wettbewerb scheitern müßte. Die daraus resultierende pessimistische Prognose gehört nicht mehr hierher – oder vielleicht doch insoweit, als ich nicht umhin kann, Claus Offes Impertinenz zu bewundern, mit der er in zahlreichen Zeitschriftenartikeln und eher politischen Interviews gegen die Macht dieser objektiven Entwicklungen, die auch ihm nicht verborgen bleiben dürften, mit seinen Vorschlägen, Entwürfen und Modellen andenkt. Vielleicht verdient es das etwas paradoxe Prädikat immanent utopisch, nachdem die systemtranszendierende Utopie explizit nicht mehr in Erscheinung tritt.

Demokratie als intel­lek­tu­elle Aufgabe

Schließlich hat Claus Offe seit den 1980er Jahren zunehmend praktischen Problemen der Demokratie und normativen wie theoretischen Problemen ihrer Rechtfertigung seine Aufmerksamkeit geschenkt. Auch hier galt es über die vierzig Jahre seit der SDSDenkschrift einen langen Weg zurückzulegen. Den Ausgangspunkt kann man am einfachsten unter Hinweis auf einen für eine ganze Generation wohl paradigmatischen und gleichzeitig prägenden Text von Jürgen Habermas setzen. In seiner Einleitung zu Student und Politik entfaltete dieser unter der Überschrift Über den Begriff der politischen Beteiligung den doppelten Gedanken, dass politische Beteiligung in einer privatkapitalistisch strukturierten Gesellschaft bei der Verwirklichung von Gemeinwohlzielen vernünftiger Politik stets und notwendig an eine Grenze stoßen müsse: „demokratisch wird das Potential dieser Beteiligung in dem Maß sein, in dem es für eine Entwicklung der [bestehenden – M.G.] formellen zur materialen, der liberalen zur sozialen Demokratie politisch wirksam werden, also die politische Entscheidung im Sinne der Verwirklichung einer freien Gesellschaft beeinflussen kann” (Habermas 1961: 55) – die es auf dem Boden des Bestehenden mit demokratischen, vor allem auch außerparlamentarischen Mitteln zu befördern und vorzubereiten gelte. Aus dieser Perspektive entwickelte sich in der Folge einerseits eine in Hinsicht auf das emanzipatorische Potenzial – wie man es damals nannte – höchst skeptische Analyse des parlamentarischen Systems, für das Johannes Agnolis Transformation der Demokratie (1967) den zugleich esoterischen wie populären Bestseller abgab. Auch Claus Offe nahm, wie bereits erwähnt, in seinem Beitrag zur Einführung in die Politikwissenschaft zustimmend darauf Bezug, rezipiert ihn aber damals bereits zusammen mit Niklas Luhmann. Während letzterer die „Folgenlosigkeit” der „Partizipation” in Wahlen als systemfunktional kühl konstatierte und damit in der damaligen Sprache Adornos „affirmierte”, analysierte Claus Offe damals mit Agnoli den Parlamentarismus vor allem unter dem Gesichtspunkt der Eliminierung von systemgefährdenden Klassenkonflikten. Diente der Parlamentarismus also der Integration, so waren es vor allem die spontanen und außerparlamentarischen Formen in-formeller Politik, von den frühen Bürgerinitiativen bis zu den Neuen Sozialen Bewegungen, mit denen Claus Offe seitdem und bis heute die allerdings unemphatische Hoffnung verbindet, in ihnen kämen gerade jene vom selektiven Filter organisierter Interessen oder dem Parteiensystem dauerhaft vernachlässigten Bedürfnisse und Anliegen auf die politische Agenda (1985) – wenn sie der integrationistischen „Selbsttransformation” zu widerstehen verstünden (1990). Dabei dachte er bereits Ende der 1960er Jahre und anders als jene Teile der damaligen außerparlamentarischen Opposition, die sich „gewerkschaftlich” – freilich gegen die integristischen Gewerkschaften und für das sich in „wilden Streiks” in Erinnerung bringende Proletariat – organisierten, vor dem Hintergrund seiner „Disparitätentheorie” nicht mehr an die stets als bevorstehend und sich in jeder kleinen Aktion ankündigende Emanation von Klassenbewußtsein. Sondern Offe bezog die jeweils in außerparlamentatischem Protest sich äußernden Bedürfnisse und Anliegen einerseits normativ auf die Frage der Gerechtigkeitsoptimierung und andererseits auf die Rationalitätsprobleme vernünftiger Politik und der zur Verfügung stehen-den Institutionen und Entscheidungsverfahren. Berühmt und zum Gemeinplatz geworden ist seine kritische Diskussion der Rationalitäts- und damit einhergehenden Legitmitätsprobleme des demokratischen Mehrheitsprinzips, das ohne Revidierbarkeit keine Legitimität beanspruchen könne (1984). Anlaß und Art seiner ldee gehört deswegen in diesen gedanklichen Kontext, weil sie typisches offenbart: Claus Offes durchaus von erkennbarer Sympathie getragenes Reagieren auf die Inhalte und Anliegen außerparlamentarischen Protests erweist sich für ihn wie für die Sozialwissenschaft fruchtbarer in der theoretischen Reflexion als in der vordergründigen Unterstützung und Partizipation durch seine eigene Person. Vielleicht ist dies letztlich sogar für die Protestbewegungen selbst nutzbringender, sofern sie aus dem theoretischen Argument wieder ein politisches zu machen verstehen. – Dass in solch reflektierender Begleitung wie in aller echten Wissenschaft auch immer ein Moment der bewußten und methodisch-gedanklichen Distanzierung mitschwingt, die sogar kritische Gedanken bei aller grundlegenden Sympathie nicht ausschließt, haben ihm einige seiner sich dem Typus des enrage permanent annähernden früheren Freunde und Kollegen übelgenommen. Auch eine in den letzten Jahren sich verbürokratisierende und gelegentlich gerechtigkeitsinverse Effekte produzierende Frauengleichstellungspolitik hat dies in einigen kritischen Fußnoten zu spüren bekommen (z.B. 1998: 126, Anm. 29).

Abgeklärte Apologie oder Freiheit als Wert an sich?

Aber es war ein weiter Weg, ein Weg im Übrigen, den viele wie Claus Offe oder sogar mit ihm zurückgelegt haben. Er reichte vom anfänglich systemkritischen Bezug auf die parlamentarische Demokratie als Integrationsinstitution der Herrschaft und selektivem Filter gegen berechtigte Masseninteressen bis zur Offes heutigen, vielleicht nicht resignierten, aber abgeklärten Apologie der „liberalen Demokratie”. Sie offenbart sich im Inhalt wie Tonfall von Sätzen wie diesen: „Die liberale Demokratie ist heute in einem spezifischen Sinne alternativlos […] [sie] hat sich gewandelt von einer Tugend, der man folgen soll, zu einer Tatsache, mit der man umgehen muß” (1992: 126f.). Diese Alternativlosigkeit, die im diametralen Gegensatz zu der bereits zitierten früheren Einschätzung der liberalen Demokratie als einer für überwunden geglaubten Phase steht, grundiert auch seine skeptisch bis negative Einschätzung der Möglichkeiten von Demokratie auf trans- und supranationaler Ebene. Denn weder sieht Offe hier die Chancen vergleichbarer sozialpolitischer Transfers und damit der Herstellung sozialer Gerechtigkeit wie im nationalen Wohlfahrtsstaat gegeben (2000), noch findet sich hier bereits jenes Maß an „homogenious citizenship status […] which is […] an essential precondition for democratic stability” (1998: 137). Mit diesem klassisch liberalen Argument wendet sich Claus Offe auch prononciert gegen alle Varianten eines normativen Multikulturalismus ä la Kymlicka (1995) oder des Feminismus (Young 1989). In diesen und ähnlichen Beiträgen der letzten Jahren schimmert eine im Lichte seiner frühen Ausgangspositionen doch etwas überraschende Eindeutigkeit der Zustimung zur rein repräsentativen Parteiendemokratie durch. Sie äußert sich auch in seinen seit einigen Jahren skeptischen bis schroff ablehnenden Stellungnahmen gegen eine plebiszitäre Ergänzung der repräsentativen Willensbildungsstrukturen, denen im Vergleich zu den immer nur auf vorgegebene Fragen „antwortenden” plebiszitären Voten nunmehr ein höheres Potential dis-kursiv zustandegebrachter Problemangemessenheit und damit Rationalität zugetraut wird. Nicht mal zum Veto gegen die vermachteten bürokratisch-korporatistischen und/oder von Parteieliten dominierten parlamentarischen Willensbildungsprozesse im Sinne Heidrun Abromeits (2002) soll also am Ende die direkte politische Äußerung des Mehrheitswillens mehr taugen. Die „Volkssouveränität” verkommt nach Offe zur bloßen Legitimitätsfiktion. Er setzt demgegenüber, wie so viele, vor allem auf die output-Legitimität der „sozialökonomischen Melioration”: „Eine der wichtigsten Beweislasten,die der demokratischen Politik aufgebürdet sind, ist deshalb ihre Fähigkeit, mit wirtschafts-und sozialpolitischen Mitteln eine als gerecht beschreibbare Ordnung von materiellen Lebenschancen auch noch unter den Bedingungen der Globalisierung aufrechtzuerhalten” (1998: 367). Was aber, wenn genau das die nationalstaatliche Politik in Zukunft in angeblich legitimitätsstiftender, in Wirklichkeit wohl nur momentane Akzeptanz aktueller Politik produzierender Weise nicht mehr ausreichend zu leisten vermag und wenn, woran ja auch Claus Offe zweifelt, auch trans- und supranationale governance wie im Falle der EU dies kaum im Maße bisheriger wohlfahrts- und sozial-staatlicher Politik der westlichen OECD-Welt zu kompensieren vermag? Wer die Begründung und Legitimität der freiheitlichen Republik wesentlich auf ihre wirtschaftsund sozialpolitische Leistungsfähigkeit stützen will, der fundiert sie auf einem möglicherweise bereits in der Gegenwart recht schwachen Gerüst, unter dem sich schon für viele der Abgrund materiell dauerhaft sinkender Lebensqualität auftut. Käme es nicht gerade angesichts dieser Aussichten darauf an, wenigstens die politische Freiheit und Demokratie zu erhalten und abzusichern – als einen Wert an sich?
1 Aus pragmatischen Gründen lasse ich Claus Offes wichtige Beiträge zur Transitionsforschung seit 1989 hier ganz außer Acht – auch, weil ich dabei mehr Raum für kritische Auseinandersetzung beanspruchen würde, als hier zur Verfügung steht. Aus demselben Grund war es mir nicht möglich, auf die „Offe-Rezeption” einzugehen.

Literatur von Claus Offe

(Alle Zitate von Claus Offe im Text nur mit Jahres- und Seitenzahl)
1963: Sozialökonomie des Studiums; in: neue kritik 16, S. 6-14
1968: Technik und Eindimensionalität – Eine Version der Technokratie-These?; in: Jürgen Habermas (Hg.): Antworten auf Herbert Marcuse, Frankfurt/Main, S. 73-85
1969: Sachzwang und Entscheidungsspielraum; in: Stadtbauwelt 60, 23, S. 187-191
1969b: Politische Herrschaft und Klassenstrukturen; in: Gisela Kress/Dieter Senghaas (Hg.): Po-
litikwissenschaft, Frankfurt/Main, S. 155-189 (zit. nach Taschenbuchausgabe 1974, S.
135-164)
1970: Leistungsprinzip und industrielle Arbeit, Frankfurt/Main
1972: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt/Main
1973: „Krisen des Krisenmanagements”: Elemente einer politischen Krisentheorie; in: Martin Jänicke (Hg.): Herrschaft und Krise, Opladen, S. 197-223
1984: Politische Legitimation durch Mehrheitsentscheidung?; in: Bernd Guggenberger/Claus
Offe (Hg.): An den Grenzen der Mehrheitsdemokratie, Opladen, S. 150-183
1985: New Social Movements: Challenging the Boundaries of Institutional Politics; in: Social
Research 52, 4, S. 817-868
1990: Reflections on the Institutional Self transformation of Movement Politics: A tentative Stage Model; in: Robert J. Daltin/Martin Küchler (Eds.): Challenging the Political Order, Cambridge, S. 232-250
1990: mit Rolf. G. Heinze: Organisierte Eigenarbeit. Das Modell Kooperationsring, Frankfurt/New York
1992: Wider scheinradikale Gesten; in: Gunter Hofmann/Werner A. Perger (Hg.): Die Kontroverse, Frankfurt/Main, S. 126-142
126 vorgänge Heft 1/2004, S. 112-126
1995: Bewährungsproben. Über einige Beweislasten bei der Verteidigung der liberalen Demo-
kratie; in: Richard Saage/Günter Berg (Hg.): Zwischen Triumph und Krise, Opladen 1998: „Homogeneity” and Constitutional Democracy: Coping with Identity Conflict through
Group Rights; in: The Journal of Political Philosophy 6, H. 2, S. 113-141
2000: The Democratic Welfare State in an Integrating Europe; in: Michael Th. Greven/Lours W.Pauly (Eds.): Democracy Beyond the State?, Lanham, S. 63-89
Literatur anderer Autoren (* Claus Offe als Ko-Autor)
Abromeit, Heidrun 2002: Wozu braucht man Demokratie?, Opladen
Adorno, Theodor W. 1969: Einleitungsvortrag; in: Ders. (Hg.): Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages) Stuttgart, S. 12-26
Agnoli, Johannes/Brückner, Peter 1967: Die Transformation der Demokratie, Frankfurt/Main *Bergmann, Joachim u.a. 1969: Herrschaft, Klassenverhältnisse und Schichtung; in: Theodor W. Ador-
no (Hg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (Verhandlungen des 16. Deutschen Soziolo-
gentages) Stuttgart, S. 67-87
Blanke, Bernhard u.a. 1975: Kritik der Politischen Wissenschaft, 2 Bde., Frankfurt/Main Fleischer, Helmut 1970: Marxismus und Geschichte, Frankfurt/Main
Greven, Michael Th. 1999: Die Politische Gesellschaft, Opladen
*Nitsch, Wolfgang. u.a.* 1965: Hochschule in der Demokratie. Kritische Beiträge zur Erbschaft und Reform der deutschen Universität, Berlin-Spandau/ Neuwied am Rhein
Habermas, Jürgen 1961: Über den Begriff der politischen Beteiligung; in: Jürgen Habermas u.a.: Student und Politik, Berlin und Neuwied am Rhein, S. 11-55
Habermas, Jürgen 1973: Legitmiationsprobleme im Späkapitalismus, Frankfurt/Main
Horkheimer, Max 1987: Autoritärer Staat; in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt/Main, S. 293-319
Kymlicka, William 1995: Multicultural Citizenship, Oxford
Young, Iris .M. 1989: Polity and Group Difference: A Critique of the Ideal of Universal Citizenship; in: Ethics 99, H. 2, S. 250-274
Ronge, Volker/Schmieg, Gunther 1973: Restriktionen politischer Planung, Frankfurt/Main

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