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Geteilt und umkämpft: Jerusalem

Zur Rolle von Stadtpolitik im Nahostkonflikt

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S97-106

Großstädte sind durch kulturelle und soziale Heterogenität, hohe Dichte und Dynamik gekennzeichnet. Da die Interessen und Nutzungsformen ihrer Bewohner kollidieren, sind Konflikte an der Tagesordnung – allerdings sind die Städter auch in höherem Maße fähig, Differenzen zu ertragen. Dennoch gibt es Städte, in denen politische, soziale, ethnische oder auch symbolische Konflikte eine Virulent erreichen, dass sie als Contested Cities bezeichnet werden müssen. Berlin während des Kalten Krieges war einmal eine solche Stadt. Als Beispiele aus der Gegenwart können Johannesburg, Belfast, Mostar, Nicosia und Jerusalem genannt werden.

Die Stadt Jerusalem ist wohl die berühmteste umkämpfte Stadt – und dies schon seit Jahrtausenden. Heute betrachtet Israel sie als seine Hauptstadt, inklusive der im Sechstagekrieg 1967 eroberten Gebiete in und um Ostjerusalem. Die Palästinenser weigern sich, die Annexion anzuerkennen und erheben ebenfalls Anspruch auf Jerusalem als Hauptstadt des noch zu gründenden palästinensischen Staates. So ist die Stadt, die eigentlich als vereint gilt, in vielerlei Hinsicht eine gespaltene Stadt. Die Spaltungen sind Produkte des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern, sie sind aber auch Ergebnis der Politik, die mit Jerusalem betrieben wurde. Umgekehrt ist die Stadtpolitik auch ein Instrument, den Konflikt abzumildern und vielleicht sogar überwinden zu helfen. Im Folgenden wird die Stadtentwicklung der jüngeren Zeit analysiert und versucht, die Hintergründe für die fortbestehende Spaltung zu beleuchten. Am Ende werden zu-dem einige Entwicklungsszenarien für die Stadt diskutiert und Eckpfeiler einer Lösung der Jerusalemfrage benannt.

Vom geteilten zum vereinigten Jerusalem 1948-1967

Als Folge des israelisch-jordanischen Krieges 1948 wurde Jerusalem in einen jordanisch kontrollierten Ost- und einen israelisch kontrollierten Westteil aufgeteilt und durch Mauern getrennt. Sowohl für Jordanien als auch für Israel wurde Jerusalem eine Grenzstadt. Während der 19 Jahre währenden Teilung richteten sich Israels Bemühungen vor allem auf die Verteidigung der Stadt und die Integration der zahlreichen Einwanderer.

Während des Sechstage-Krieges im Juni 1967 eroberten die israelischen Streitkräfte neben den syrischen Golanhöhen, dem Westjordanland, der Sinaihalbinsel und dem Gazastreifen auch den Ostteil Jerusalems mit der Altstadt. Noch im selben Monat verfügte die israelische Regierung die Ausweitung des israelischen bürgerlichen Rechts auf die gesamte Stadt. Palästinensische Bewohner Jerusalems erhielten somit die Möglichkeit, israelische Staatsbürger zu werden. Die von der Knesset beschlossene Annexion Ostjerusalems und der Altstadt wird bis heute von palästinensischer Seite nicht anerkannt. Palästinenser mit Hauptwohnsitz in Ostjerusalem erhielten besondere, blaue Jerusalemer Ausweise (Jerusalem ID), die ihnen ein Wohnrecht in der Stadt und das Anrecht auf die israelische Sozialversicherung, jedoch keine Staatsbürgerrechte verschafften.

Segregation als Planungsinstrument

Mit der Vereinigung der Stadt begannen diverse Bemühungen, den Status Jerusalems als „ewige und unteilbare Hauptstadt Israels” zu zementieren (Romami/Weingrod 1991: 54). Zu diesem Zweck wurde der israelischen Regierung eine bedeutende RolIe in der Kontrolle über die Stadt eingeräumt. Minister und Beamte der Zentralregierung bekamen mehr Einfluss auf die Stadtentwicklung als der gewählte Bürgermeister. Israels Jerusalempolitik war explizit politisch und nicht stadtplanerisch motiviert. Segregation – sonst ein eher unerwünschtes Phänomen der Stadtentwicklung – wurde als Instrument und Planungsziel gewählt, was den Stadtplanern schlagartig viele, allerdings politisch und ideologisch klar definierte Aufträge verschaffte (Bollens 1998: 733ff.).

Unmittelbar nach Beendigung des Krieges wurde begonnen, Fakten zu schaffen, damit die Stadt nicht wieder teilbar würde. So veranlasste Israel den Abbau der Mauern und Sperrzäune, die Ost- und Westjerusalem getrennt hatten. Jerusalem wurde in östliche, nördliche und südliche Richtung unter der Maßgabe erweitert, möglichst viele Gebiete, aber möglichst wenige arabische Dörfer und deren Bevölkerung einzugemeinden (Nasrallah 2003: 226). So kam neben den Stadtteilen Ostjerusalems vor allem unbewohntes Land hinzu; die Stadtfläche verdoppelte sich, während die Einwohnerzahl um ca. 100.000 stieg.

Seit 1967 hat sich als Ergebnis des Wohnungs- und Siedlungsbaus die Bevölkerungsstruktur Jerusalems vollständig verändert. Ein erklärtes Ziel der Siedlungspolitik und der Landkonfiszierungen war es, die „räumliche Kontinuität arabisch-palästinensischer Siedlungen im Norden, Osten und Süden Jerusalems zu durchbrechen” (Newman 2002: 55). So wurden in strategisch günstiger Lage die Siedlungen Ramat Eshkol, French Hill und später Ramot Allon, Neve Yaakov, East-Talpiot, Gilo und Pisgat Ze’ev errichtet. In einigen Siedlungen entstanden vorrangig Sozialwohnungen; es wurden zinsfreie Hypotheken gewährt oder kostenlose Kindertagesstätten zur Verfügung gestellt, so dass die neuen Wohngebiete attraktiv auch für ärmere Israelis, wie Einwande-rer aus der ehemaligen Sowjetunion und die Gruppe der Haredim (Ultraorthodoxe) wurden. Sie schufen die „kritische Masse”, die notwendig war, das Sicherheitsgefühl und Selbstbewusstsein unter den neuen Bewohnern zu stärken (Bollens 1998: 735). Bis 1980 wurde zu diesem Zweck über ein Drittel des Bodens in Ostjerusalem „im öffentlichen Interesse” von der Regierung enteignet, um Bauland für Wohn- und Industriestandorte zu schaffen (Romann/Weingrod 1991: 33). Im Kontrast zur Expansion des jüdischen Jerusalem sah das israelische Planungsgesetz vor, die palästinensische Bevölkerung so klein wie möglich zu halten. Hierzu wurden zahlreiche Gebiete Ostjerusalems als Grünflächen deklariert, auf denen das Bauen verboten ist. Dessen ungeachtet wurden zwei große jüdische Wohnkomplexe auf eben solchen Grünflächen errichtet (Hasson 2001: 312f). Versuche palästinensischer Bewohner, legal Land zu erwerben oder eine Baugenehmigung zu erhalten, stoßen auf restriktive Vorgaben (Bollens 1998: 736f.). Weil aber die israelische Herrschaft und ihre Institutionen nicht anerkannt sind, werden auch die Gerichte höchst selten eingeschaltet. Viele Palästinenser berufen sich auf ihr Recht auf das eigene Land und bauen illegal. Die Zerstörung solch illegal errichteter Häuser heizt den Konflikt immer wieder von neuem an.

Aufgrund dieser politisch-planerischen Maßnahmen begann der Zusammenhang zwischen Ost/West und arabisch/jüdisch zu verschwimmen. Bereits 1983 lebte ein Viertel der jüdischen Bewohner Jerusalems in jüdischen Enklaven im Ostteil der Stadt (RomannlWeingrod 1991: 34). Der arabischen Bevölkerung hingegen wurde es verwehrt, Wohnungen in den neuen Wohngebieten zu mieten, zu kaufen oder nach 1967 in ihren Wohnungen im jüdischen Altstadtviertel zu verbleiben (ebd.: 38).

Weite Teile der Infrastruktur werden seit der Vereinigung gesamtstädtisch organisiert, andere funktionieren getrennt voneinander. So gibt es weiter zwei getrennte Bus-und Taxisysteme, während beispielsweise die Wasser- und Stromversorgung – gegen den Willen der Palästinenser – vereinheitlicht wurde. Allerdings unterscheidet sich die Reich-weite der Versorgung massiv, da ein Teil der palästinensischen Bevölkerung im Ostteil weder an das Strom-, noch an das Wassernetz angeschlossen ist. Die Steuern sind zwar für alle Jerusalemer gleich hoch, jedoch fließen nur ein Achtel der öffentlichen Zuwendungen in arabisch bewohnte Gebiete. Denn obgleich palästinensische Jerusalemer das kommunale Wahlrecht genießen, boykottieren sie die Teilnahme und berauben sich damit auch der Möglichkeit, über die Verwendung des städtischen Budgets mitzubestimmen (Bollens 1998: 735). Der Gebrauch des Wahlrechts wird als ein affirmativer Akt betrachtet, der einer Anerkennung der Annexion gleichkäme. Als Folge dieser Haltung ist ein Drittel der Bevölkerung nicht demokratisch repräsentiert. Würden alle palästinensischen Jerusalemer ihrem Wahlrecht nachkommen, könnte die Gruppe – zumindest theoretisch – einen erheblichen Einfluss in der Stadtpolitik ausüben.

Die Herstellung einer demographischen Balance zwischen Juden und Arabern war ein weiteres wichtiges Ziel der israelischen Jerusalempolitik. 1973 wurde unter der Ministerpräsidentin Golda Meir beschlossen, dass das Verhältnis von Israelis zu Palästinensern bei 71:29 gehalten werden soll (Tamari 2003: 129). Jerusalem hat heute knapp über 680.000 Einwohner im Vergleich zu 266.000 in 1967 und 84.000 in 1948 (The Jerusalem Yearbook 2003). Während die arabische Bevölkerung um den Faktor 3,2 gewachsen ist, nahm die jüdische Bevölkerung inklusive der anderen ethnischen Gruppen nur um den Faktor 2,3 zu. Vor allem die hohen Geburtenzahlen in der arabischen Bevölkerung haben verhindert, dass die von Israel gewünschte Bevölkerungsbalance gehalten wurde. Im Jahr 2002 betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung (inklusive einer kleinen christlichen Minderheit von ca. zwei Prozent) nur noch 67,4 Prozent gegenüber 32,6 Prozent Arabern (ebd.). Um das demographische Verhältnis zu korrigieren, erweiterte Israel mehrfach die Fläche Jerusalems und gemeindete jüdische Dörfer in das Stadtgebiet ein (Choshen 2003: 155). Ein anderes Instrument, das zur Verringerung der Zahl palästinensischer Einwohner gedacht war, hat sich als eher kontraproduktiv erwiesen: Strenge Passkontrollen und der Entzug der Dokumente für den Fall, dass der Hauptwohnsitz nicht nachweisbar Jerusalem ist, sollten die Quote verringern, führten jedoch dazu, dass viele Palästinenser mit Jerusalemer Pass aus dem Umland zurück in die Stadt zogen und ihre Zahl eher stieg (Hasson 2001: 294).
Mit dem Blick der Stadtsoziologie: Die gespaltene „vereinigte Stadt” heute Jenseits der üblichen Diskussionen um den Nahostkonflikt und seinen Mikrokonflikten soll hier versucht werden, einen möglichst nüchternen, stadtsoziologischen Blick auf das heutige Jerusalem zu werfen. Wohin hat die Vereinigung Jerusalems geführt? Welchen Stellenwert nimmt die besondere Stadtpolitik dabei ein? Die Jerusalempolitik hat, so die These, eine Reihe von Problemen und Spaltungslinien wenn nicht produziert, dann doch zumindest verstärkt. Dazu soll die sozialräumliche, kulturelle, politische, und wirtschaftliche Dimension untersucht werden.

Juden und Araber in Jerusalem leben heute unter Bedingungen der völligen Segregation. Diese ist das Ergebnis der oben skizzierten Stadtpolitik seit 1967. Sie betrifft nicht nur einzelne Bereiche wie den des Wohnens, sondern durchzieht die gesamte sozial-räumliche Topographie der Stadt. Dank mehrerer Tunnel und besonders gesicherter Straßen ist es heute möglich, aus Westjerusalem in entlegene israelische Siedlungen in Ostjerusalem zu gelangen, ohne sich der Gefahr aussetzen zu müssen, durch ein einziges palästinensisches Dorf zu fahren. Dennoch ist die Angst vor Terroranschlägen, Schikanen und Überreaktionen auf allen Seiten omnipräsent. Der Ostteil ist seit dem Ausbruch der zweiten Intifada im September 2000 zu einer No-go-Area für Juden geworden (Nasrallah 2003: 227ff.). Kein israelischer Taxifahrer befährt freiwillig die Oststadt, kein säkularer Jude geht am Sabbat mehr in die Altstadt, um Humus zu essen. Juden, die in der Altstadt leben oder die dortigen Yeshivas (Talmud-Schulen) besuchen, sind häufig schwer bewaffnet oder in Begleitung von Bodyguards.

Die Segregation in Jerusalem verläuft aber nicht nur entlang der Spaltungslinie zwischen Juden und Arabern, sondern auch innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Ein wichtiges Beispiel dafür ist die freiwillige, gleichwohl aber hoch problematische Segregation der Ultraorthodoxen. Für religiöse Juden aus aller Welt ist die heilige Stadt Jerusalem der attraktivste Wohnort. Die hohe Kinderzahl – zehn bis zwölf sind keine Seltenheit –dieser Bevölkerungsgruppe, für die Empfängnisverhütung ein Tabu ist, trägt dazu bei, dass der Anteil der Ultraorthodoxen und damit auch ihr Wohnraumbedarf in Jerusalem immer weiter ansteigen. Schon heute beträgt der Anteil der Haredim ein Drittel aller Juden in der Stadt. Sie pflegen eine eigene kulturelle Identität, die sich mit keiner der anderen Bewohnergruppen verbindet. Sie haben ihre eigenen Schulen, folgen einer besonderen Ernährungsweise, die eine besondere Infrastruktur erfordert, heiraten nur innerhalb der Gruppe; während des Sabbat wird keine Elektrizität benutzt und die Straßen werden gesperrt. Zwar lebt die ultra-religiöse Bevölkerung abgeschottet, ihre häufig in gewalttätigen Demonstrationen vorgebrachten Forderungen, zum Beispiel den Autoverkehr und jeglichen Handel in ganz Jerusalem am Sabbat zu verbieten, betreffen aber die gesamte Stadt. Ziel der Bestrebungen der Ultraorthodoxen ist es, liberal-demokratische Tendenzen zurückzudrängen und in ganz Jerusalem die rigiden religiösen Regeln und die besonderen kulturellen Praktiken – insbesondere die strikte Trennung zwischen Männern und Frauen – durchzusetzen (Hasson 2001: 315). Weil sich die ultrareligiösen Quartiere ausbreiten und auch die angrenzenden Wohngebiete mit ihren Einflüssen prägen, sehen sich die Bewohner säkularer Viertel genötigt, ihre Straßen, Häuser, ihre Kultur- und Bildungsinstitutionen, sowie ihren gesamten Lebensstil gegen Übernahmen zu verteidigen. Weil sie von den kulturellen Praktiken der Haredim abgeschreckt sind, verlassen nicht wenige die Stadt entnervt in Richtung Tel Aviv (Newman 2002: 66). David Newman zufolge beeinträchtigt für die meisten Israelis „die religiöse Dimension das Leben in Jerusalem mehr als der israelisch-palästinensische Konflikt” (ebd.).

Ein Großteil der ultraorthodoxen Männer geht keiner Erwerbsarbeit nach, weil ihre streng gottesfürchtige Lebensweise dies verbietet. Sie verbringen alle Tage betend in den Yeshivas. Allenfalls die vielgebärenden Frauen verdienen der Familie ein Zubrot, um nicht vollständig von der staatlich gewährten Sozialhilfe abhängig zu sein. Die wach-sende Zahl der Haredim und der Fortzug säkularer Israelis aus der Mittelschicht, ebenso wie das natürliche Wachstum der arabischen Jerusalemer, unter denen eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht, sorgen für eine steigende Zahl der auf Transferleistungen angewiesenen Bevölkerung. Die Armutsquote in Jerusalem liegt deutlich über der anderer israelischer Städte. Verglichen mit dem Landesdurchschnitt von 17,8 Prozent der Familien, erreicht sie in Jerusalem 24,6 Prozent. 42,5 Prozent aller Jerusalemer Kinder leben unter der Armutsgrenze (The Jerusalem Yearbook 2001). Auffallend ist auch die Ungleichverteilung der Einkommen zwischen den Bevölkerungsgruppen. In Ostjerusalem liegt das Pro-Kopf-Einkommen um 20 Prozent unter dem Niveau von Israel. Gleichzeitig ist es aber 55 Prozent höher als in der Westbank und 70 Prozent höher als in Gaza (Klein 2001: 24).

Die Wohnbedingungen in West- und Ostjerusalem sind sehr ungleich. Ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung lebt unter beengten Bedingungen, insbesondere in der Altstadt. In einem Drittel der palästinensischen Haushalte in Jerusalem leben mehr als 3 Personen pro Raum. Trotz des Wohnraummangels gibt es für die palästinensischen Stadtteile keine umfassenden Bauplanungen. 88 Prozent der Wohnungen in Ostjerusalem wurden ausschließlich für die jüdische Bevölkerung errichtet (B’Tselem 1995, zit. in: Bollens 1998: 735). Die sozialen Institutionen in beiden Teilen der Stadt arbeiten nicht auf vergleichbarer Grundlage, so dass die Lebensbedingungen in Westjerusalem deutlich besser sind. Das Bevölkerungswachstum innerhalb der jüdischen und christlichen Bevölkerung Jerusalems liegt bei 0,9 Prozent, während es in der arabischen Bevölkerung bei 3 Prozent liegt (The Jerusalem Yearbook 2003). Bevölkerungsprognosen sagen vor-aus, dass 2010 26 Prozent der Einwohner Jerusalems, bzw. 38 Prozent der jüdischen Einwohner Jerusalems von Ultraorthodoxen gestellt wird. Der arabische Anteil wird 31 Prozent ausmachen, womit die säkularen Juden zu einer Minderheit würden. In den Grund-schulen und Kindergärten sind bereits über die Hälfte der Kinder Ultraorthodoxe (Hasson 2001: 315). Damit wachsen ausgerechnet die antagonistischen Bevölkerungsgruppen Jerusalems, während die zur Vermittlung fähigen säkularen Mittelschichten wegziehen.

Asymmetrische politische Repräsentation in der Stadt

Auch politisch ist die Stadt gespalten. Sie wird von Westjerusalem aus regiert, während die demokratische Repräsentation unter der palästinensischen Bevölkerung nur minimal ist. YiftacheUYacobi bezeichnen das Regime, das sich seit dem Sechstagekrieg in Jerusalem etabliert hat, als ,~jüdische Ethnokratie“, die von der dominanten ethnischen Gruppe zum Zweck der „Ethnisierung von umkämpftem Raum” etabliert wurde (YiftacheUYacobi 2002: 137). Der Schlüssel für die Ressourcenallokation sei die ethnische und nicht die staatsbürgerschaftliche. Ein zusätzliches Problem erwächst aus dem steigenden Einfluss der Ultraorthodoxen. Die Haredim konnten ihre Macht im Stadtrat in den vergangenen zehn Jahren beträchtlich ausweiten und zu einer hegemonialen Kraft in der Stadtpolitik werden. Traditionell wurde Jerusalem von einer säkularen Mehrheit in der Stadtregierung repräsentiert. 1993 verlor die linksliberale Koalition unter Bürgermeister Kollek die Mehrheit zugunsten einer rechten Koalition aus Likud und Schaspartei, die von der ultraorthodoxen Bevölkerung gestützt wurde. Seither verfolgt die Politik zunehmend selektiv die Interessen der Ultraorthodoxen und diskriminiert sämtliche nicht-haredische Interessen (Hasson 2002: 9). So nutzen ulträreligiöse Amtsträger, unterstützt vom Innenminister, ihre Position, um ihre Wählerschaft mit reduzierten Steuersätzen zu begünstigen und Familien mit wenigen Kindern steuerlich zu diskriminieren (ebd.: 36). Hasson beklagt, dass zwar die Wahlen, jedoch nicht die tägliche Repräsentation durch die Politik demokratischen Kriterien entspricht, da die Stadtregierung nicht annähernd die Bevölkerungsgruppen der Stadt reflektiere. Im Jahre 1998 betrug die Wahlbeteiligung der palästinensischen Bevölkerung gerade einmal 6 Prozent (ebd.: 13). Auch unter den jüdischen Bürgern ist sie rückläufig und betrug 1998 lediglich 42 Prozent. Insbesondere die Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion wählten nur zu 30 Prozent. Innerhalb der haredischen Bevölkerung betrug die Wahlbeteiligung dagegen 90 Prozent. Dies schlägt sich in einer klaren Überrepräsentanz der Haredim nieder, die 40 Prozent der Ratssitze erhielten, obwohl sie nur ein Fünftel der Wahlberechtigten stellen (ebd.: 14). Diese Entwicklung hat zu einem wachsenden demokratischen Defizit in der Stadtpolitik geführt.

Wirtschaftlich ist es Jerusalem in den vergangenen Jahren gelungen, zu einem anerkannten Produktionsstandort der Hightechindustrie und Biotechnologie zu werden. Da-bei ist die Stadt allerdings auf Subventionen angewiesen. Von 684 Millionen Dollar Industrieinvestitionen, die in Israel getätigt werden, entfallen nur etwa 18 Millionen Dollar auf Jerusalem (Friedmann 2002: 373). Die isolierte Lage in Israel und der fehlende zahlungskräftige Absatzmarkt im Umland dämpfen die Erwartungen für die Zukunft. Die Spaltung der Stadt setzt die Wirtschaft zusätzlich unter Druck. Die Geschäftszentren beider Stadtteile sind verschieden; Marktbeziehungen bestehen zumeist nur innerhalb der ethnischen Kolonien. Die wachsende Gruppe, die zum Sozialprodukt der Stadt kaum beiträgt und in großem Umfang Sozialhilfe bezieht, belastet den Haushalt Jerusalems schwer. Auch die Sicherheitslage strahlt unmittelbar auf die Wirtschaft aus. Häufig verhindern plötzliche Straßen- oder Ausgangssperren, dass palästinensische Arbeiter oder Angestellte an ihren Arbeitsplatz in Jerusalem gelangen. Auch auf den Tourismus hat die Sicherheitslage in der Stadt – und im gesamten Land – eine spürbare Wirkung. Mit Beginn der zweiten Intifada kollabierte dieser für die Stadt lebenswichtige Wirtschaftszweig. Hatten noch im Jahr 2000 über 1,2 Millionen Gäste die Stadt besucht, waren es 2002 nur noch knapp über 500 000.Die Auslastung der Hotelbetten ging zwischen 2000 und 2002 von 51,9 auf 21,5 Prozent zurück. Der Touristenmagnet Altstadt wird nur noch von der ansässigen Bevölkerung besucht, zahlreiche der Souvenirshops bleiben geschlossen. Das Holocaust-Gedenkmuseum Yad Vashem hatte zwischen 2000 und 2002 einen Besucherrückgang von 70 Prozent zu beklagen (The Jerusalem Yearbook 2003).

Die Grenzen der Stadt werden politisch definiert und folgen keinen planerischen Entwicklungslogiken. Zahlreiche Probleme des Zusammenlebens in der Stadt sind gewollt: Sie folgen der Strategie, Jerusalem zu einer rein jüdischen Stadt zu machen. Diese Strategie zeichnet sich dadurch aus, dass sie von Akteuren und mit Ressourcen vorangetrieben wird, deren Ziel nicht in erster Linie das Gesamtwohl der Stadt und aller ihrer Bewohner ist, weshalb man im Fall von Jerusalem von missbräuchlicher Stadtpolitik sprechen kann.
Die Expansion der Stadtgrenzen und der Siedlungsbau haben eine massive Segregation herbeigefiihrt. Die räumliche, infrastrukturelle und funktionale Trennung zwischen Israelis und Palästinensern produziert hohe Kosten und hat weiterhin eine starke gegenseitige Entfremdung bewirkt. Die von den Palästinensern nicht akzeptierte Besetzung Ostjerusalems, die unerreichbar scheinende Übereinkunft über eine Rückgabe der 1967 besetzten Gebiete oder über die Einrichtung der Hauptstadt eines palästinensischen Staates, hält die Palästinenser von den Wahlurnen fern und unterminiert auf diese Weise die Legitimität der städtischen Repräsentanten. Der Anspruch, die jüdische Bevölkerungsquote hoch zu halten, hat zu einem Diktat der Demographie und einer Abhängigkeit vom Wachstum der ultraorthodoxen Einwohner geführt, So wurde direkt und indirekt ihre Rolle gestärkt. Gleichzeitig treibt die zunehmend von Ultraorthodoxen dominierte, einseitige Stadtpolitik die wirtschaftlich aktiven säkularen Israelis aus Jerusalem. Problematisch ist ferner, dass die Stadt auf die Unterstützung von außen angewiesen ist, d.h. auf Akteure, die Jerusalem als Symbol und geopolitischen Spielball gebrauchen und sich kaum für die friedliche Koexistenz der Bewohner engagieren. Da die Jerusalemfrage so eng mit regionalen, nationalen und internationalen Interessen verknüpft ist, wird es schwierig, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Erneute Teilung – eine Lösung für die Zukunft Jerusalems?

Die Entwicklung Jerusalems ist Ergebnis der Projektion nationaler Interessen auf die Stadtpolitik. So hat, ungeachtet der Rhetorik einer vereinigten Stadt, die Politik Israels nach 1967 dazu geführt, dass Jerusalem eine geteilte und vielfältig gespaltene Stadt ist. Trotz ihrer Multi-Ethnizität ist sie keine pluralistische Stadt. Im Stadtgebiet leben beide Gruppen neben- und gegeneinander, und beide sind fest entschlossen, zu bleiben. Jeder Lösungsvorschlag muss die Interessen und Bedürfnisse beider Gruppen berücksichtigen. Ein Schlüssel auf dem Weg zum Frieden ist die Überwindung und Transformation des ethnokratischen in ein pluralistisches Regime. Vorschläge für diese Transformation sehen die Machtteilung zwischen den verschiedenen Gruppen vor, die breite Partizipation in Entscheidungsprozessen, die symbolische Repräsentation aller wichtigen Akteure in der städtischen Öffentlichkeit, sowie die proportionale Allokation von öffentlichen Ressourcen, Land, Infrastruktur und Einrichtungen (YiftacheUl’acobi 2002: 139). Gleichzeitig ist die ethnische Autonomie zu wahren und die lokale Demokratie zu institutionalisieren. Die Jerusalemfrage ist allerdings noch komplizierter. Eine Meinungsumfrage der Bir Zeit Universität vom November 2000 ergab, dass 92 Prozent der befragten Palästinenser einen Frieden ohne Ostjerusalem als Hauptstadt eines palästinensischen Staates für unmöglich hielten. Gleichzeitig waren 74 Prozent nicht bereit, die israelische Souveränität über Westjerusalem anzuerkennen, selbst wenn Ostjerusalem palästinensisch verwaltet würde (Wasserstein 2002: 367). Dies zeigt, dass die palästinensische ebenso wie die israelische Seite dazu tendiert, Extremforderungen zu stellen. Dass beide Seiten sich kompromissbereit zeigen, ist eine Mindestvoraussetzung für eine dauerhafte Lösung. Schon dieser Sinneswandel wird viel Zeit in Anspruch nehmen. Deshalb stellt sich die Frage, aus welchen Quellen Hoffnung geschöpft werden könnte.
Die Stadt ist Gegenstand starker Emotionen, was einen Kompromiss behindert. Da-her ist es wichtig, sich von einem sehr strikten Souveränitätsbegriff zu verabschieden, damit die Debatten um Extremforderungen entschärft werden. Eine Lösung können abgeschwächte Formen sein: „gemeinsame, geteilte, kooperative Souveränität über bestimmte Gebiete, funktionale Souveränität, d.h. Souveränität nur für Ausführung bestimmter Funktionen, vorübergehende Aufhebung der Souveränitätsansprüche, alleinige Souveränität, oder sogar eine Einigung darüber, sich in der Frage der Souveränität nicht zu einigen und dabei eine detaillierte Teilung von Befugnissen und Verantwortlichkeiten festzulegen” (Lapitdoth 2001: 16f.). Unter den heutigen politischen Voraussetzungen ist die gemeinsame,
bi-nationale Souveränität als extrem unrealistisch einzuschätzen, weil sie von beiden Gruppen Vertrauensvorschüsse und ein Mindestmaß an geteilten Werten voraus-setzt (Hasson 2003: 218). Zudem sagen auch bisherige positive Erfahrungen mit technischer Kooperation nichts über den Erfolg von politischer Kooperation aus. So scheint es ratsam, möglichst wenige Sphären gemeinsam und möglichst viele getrennt zu organisieren. Die israelische Seite sollte ein Interesse an einem Abkommen haben, in dem die Palästinenser einen Teil der Souveränität erhalten. Die Beibehaltung des Status Quo bei einem gleichzeitig immer stärker wachsenden palästinensischen Bevölkerungsanteil kann auf Dauer nur in die Krise weisen. Der Versuch, die Elemente gemeinsame Souveränität, Teilung und Kooperation miteinander zu verknüpfen, erscheint am sinnvollsten, weil je nach Bereich die richtige Strategie gewählt werden kann. Nur an Orten und in Dienstleistungen, die nicht getrennt werden können, sollte Kooperation angestrebt werden. Die Teilung von heiligen Stätten würde diese entweihen und die Teilung von Infrastrukhireinrichtungen (z.B. der Wasserversorgung) deren Effizienz mindern. Für die Altstadt scheint Kooperation, also gemeinsame Souveränität, das einzige Mittel der Wahl zu sein, weil das weniger als einen Quadratkilometer große Areal ansonsten von Checkpoints, Toren und Demarkationslinien durchzogen wäre. Heute stellt nicht zuletzt die Präsenz israelischer Soldaten auf dem Tempelberg eine ständige Provokation dar. Hingegen ist eine Teilung der politischen Souveränität sinnvoll. Sowohl die israelische, wie auch die palästinensische Seite würden eine eigene Stadtverwaltung etablieren und die Stadtgebiete kontrollieren, die im Bereich ihrer Souveränität liegen.

Diese Vorschläge finden sich teilweise in der Genfer Erklärung von Dezember 2003 wieder. Dieser jüngste Friedensvorstoß aus einem Kreis von oppositionellen Politikern, Intellektuellen und Geschäftsleuten aus beiden Gesellschaften stellt einen Meilenstein dar. Die Erklärung sieht neben der Gründung eines palästinensischen Staates Jerusalem als gemeinsame Hauptstadt Israels und Palästinas vor. Erstmals wurde ein Lösungsvorschlag für alle brisanten Kernfragen des Konfliktes geliefert, von Seiten der politischen Opposition initiiert. Es wurde versucht, Mehrheiten der beiden Gesellschaften für sich zu gewinnen und damit die Politik unter Zugzwang zu setzen. Eine Fortsetzung der seit 1967 betriebenen ethnokratischen Politik könnte sich als fatal erweisen. Sie bewirkt ei-ne Verstärkung der Segregation, welche die Minderheiten von der Teilhabe an Wirtschaft und Politik abschneidet und provoziert den Zuzug von Gruppen, die entweder keinen Willen oder keine Ressourcen haben, eine pluralistische Gesellschaft zu etablieren und die Wirtschaft zu tragen. Ferner vertreibt sie alteingesessene Mittelschichts-Jerusalemer, die für eine progressive Stadtpolitik in Jerusalem stehen. Die Stadt ist auf dem Weg, vollständig segregiert, politisch und religiös polarisiert und kulturell entfremdet zu werden. Ihre Wirtschaft hängt am Tropf des israelischen Staates und ausländischer Wohltäter. Soll diese Tendenz gestoppt werden, muss der eingeschlagene Pfad der Stadtpolitik verlassen werden. Eine Voraussetzung für jeden Lösungsvorschlag muss sein, Jerusalem intakt zu lassen, d.h. die Stadt nicht erneut durch Mauern zu teilen und vom Umland abzuschneiden – womit im Süden der Stadt allerdings begonnen wurde. Eine Einigung über eine Teilung der Stadt unter Beibehaltung ihrer physischen Integrität könnte die territorialen Konflikte überwinden und die Grundlage für eine friedliche Koexistenz in Jerusalem schaffen helfen.

Literatur

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