Publikationen / vorgänge / vorgänge 165

Die Stadt im Kopf

Beobachtungen zur neuen Hauptstadtdebatte

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S.56-60

Seit ungefähr einem Jahr tritt eine sonst eher im Stillen formulierte und diskutierte Frage in das Rampenlicht der Berlin-Debatte: Was macht eigentlich die Hauptstadt aus? Der Tagesspiegel widmete der Frage „was (ist) eigentlich so einmalig an Berlin, dass man uns darum beneiden würde, hier zu leben?” im Sommer 2003 eigens eine achtteilige Serie im Lokalteil. Im Kern der Debatte geht es um das neue Selbstverständnis, die veränderte Identität der Bundesrepublik Deutschland. Was soll einer Hauptstadt konkret (in Form von Transferleistungen) zugestanden werden? Und was zeichnet eine Hauptstadt symbolisch aus? Prominente Berliner antworteten im Tagesspiegel auf die Frage nach der Besonderheit eher verlegen; sie betonten jedoch die Potenziale und das Förderungswürdige der Stadt sowie deren vorgeblich besonderen Bürger. In ihren Beiträgen fanden sich immer wieder die gleichen gedanklichen Stadtlandschaften:[1]

– Eine moderne Dienstleistungs- und Wissensstruktur (Dieter Grimm, Rolf Kreibich, Volker Hassemer, Sibyll Klotz und Volker Ratzmann), solle sich (weiter) – auch im Sinne einer „Menschenwerkstatt” (Volker Hassemer) etablieren.

– In den meisten Beiträgen wurde auf die geographische Lage zwischen Ost und West rekurriert, meist wurde eine stärkere Internationalisierung (Egon Bahr, Volker Hassemer, Rolf Kreibich, Sibyll Klotz und Volker Ratzmann) gefordert.

Der Generationenkonflikt wurde euphemistisch als Chance der Alten, den Jungen „fachliche und soziale Kompetenzen” weiterzugeben, gewertet und zum Plädoyer, die Alten nicht an den gesellschaftlichen Rand zu drücken (Kreibich). Eine solche inhaltliche Auflösung findet sich gelegentlich, meist soll schlicht der Jugend eine stärkere Rolle zukommen (Hassemer).

– Durchgehend wird der zentralen historischen Rolle der Stadt besondere Bedeutung beigemessen (Kreibich, Hassemer, Klotz und Ratzmann). Die Einzigartigkeit der Stadt wurde aus der Doppelfunktion Berlins als Ost- und Westmetropole und damit einhergehender Symbolfunktion erklärt (Grimm, Hassemer). Bahr sieht Berlin als geopolitischen Schwerpunkt und fordert eine „systematische Anwendung geopolitischer Gegebenheiten”. Eine Hauptstadtkommission solle daher gebildet werden (Klotz und Ratzmann, Thierse), ein ,Forum Berlin‘ (Bahr). Grimm schlägt vor, Berlin als Ort der Begegnung von Eliten und Identifikationspunkt für die bundesrepublkanische Bevölkerung zu entwickeln – damit fordert er auch “ Bundeskompetenz „ein.

Wie kommt es zu diesen Reflexionen über das Berlin der Gegenwart? Warum tauchen sie jetzt auf bzw. werden erst jetzt und mit Vehemenz öffentlich?

Ende des Boomtow­n-Traums: Bedürfnis nach „sicheren” Raumbil­dern?

Manches deutet darauf hin, dass der Zeitpunkt der Diskussion alles andere als zufällig ist: Denn gegenwärtig scheint es um die kollektive Bewältigung des Boomtown-Traums der 1990er Jahre zu gehen. Nach dem offenkundigen Scheitern dieser Zukunftsvision für die Stadt, die in den euphorischen Anfängen der „Berliner Republik” entstanden war, setzt nunmehr eine Phase der Reflexion ein. Auf der politisch-administrativen Ebene ist Berlin Hauptstadt geworden – jedoch besteht von Seiten der föderal ausgerichteten Restrepublik Skepsis, was die Versorgungswünsche Berlins anbetrifft. Es kommt zunehmend zu einer Auseinanderentwicklung zwischen dem (Selbst)Bild der Region Berlin-Brandenburg und deren realer Entwicklung.[2]

Dieses Auseinanderdriften wird nun mental zu verhindern versucht: durch die Suche nach einem neuen Image für die Stadt Berlin. Das alte Bild der Boomtown hat – angesichts realer katastrophaler Arbeitsmarktzahlen und immenser Verschuldung – keinen Bestand mehr: es beginnt die kollektive Suche nach einem neuen „Raumbild”. Es geht also um die Entwicklung einer mental map, einer kognitiven Karte der Hauptstadt, von der auf nationaler Ebene alle profitieren. Die Stadt muss sich jetzt durch einen neuen „Bedeutungsüberschuss” – politisch, ökonomisch und/oder kulturell – vor der restlichen Republik legitimieren. Ein solcher Bedeutungsüberschuss kann materieller als auch ideeller Natur sein, zum Beispiel durch identifikationsstiftende Funktionen.

Funktion und Bedeutung solcher kognitiver Stadt-Karten liegen darin, dass sie einen wichtigen, häufig jedoch noch nicht genügend reflektierten Beitrag zur realen Stadtentwicklung leisten. Auf die Stadt Berlin übertragen: Die Hauptstadt formt sich allmählich auch entlang der vorhandenen Vorstellungen über sie. Die Herstellung und Perpetuierung räumlicher Stereotype wird dann bestimmend für die tatsächliche politisch-ökonomische Entwicklung der Stadt (vgl. Belina 2001). Fast scheint es, als würden gerade bei zunehmender Unsicherheit präzise imaginäre Raumkonstruktionen wichtiger, als ob sie Sicherheit in einer sich verändernden Gesellschaft suggerierten.

Wichtig für die Werkmächtigkeit von Stadt-Bildern ist auch ihre Verankerung in historischen und aktuellen Ressourcen der Stadt: Raumbilder sind in der Regel nicht aus der Luft gegriffen, sondern greifen auf die historischen Bedeutungen wie auch auf aktuelle Ressourcen und Potenziale der Stadtregion zurück. Wirtschaftlich, politisch und kulturell wurde in Geschichte und Gegenwart der Stadt gewissermaßen der ,Fundus` gelegt, aus dem sich aktuelle Raum- und Leitbilder speisen. Hierbei sind gerade geopolitische Erwägungen einflussreich und prägen, meist unausgesprochen, die Vorstellungen vom Stadttraum. Solche historisch mächtigen Konstruktionen sind in Berlin zum Beispiel:

— Berlin als geopolitisches Zentrum der Nazi-Herrschaft und die Vorstellungen von Germania als Zukunftsvision der Hauptstadt. Hier finden sich zwei Bilder nebeneinander: Extreme Architektur, extreme politische Positionen und Gewaltherrschaft, kriegerische Auseinandersetzung und Zerstörung. Diese geopolitische Vergangenheit ist bis heute stark tabuisiert, wird jedoch seit kurzem innerdisziplinär differenziert und innovativ aufgearbeitet.[3] Andererseits besteht bis heute das Bild der goldenen 1920er Jahre mit den rauschenden Parties und den, andererseits, verarmten, aber berlinschnauzigen und warmherzigen Arbeitern in der Weimarer Republik (das „Zille-Milljöh“).

— Berlin als Frontstadt des kalten Krieges. Beide Hälften Berlins erfüllten innerhalb des jeweiligen politischen Systems der Nachkriegszeit eine Schaufensterfunktion: West-Berlin blieb, trotz seiner geographischen Lage, Teil der Westallianz und behauptete sich schließlich. Neue gesellschaftliche Bewegungen Ende der 1960er Jahre nahmen ihren Ausgang in Charlottenburg und Kreuzberg. Ost-Berlin wurde ebenfalls mit einer ,Schaufensterfunktion` ausgestattet und außenfinanziert: die östliche Hälfte der Stadt blieb all die Jahre intellektuelles Zentrum der DDR.

Die Produktion von Berlin-­Bil­dern

Von Seiten der Wissenschaft werden heute verschiedene räumliche Bilder über Berlin angeboten und vermittelt. Insbesondere fünf Bilder scheinen in der Stadtforschung zu dominieren: a) der „echten”, weil polarisierten Hauptstadt, des b) politisch-administriellen Berlins, des c) multikulturellen, internationalen Berlins, des d) intellektuellen sowie touristischen Durchlauferhitzers, und schließlich e) der schrumpfenden Stadt. Diese fünf Konstruktionen sollen im Folgenden holzschnittartig vorgestellt werden:

a) Berlin wird als „echte” Großstadt präsentiert, weil sie sich durch eine zunehmen-de Polarisierung zwischen armen und reichen Stadtteilen charakterisiert. Eine Global City kann offenbar gar nicht mehr anders gedacht werden als eine zugleich quatered City (Peter Marcuse). In Berlin bildet sich dieser Polarisierungsdiskurs — oder modisch: die sozialräumliche Spreizung — zum Beispiel in den Beschreibungen, Debatten und Bildern Nord-Neuköllns (und spiegelbildlich: im Diskurs über die prosperierende „Neue und hippe Mitte”) ab. Der Stadtteil Neukölln arrivierte in den vergangenen Jahren zum bundesweit bekannten Beispiel für sozialräumliche Verarmungsprozesse. Die Stereotypisierung dieses einen Raumes erlaubt die gedankliche Bündelung von Perforationsprozessen, die in allen Schichten und in allen Stadtteilen beheimatet sind. Das „Abrutschen” des Stadtteils Neukölln und die daraus entstehenden sozialen Probleme werden jedoch nicht als Gemeinschaftsaufgabe gesehen, sondern auf die Individuen verlagert und als Teil einer neuen Hauptstadt-Realität aufgefasst: Durch den Statuswechsel zur Hauptstadt und Metropole können solche sozialen Opfer scheinbar nicht ausbleiben: alle Beteiligten empfinden so etwas wie ein räumliches Schicksal.[4]

b) Berlin als politisch-administrielle Hauptstadt: Das in den vergangenen Jahren geschaffene räumliche Bild ist das des Regierungsviertels und das der (wieder) nach Berlin kommenden ausländischen Botschaften. Dieser Entwicklung wird von wissenschaftlicher Seite große Beachtung geschenkt. Welche Rolle spielt die „Berliner Republik” in der geistigen Landkarte des vereinigten Deutschlands? Eine erste Aufarbeitung der geopolitischen Rolle Berlins während der Naziherrschaft erfolgt erst seit wenigen Jahren; die Frage nach der Gewichtung von „Zentralität” in einem föderalen Staat nimmt zu-nehmend Raum in der Debatte ein. Von politischer Seite werden dagegen inzwischen administrative Hauptstadtmodelle ä la Washington, D.C. angedacht

c) Das multikulturelle, das internationale Berlin: Verschiedene Wissenschaftler weisen auf die besondere, weil stark ausgeprägte multikulturelle Dimension der Stadt hin. Betont wird in dieser Argumentationslinie, dass die allermeisten Metropolen durch Internationalität und Zuwanderung geprägt seien, dies also elementar für die moderne Stadtentwicklung sei. Das räumliche Stereotyp hierzu ist Kreuzberg, Inkubator und Ausgangspunkt neuer sozialer Bewegungen und happenings (z.B, des Kamevals der Kulturen). Auch das im Entstehen begriffene und viel beachtete jüdische Leben in Berlin kann als Teil dieser Multikulturalität aufgefasst werden. Die stärkere Präsenz von ethnischen Ökonomien bzw, die stärkere sichtbare Beteiligung von Migrantinnen und Migranten am Wirtschaftsleben werden auf Internationalisierungsprozesse zurück geführt.

d) Berlin präsentiert sich als intellektueller Durchlauferhitzer auf verschiedenen gesellschaftlichen Niveaus. Die Stadt bestimmt das geistige Leben der Republik (mit): Erinnert sei an die Love-Parade, die mittels der Party als Massenphänomen identitätsstiftend für viele junge Menschen wirkt. Dabei handelt es sich, wenn man so will, um eine in den Tiergarten verlagerte demokratisierte Massenversion des Glamours, der in der Mitte der Stadt beheimatet ist. Weiterhin sprechen die zahlreichen Parades, die von vielen Touristen besucht werden, eine eindeutige Sprache: diese Stadt ist der Ort, an dem große Veranstaltungen zu ursprünglich „queeren” Themen stattfinden können (Love Parade für Techno-Fans; Karneval der Kulturen für die Migrantinnen und Migranten; Christopher Street Day für die Homosexuellen). Auf gehobenem intellektuellen Niveau findet sich eine neue Schicht von jungen Facharbeitern und Selbständigen, die, hauptsächlich im Bezirk Mitte, ihrem beruflichen Traum in Medien- und Modewelten nachjagen. Für die steigenden Zahlen an Studierenden stellen die drei Universitäten und die zwei Fachhochschulen einen intellektuellen Durchlauferhitzer dar: ein stabiles Arbeitsverhältnis finden sie in der Stadt nach dem Studium eher selten. Doch ein Studium in der Hauptstadt bringt eine besondere intellektuelle und emotionale Bindung an diese Stadt mit sich, die mutmaßlich ganze Generationen an Ausbildungsjahrgängen prägen wird. Berlin verkörpert so in der Tat schon das Bild eines Katalysators für Kulturen und Eliten

— im Grunde handelt es sich um eine Fortführung der vormaligen alimentierten Schaufenster- und Vorbildfunktion. Das räumliche Stereotyp ist das der Massen im Tiergarten und der Touristen auf dem Pariser Platz.

e) Berlin — die schrumpfende Stadt. Dieses Bild, meist symbolisiert durch das Bild der verlassenen „Platte”, beginnt sich langsam in den Köpfen zu verankern. Dieses Bild wird auf weite Teile Ostberlins transplantiert. Die Versuche, Leerstände durch Umbau—und Abrissmaßnahmen effektiv zu bekämpfen und das Scheitern dieser Politiken ist das Ergebnis einer Orientierung an einer vordergründigen, wenig differenzierten Wahrnehmung der Stadtproblematik. Die Stigmatisierung der „Platte“[5] im Osten und des Märkischen Viertels im Westen ist ein räumliches Bild, das viele Wissenschaftler transportieren, auch wenn damit eine starke Verallgemeinerung der Stadtteilentwicklung einher geht.

Erstaunlich ist, wie sich alte Bilder (das große Berlin vs. das provinzielle Bonn) halten und wie sehr darin das Selbstverständnis der Nachkriegszeit verblasst ist: welche Hauptstadt, welches Selbstverständnis, welche Identität soll sich das föderale, wieder-vereinigte Deutschland geben? Die hier nur kurz umrissenen Raumbilder gestalten die Hauptstadtdebatte sowie die Stadtentwicklungspolitik gegenwärtig wesentlich mit; sie strukturieren auf diese Weise auch die Zukunft der Stadt.

[1] Ich beziehe mich hier auf die 8-teilige Serie „Berlin – die geduldete Hauptstadt?”, die seit Juli 2003 im Tagesspiegel abgedruckt wurde.
[2] Als Indikatoren für die reale Entwicklung seien an dieser Stelle die Arbeitslosenzahlen genannt, die sich spiegelbildlich zum Rückgang der Anteile der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten seit Anfang der 1990er Jahre erhöht haben. Aktuell liegt die durchschnittliche Arbeitslosenquote in Berlin bei 18,3% und zeigt – verglichen mit den Daten aus dem Jahre 2000 – eine drastische Zunahme um mehr als fünf Prozent (2000: 12,7%).
[3] Vgl. hierzu die Arbeiten von Klaus Kost (zur Großstadtfeindlichkeit) und den geographischen Arbeitskreisen „Geschichte der Geographie” und „Politische Geographie”.
[4] Kreuzberg, das ähnliche soziale Probleme hat, ist mit einer solchen Stigmatisierung sehr viel weniger konfrontiert. In Neukölln aber arbeitet keine Lobby mehr gegen dieses räumliche Bild an, man ist schon Opfer, während man in Kreuzberg noch gestaltet (zum Mythos Kreuzberg siehe auch: Lang 1998)
[5] Marzahn ist ein gutes Beispiel für die Wirkungsmächtigkeit von Raumbildern: während der Stadt-teil im öffentlichen Diskurs immer wieder als Paradebeispiel für die Verwahrlosung von Wohngebieten angeführt wird, liegt de facto die Arbeitslosenquote in einigen Verkehrzellen bei 2,1 Prozent.

Literatur
Belina, Bernd 2001: Umkämpfte Ideologien: Krimineller vs. öffentlicher Raum; in: Politische Geographie, hg. v. Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer, Heidelberg
Best, Ulrich/Gebhardt, Dirk 2001: Stigma-Stadtpläne Berlins; in: Politische Geographie, hg. v. Paul Reuber/Günter Wolkersdorfer, Heidelberg
Borst, Renate/Krätke, Stefan 2000: Berlin: Metropole zwischen Boom und Krise, Opladen Bürkner, Hans Joachim 2003: Schlagwort Schrumpfung…; in: IRS-Aktuell, Juli
Lesemann, Frank 2001: Migration und Integration in Berlin, Opladen
Häu/3ermann, H. et al 1992: Stadt und Raum. Soziologische Analysen, Opladen
Häuf3ermann, H./A. Kapphan 2001: Die geteilte Stadt, Opladen
Kost, Klaus 2000: Großstadtfeindlichkeit im Rahmen deutscher Geopolitik; in: Diekmann. Irene et al,. Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist 1890 bis zur Gegenwart, Potsdam
Lang, Barbara 1998: Mythos Kreuzberg. Ethnografie eines Stadtteils (1961-1995), Frankfurt/Main Marcuse, Peter 1989: ,Dual City‘: a muddy metaphor for a quartered city; in: International Journal of urban and regional research 13, H. 4, S. 697-708
Schmals, Klaus M. (Hg.) 2000: Migration und Stadt, Opladen
Schulz, Marion 2000: Das neue Zentrum von Berlin; in: Geographische Rundschau 52, H.8-8, S. 27-32

nach oben