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Stadtwerke für heute und morgen

vorgängevorgänge 16503/2004Seite 107-111

Ein aktueller Literaturbericht

aus: Vorgänge Nr. 165 ( Heft 1/2004), S. 107-111

Seit 7.000 Jahren gibt es Städte. Kaum eine menschliche Organisationsform hat sich historisch als derart dauerhaft erwiesen; nur die Familie vermag da (noch) zu konkurrieren. Wer wissen möchte, wie nunmehr die Stadt der Gegenwart beschaffen ist, der greife zu einem soeben erschienenen ausgezeichneten Sammelband:

Walter Siebe! (Hg.): Die europäische Stadt, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2004, 479 S., ISBN 3-518-12323-8; 14, – Euro

Konzipiert als Gabe zum 60. Geburtstag des Berliner Stadtsoziologen Hartmut Häußermann, bietet der Band ein breit angelegtes Panorama der deutschen und internationalen Forschung zur europäischen Stadt, das gegenwärtig konkurrenzlos ist. Man vermag unschwer zu erahnen, was für eine konzeptionelle Leistung hinter diesen achtunggebietenden 500 Seiten steckt. Das Themenfeld umfasst, nach einer profunden Einleitung durch den Herausgeber, zahllose Aspekte; Armut, Schrumpfende Städte, kommunale Selbstverwaltung, Immigration und Integration seien genannt. Rolf Lindner geht der Frage nach, weshalb Georg Simmels klassische Betrachtung Die Großstädte und das Geistes-leben auch nach hundert Jahren ihre intellektuelle Ausstrahlung nicht verloren hat. Claus Offe verfolgt in einer Draufsicht den Umgang mit Armut in Städten über die Jahr-hunderte hinweg. Aber auch Texte über die Rolle des Internets in städtischen Arbeitsstrukturen, über den Wandel in St. Petersburg, Konflikte um Moscheebau und Hochhäuser sowie Texte über Urbanitätstheoriennder das Auftauchen der globalen Stadt finden sich hier.

Seit dreißig Jahren begleitet die Zeitschrift Die alte Stadt den Wandel im komunalen Bereich, auch nach dem jüngst erfolgten Verlagswechsel:

Die alte Stadt. Viertel Jahreszeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie, Denkmal-pflege und Stadtentwicklung. Hg. von der Arbeitsgemeinschaft Die Alte Stadt, Franz Steinerz Wiesbaden 1973ff., vier Ausgaben jährlich mit je 88 S., ISSN 0170-9364; 19,—Euro pro

Den Schwerpunkt bildeten früher Themen, die vor allem Städte mit historischer Bausubstanz betrafen. Mittlerweile haben sich jedoch inhaltliche Weiterungen ergeben. So widmete sich Heft 1/2003 dem Verhältnis von Stadt und Universitäten. Stadt mit Sicherheit hieß der hochinteressante Themenschwerpunkt von Heft 3/2003: Katja Veil und Uwe-Jens Walther untersuchten dort neue Überwachungsmaßnahmen in den Innenstädten Großbritanniens, Ingrid Breckner und Klaus Sessar gingen in einem Gespräch dem Phänomen wachsender Kriminalitätsfurcht nach; in ihrem Beitrag beschäftigt sich Breckner mit den Wahrnehmungen von Unsicherheit in den Städten der Gegenwart.
Kann die Stadt in einer Welt zunehmender Konkurrenz und ökonomischer Dominanz noch den sozialen Ausgleich organisieren? Dieser Frage widmet sich der Sammelband

Uwe-Jens Walther (Hg.): Soziale Stadt — Zwischenbilanzen. Ein Programm auf dem Weg zur Sozialen Stadt?, Leske + Budrich: Opladen 2002, 275 S., ISBN 3-8100-3592-0; 19,90 Euro

Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf— die soziale Stadt: so heißt ein. gemeinsames Programm von Bund, Ländern und Gemeinden, das seit 1999 gesellschaftlichen Verwerfungen in Städten entgegenarbeiten will. Der Band zieht erste Zwischenbilanzen und markiert städtische Problemfelder. Er informiert sowohl über deutsche als auch europäische Fallbeispiele: Die Ursachen der Armutskonzentration in Berlin werden hier ebenso analysiert wie Ausbildungsperspektiven für Jugendliche im Hamburger Stadtteil Lurup (Altopa) oder die Rolle freier Träger in der Beschäftigungspolitik. Über städtische Armut und Ausgrenzungsmechanismen (Martin Kronauer) oder die Quartiersöffentlichkeit im Berliner Bezirk Neukölln, beschrieben anhand von qualitativen Interviews, kann man hier ebenfalls etwas erfahren. Hervorzuheben sind die durchweg gelungenen Fotografien, die die einzelnen Beiträge begleiten
Werden die Kommunen vor Ort zu bloßen Erfüllungsgehilfen bundesstaatlicher Gesetzgebung degradiert, deren direkte Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sie schmerzhaft zu spüren bekommen? Helfen neue Allianzen dabei, die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen? Kommunale Bündnisse für Arbeit sollten dabei zusammenwirken. Über zwei Jahre hinweg wurde deren Wirken in Wuppertal und Essen untersucht und die Ergebnisse zusammengefasst:

Leo Kißler/Elke Wiechmann (Hgg.): Die Zukunft der Arbeit in den Städten. Kommunale Bündnisse für Arbeit aus Akteurs und Forschungssicht, Nomos: Baden-Baden 2003, 153 S., ISBN 3-8329-0262-7; 29, – Euro

Gewerkschafter, Stadtdirektoren, Personalräte und Wissenschaftler, u.a. vom Wissenschaftszentrum Berlin, ziehen hier in 14 Beiträgen ihre Bilanz. So werden u.a. Umfragen unter den örtlichen Beschäftigten ausgewertet, die zeigen, wie gering der Bekanntheitsgrad ist und wie diffus die Vorstellungen sind, die sich Arbeiter und Angestellte von Bündnissen für Arbeit machen. Die Ergebnisse erscheinen am Ende ebenso simpel wie ambivalent: Es hängt vielfach von den Akteuren vor Ort ab, ob kommunale Bündnisse für Arbeit Erfolg haben.

Auswege aus der Krise bietet neben organisatorisch-administrativen Veränderungen vor allem der mentale Einstellungswandel in den Städten selbst. Dafür darf man sich nicht auf die Bundes- oder Landespolitik fixieren, sondern muss Möglichkeiten in den Kommunen mobilisieren, wofür in dem Band von Heike Liebmann/Tobias Robischon (Hgg.): Städtische Kreativität – Potenzial für den Stadtumbau, Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung/Schaler-Stiftung: Erkner/Darmstadt 2003, 244 S., ISBN 3-932736-10-9; 13,- Euro
in 23 Beiträgen einige überzeugende Beispiele angeführt werden. Westeuropäische Städte wie Bilbao, Karlskrona oder Newcastle werden mit ihren Krisenbewältigungsstrategien porträtiert, die Verwaltungsmodernisierung im niederländischen Tilburg vorgestellt. In vielen Beiträgen steht die Übertragbarkeit auf städtische Regionen in Ostdeutschland im Mittelpunkt. Wichtig ist hierbei die Rolle kreativer Eliten vor Ort, die durch ihr Engagement den daniederliegenden Kommunen Selbstvertrauen einflößen können – eng angebunden an örtliche Forschungseinrichtungen und Universitäten, wie das Beispiel Jena zeigt. Sichtbar wird, dass die Schrumpfung der Städte keine Sackgasse sein muss, sondern es auch unter veränderten Bedingungen chancenreiche Entwicklungsmöglichkeiten gibt.

Ähnliche Botschaften vermitteln die Fallstudien in folgendem ausgezeichneten Sammelband:

Christine HannemannlSigrun KabischlChristine Weiske (Hgg.): Neue Länder – neue Sitten? Transformationsprozesse in Städten und Regionen Ostdeutschlands, Schelzky&Jeep: Berlin 2002, 267 S., ISBN 3-89541-159-0; 16,80 Euro

Die Autorinnen und Autoren konzentrieren sich auf Ostdeutschland: Milieudifferenzierungen in Leipziger Stadtteilen, die Stadtimages von Chemnitz, die Unterschiede in den Reaktionen auf Immobilienrestitution in Berlin, der Leipziger „Mietermarkt”, die verschiedenen Möglichkeiten, auf Wohnungsleerstand zu reagieren, Bürgerbeteiligung vor Ort und viele andere Themen werden in zwölf Beiträgen behandelt. Und auch die viel-diskutierte Frage nach den Ost-West-Unterschieden in der Identitätsfrage bleibt nicht unbeantwortet: Anhand von Chemnitz und Nürnberg zeigt Götz Lechner, wie den „Ichlingen” (West) durch den rasanten Lebensstilwandel im Osten die eigene Fragilität und Brüchigkeit bestimmter Muster und Verhaltensweisen vorgeführt werden kann.

Baukultur hieß das Stichwort einer Veranstaltungsreihe der Brandenburgischen Landeszentrale für Politische Bildung:

Renate Fritz-Haendeler/Bärbel Möller (Hg.): Politikfeld Baukultur. Über Stadtumbaufragen und den Zusammenhang von Lebensqualität und Stadtgestalt, Brandenburgische Landeszentrale für Politische Bildung: Potsdam 2003, 120 S., ISBN 3-932502-34-5; kostenlos
In dem sehr ansprechenden, mit gelungenen Fotografien ausgestatteten Band wird ein „polyphones Kammerkonzert” (so die Herausgeberin Fritz-Haendeler) orchestriert. Ästhetische Fragen dominieren unterschwellig viele Beiträge: die Rückbau- und Schrumpfungsdiskussionen sollen durch diese neue Perspektive ergänzt werden. Der Architekturkritiker Wolfgang Kil fordert gleichwohl eine „Rückbaukultur”, bei der Betroffene des Umbruchs in den Städten einen „Abschied von der Wachstumswelt” schöpferisch machen können – warum nicht auch auf Abrisspartys in Volksfeststimmung, mit Würstchenbuden und Musik? Landschaftsplaner, Architekten und Ingenieure machen sich hier Gedanken: Brücken als ein symbolisches Zeichen von Baukultur kann der Leser mit neuen Augen sehen, ein Fallbeispiel berichtet von erfolgreicher Kooperation in der „Schrumpfungsplanung” zwischen Gemeinden in Vorpommern.

Seit 2001 werden in der Essener Kokerei Zollverein/Zeitgenössische Kunst und Kritik die potenziellen und realen Wechselwirkungen zwischen Bildender Kunst und Gesellschaftspolitik untersucht. Das Jahresprojekt 2003 Die offene Stadt: Anwendungsmodelle umriss das Feld aktueller künstlerischer und diskursiver Einmischung und den damit verbundenen Wandel der Kunst im öffentlichen Raum, die seit den 1990er Jahren verstärkt und direkt in den Strukturen und Medien des sozialen Feldes agiert. Der deutsch-englische Reader
Marius Babias/Florian Waldvogel (Hg.): Die offene Stadt/The open City, Kokerei Zollverein/Zeitgenössische Kunst und Kritik/Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur: Köln 2003, 224 S., ISBN 3-935783-10-8; 15,- Euro

dokumentiert und reflektiert Anwendungsmodelle von Bildender Kunst, Netzkultur, Politik und Medien in einer neuen Kunstpraxis, die sich mit Öffentlichkeit und ihren Entstehungs- und Wirkungsweisen auseinandersetzt: Martin Conrads sinnt u.a. darüber nach, wie man den Netzaktivismus auf die Straße tragen kann, und Florian Waldvogel verfolgt eine „visuelle Grammatik des Widerstands”, die Aneignung, Entwendung, Parodie und Verfremdung von Medienereignissen und -kampagnen im Stadtraum betreibt.

„Stadt Masse Frau Hure”: In einer brillanten Dissertation, die zudem mit Genuss zu lesen ist, geht Susanne Frank den Imagenationen von Weiblichkeit nach, die im Laufe der letzten Jahrhunderte mit dem Begriff „Stadt” verknüpft wurden – und die auf vielfältige Weise planerische Realität wurden

Susanne Frank: Stadtplanung im Geschlechterkampf. Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Leske + Budrich: Opladen 2003, 379 S., ISBN 3-8100-3853-9; 35,- Euro

Erfolgreich verknüpft sie soziologische, kulturwissenschaftliche und literaturtheoretische Modelle zu einem neuartigen Blick auf die Geschichte der Stadt. Zwar wird dem Leser ein wenig schwindelig, wenn die Autorin in allen möglichen weiblichkeitsfixierten Äußerungen von Architekten und Planern die „Krise der urbanen Männlichkeit” zu erkennen glaubt: Denn auch bei Männern anderer Berufsgruppen – ob nun im Labor, in der Waffenschmiede oder im Autobau – lässt sich in deren weiblichen Zuschreibungen für ihre Gegenstände jener „wild wuchernde Phantasiendschungel” erkennen – was vielleicht auf eine generelle Krise der Männlichkeit seit Jahrtausenden verweisen mag. In jedem Falle ist es bestechend, wie Frank französische, britische, deutsche und nordamerikanische Großstädte in den übergreifenden Geschlechterzusammenhang bringt, den sie mit einer Fülle an Literaturbeispielen anschaulich zu belegen vermag: Kanalisationsbau und Prostitutionsbekämpfung im 19. Jahrhundert sind hier zwei Seiten der Geschlechtermedaille. Baron Haussetann, Le Corbusier und Lewis Mumford mit ihren planerischen Visionen sind ebenfalls vor der Analysecouch der Autorin nicht sicher – alles in allem eine bahnbrechende Studie für die Stadtsoziologie.

Phantasien und ihre Gestaltwerdung beherrschen auch die beiden abschließenden Bände, in denen den abseitigen Räumen der modernen Städte nachgespürt wird:

Jochen Becker/Stephan Lanz (Hgg.): Space//Troubles. Jenseits des Guten Regierens: Schattenglobalisierung, Gewaltkonflikte und städtisches Leben, b_books: Berlin 2003, 231 S., ISBN 3-933557-51-8; 12,- Euro

Jochen Becker u.a. (Hgg.): Learning from*. Städte von Welt, Phantasmen der Zivilgesellschaft, informelle Organisation, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst: Berlin 2003, 245 S., ISBN 3-926796-86-3; 14,- Euro

Die Städte der Welt, die hier ihren schaurig inszenierten Auftritt in Texten internationaler Autoren, aber auch in der umfassenden, äußerst gelungenen Bebilderung und Gestaltung haben, sind alles andere als blühende Landschaften: z.B. Kampala, Lagos, Medellin, Sarajevo. „Kreativität” ist hier untrennbar mit Gewalt gekoppelt: „Urbane Ordnungen jenseits des Guten Regierens” heißt es treffend in der Unterzeile eines Beitrags. Der Krieg fällt in die Städte ein, Warlords beherrschen weite Teile von Dritte-Weltmegacities, angesichts des Chaos hilflose Hilfsorganisationen – solche Berichte und Bilder wecken Zweifel an der Zukunft des europäischen Stadtmodells in einer globalisierten Welt. „Dirty realism” verschränkt in beiden Bänden die Perspektiven des immer noch reichen Nordens mit den städtischen Zonen ohne Hoffnung im Süden. Paradoxer-weise sind es die Energien, die im Überlebenskampf des Einzelnen freigesetzt werden, die vielleicht ein Hoffnungszeichen sein können. Es wäre gut, wenn der europäische Blick – schon aus Eigeninteresse – wieder mehr auf diese scheinbar randständigen Prozesse in gar nicht sehr fernen Gegenden gerichtet würde.

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