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Der Haushalt als Raum der Zivil­ge­sell­schaft

Zur politischen Ökonomik der Wohngemeinschaft

aus: Vorgänge Nr. 170 ( Heft 2/2005 ), S.80-86

Der Haushalt ist ein Ort, an dem wirtschaftend alltäglichen Bedürfnissen nachgegangen wird. Zugleich bietet der Haushalt den Raum für einen sozialen Zusammenschluss. Im Folgenden soll nun der Haushalt – in seiner wirtschaftenden und seiner sozialen Funktion – als ein politisch relevanter Ort betrachtet werden: am Beispiel der Wohngemeinschaft als zivilgesellschaftlichem Zusammenschluss.

Der Begriff der Zivilgesellschaft ist zwar in aller Munde; was er umfasst und wo seine Grenzen liegen, ist jedoch nicht immer klar. Gewöhnlich wird die Zivilgesellschaft dem Markt und dem Staat als dritte Einheit gegenübergestellt. Eine politiktheoretische Auseinandersetzung mit dem Haushalt passt jedoch nicht in dieses gängige begriffliche Schema, gerade weil der Haushalt ökonomische und soziale Aspekte miteinander vereint. In der einschlägigen Zivilgesellschaftsliteratur wird daher der Haushalt im Hinblick auf seine politischen Implikationen bisher nicht beachtet.

Um den Haushalt in seiner Bedeutung für die Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert zu verstehen, lohnt ein Blick in die Politik des Aristoteles und in Hegels Rechtsphilosophie. Denn Aristoteles verbindet in seinem Begriff des Haushalts das Wirtschaften und die Gemeinschaft miteinander. Auch Hegel hat im Unterschied zur gegenwärtigen Zivilgesellschaftsdiskussion beides im Blick: den wirtschaftenden Aspekt der bürgerlichen Gesellschaft und die soziale Gemeinschaft, die er als Familie fasst.

Der Haushalt als Teil der politischen Gemein­schaft bei Aristoteles

Die doppelte Bedeutung des Haushalts – als wirtschaftender und sozialer Zusammenschluss – wird von Aristoteles in seinem Begriff des oikos gefasst. Aristoteles versteht den Haushalt darüber hinaus auch noch als Teil der politischen Gemeinschaft. Der griechische Philosoph begann seine Politik vor über 2000 Jahren damit, die koinonia politike zu bestimmen, ein Begriff, der sich als ,politische Gemeinschaft‘ übersetzen lässt. Für Aristoteles ist die koinonia politike von allen Gemeinschaften die Wichtigste, sie ist gleichbedeutend mit der polis (Aristoteles Politik: 1152 a 1-7). Aristoteles möchte er-kennen, worin die polis besteht und erwägt dabei ein analytisches und ein genetisches Vorgehen. Der Staat bildet ein Ganzes, das sich analytisch als aus kleinsten Teilen zusammengesetzt verstehen lässt. Die kleinste Einheit ist für Aristoteles nicht das Individuum, sondern der oikos, also der Haushalt (ebd.: 1152 a 18-23). Genetisch fragt Aristoteles, wo Menschen, die ohne einander nicht bestehen können, sich zusammenschließen und bietet uns die Hausgemeinschaft an. Im Haushalt verbünden sie sich, weil sie hinsichtlich der alltäglichen Grundversorgung und der Fortpflanzung aufeinander an-gewiesen sind (ebd.: 1152 a 27-30). Mehrere Haushalte bilden zusammen eine Dorfgemeinschaft, in der jene Bedürfnisse ihren Platz haben, die über den Tag hinausreichen. Die koinonia politike setzt sich wiederum aus einer Reihe von Dorfgemeinschaften zusammen: „Endlich ist die aus mehreren Dörfern bestehende vollkommene Gemeinschaft der Staat.” (ebd.: 1252 b 27)

Einerseits beschreibt Aristoteles die Mitglieder der Hausgemeinschaft als voneinander abhängig im Hinblick darauf, alltägliche Grundbedürfnisse zu erfüllen und sich fortzupflanzen. Andererseits bestimmt er die Hausgemeinschaft dadurch, dass Menschen aufgrund der Sprache in der Lage sind, das Gute und Schlechte, das Gerechte und Ungerechte voneinander zu unterscheiden (ebd.: 1253 a 7-18).

Aristoteles zufolge werden die Erfordernisse des Haushalts (oikos) durch eine Assoziation bewerkstelligt, die Mann, Frau, Kinder und Sklaven umfasst (ebd.: 1253 b 1-12). Im oikos herrscht der oikosdespotes, also der Hausherr. Er wird als vernünftig und planend-vorausschauend, aber körperlich leistungsschwach charakterisiert und herrscht über die vernünftige, aber planlose Frau, die noch nicht vernünftigen Töchter und Söhne sowie über die unvernünftigen, aber körperlich leistungsstarken Sklaven (ebd.: 1252 a 30-34).

Die Aristotelische Hausgemeinschaft ist grundlegend asymmetrisch strukturiert und diese Asymmetrie wird mit Hilfe unhaltbarer Zuschreibungen – nämlich der nur graduellen Zuschreibung der Vernunft an Frauen und Sklaven – legitimiert. Darüber hinaus ist die Zugehörigkeit zum Haushalt für die Mehrheit der Beteiligten keineswegs das Ergebnis einer freien Wahl. Dennoch ist es lohnenswert, den Aristotelischen oikos als einen theoretischen Ausgangspunkt zur Bestimmung der Zivilgesellschaft zu wählen. Die Aristotelische Konzeption des oikos kann gerade deshalb für die Gegenwart bedeutsam sein, weil sie die tief in die Struktur des Haushalts eingelassenen Herrschaftsverhältnisse offenlegt.

Hegels Konzept der bürger­li­chen Gesell­schaft

Das Gros der amerikanischen Veröffentlichungen über die Zivilgesellschaft knüpft aber nicht an Aristoteles an, sondern beruht – zumeist implizit – auf Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft (Rosenblum 1998: 26). Im deutschsprachigen Raum ist vor allem der Artikel zur „bürgerlichen Gesellschaft”, den Manfred Riedel Mitte der 1970er Jahre veröffentlicht hat, überaus einflussreich gewesen (Riedel 1974).

Zumeist wird dabei auf den dritten Teil der Grundlinien der Philosophie des Rechts rekurriert, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel 1821 veröffentlichte. In diesem dritten Teil der Rechtsphilosophie platziert Hegel die bürgerliche Gesellschaft zwischen Familie und Staat. Meist wird jedoch nicht erwähnt, dass Hegel im Zusatz zu einem der ersten Paragraphen des Abschnitts „bürgerliche Gesellschaft” davon spricht, dass es „gewisse allgemeine Bedürfnisse, wie Essen, Trinken, Kleidung” gebe und dass diese befriedigt werden müssen (Hegel 1986 [1821]: § 189 Zusatz 347). „Das Bedürfnis der Wohnung und Kleidung, die Notwendigkeit, die Nahrung nicht mehr roh zu lassen, sondern sie sich adäquat. zu machen”, bilden für Hegel einen Ausgangspunkt, das „System der Bedürfnisse” als Teil der bürgerlichen Gesellschaft zu entwickeln (ebd.: § 190 Zusatz 348).

Während im Aristotelischen Begriff des oikos der soziale und der wirtschaftliche Aspekt des Haushaltes verbunden sind, trennt Hegel die „Befriedigung der Bedürfnisse” von der „sittlichen Verbindung”. Hegels Vorschlag, die Befriedigung der Bedürfnisse nach Nahrung und Kleidung als „System der Bedürfnisse” innerhalb der „bürgerlichen Gesellschaft” zu verorten, scheint gegenüber dem Aristotelischen Konzept anknüpfungsfähiger, Gleichwohl ist Hegels Bestimmung der „sittlichen Verbindung” kritikwürdig. Indem Hegel nämlich den sozialen Aspekt des Haushaltes nicht funktional bestimmt, wie Aristoteles es tut, sondern ihn „sittlich” fasst, verwendet Hegel einen im Vergleich zu Aristoteles verengten Begriff.

Die vom Bedarf her gedachte elementare Gemeinschaft, die im Aristotelischen Begriff des oikos den sozialen Aspekt des Haushaltes bestimmt, ist bei Hegel in mancherlei Weise eingeschränkt: Hegel reduziert verschiedene denkbare Formen der „sittlichen Verbindung” ausschließlich auf Ehe und Familie. Damit jemand nicht nur einfach „eine Person für sich”, sondern auch Mitglied einer familiaren Gemeinschaft sein kann, bedarf es für Hegel überdies der Liebe (ebd.: § 158: Zusatz 307). Zugleich versteht er die Familie nicht als Teil der bürgerlichen Gesellschaft, gerade weil er meint, die Mitgliedschaft in dieser Gemeinschaft sei liebes basiert. Die Liebe wiederum wird dem Staat entgegengesetzt: „Die Liebe ist aber Empfindung, das heißt die Sittlichkeit in Form des Natürlichen; im Staate ist sie nicht mehr: da ist man sich in der Einheit als des Gesetzes bewusst, da muss der Inhalt vernünftig sein, und ich muss ihn wissen.” (ebd.: § 158: Zusatz 308f.). Dass die soziale Seite des Haushaltes aus der ,bürgerlichen Gesellschaft‘ begrifflich ausgesiedelt und zugleich die als natürlich empfundene „sittliche” Liebe dem vernünftigen gesetzlichen Staat entgegengesetzt wird, verhindert eine theoretische Bezugnahme auf den Haushalt als politisch relevanten Ort.

Liebe oder Ökonomik? Familie und Haushalt in der Zivil­ge­sell­schafts­dis­kus­sion

Während Hegel die wirtschaftende Seite des Haushaltes in der bürgerlichen Gesellschaft verortet und die soziale Seite des Haushaltes — stark verengt zwar, doch immer-hin — mit seinem Begriff der Familie fasst, fallen durch die unreflektierte Rezeption Hegels in der derzeitigen Zivilgesellschaftsdiskussion beide Aspekte des Haushaltes buchstäblich unter den Tisch.

Zeitgenössische Theorien der Zivilgesellschaft greifen Hegels Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat auf. Zwar wird Hegels begriffliche Trias von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat erwähnt, aber sie wird nicht konzeptionell berücksichtigt (u.a. Adloff 2005: 8). Die Tatsache, dass aus Hegels Dreiklang eine Begriffsopposition wurde, indem die Familie sang- und klanglos wegfiel, wird dadurch verdeckt, dass die erst lange nach Hegel eingeführte Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Markt in eine neue Trias mündete: Die Dreiheit von Staat, Markt und Zivilgesellschaft ist seither die — zumindest im deutschsprachigen Raum und in den Vereinigten Staaten — beliebteste konzeptionelle Konfiguration. Beispielsweise beschreibt Jürgen Habermas die Zivilgesellschaft als ein Gemenge nicht-staatlicher und nicht-ökonomischer, auf freiwilliger Basis entstandener Zusammenschlüsse und Assoziationen (Habermas 1992: 443). In ihrer theoretischen Studie über die Zivilgesellschaft entwickeln Jean Cohen und Andrew Arato diesen Ansatz weiter (Cohen/Arato 1992).‘ Aber auch die Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Markt schenkt der wirtschaftenden Seite des Haushaltes keine Beachtung. Insofern ist es zweifelhaft, ob die begriffliche Trennung und Gegenüberstellung von Markt und Zivilgesellschaft wirklich einen Gewinn darstellt. Denn damit geht Hegels Einsicht verloren, dass beides, das politische Handeln und die wirtschaftende Befriedigung grundlegender Bedürfnisse, im Begriff der bürgerlichen Gesellschaft miteinander verbunden sein können (Reese-Schäfer 2000: 77).

Die Tatsache, dass weder Haushalt noch Familie in der konzeptionellen Konfiguration von Staat, Markt und Zivilgesellschaft einen Platz haben, bedeutet allerdings nicht, dass die Familie für gänzlich unwesentlich gehalten würde. Die Familie — nicht jedoch der Haushalt! — nimmt hinsichtlich der Aufgaben, die der Zivilgesellschaft zugedacht werden, immerhin eine zweitrangige Rolle ein. So möchte Habermas die kolonialisierenden Vereinnahmungen des Marktes und des Staates gegenüber der Zivilgesellschaft einhegen. Zugleich soll das Privatleben möglichst frei von Einflüssen aus beiden Bereichen gehalten werden, so dass die Privatsphäre sich komplementär zur Öffentlichkeit verhält (Habermas 1992: 429). Im Unterschied zu Hegel, aber unter Rückgriff auf einige Hegelsche Argumente, erörtern Jean Cohen und Andrew Arato, ob und wie es möglich sei, „to include the family within civil society, as its first association” (Cohen/Arato 1992: 631). Obwohl Cohen und Arato den Einschluss der Familie in die Bestimmung der Zivilgesellschaft erwägen, ist die Art, wie sie es tun, symptomatisch: Sie platzieren ihre entsprechenden Überlegungen ganz überwiegend in einer sich über mehrere Seiten erstreckenden Fußnote (ebd.: 628-631, Fn. 48). Obwohl Cohen und Arato betonen, die Familie als Teil der Zivilgesellschaft verstehen zu wollen, wird dieses Anliegen in ihrem umfangreichen Werk nicht ausgeführt.

Zugunsten der Familie bringen Cohen und Arato vor, dass sie solidaritätsstiftend sei, maßgeblich zur Vergesellschaftung des Individuums beitrage und dass sie den Kontext bilde, in dem Menschen überhaupt erst eine Persönlichkeit entwickeln können (ebd.: 629f.). Während Cohen und Arato die Familie als den alleinigen Ort darstellen, an dem Kinder aufwachsen und erzogen, an dem Menschen vergesellschaftet werden, möchte ich im Folgenden auch auf solche Haushalte und Lebensformen eingehen, die sich vom Hegelschen Konzept der Familie relevant unterscheiden. Sie können gleichwohl die er-wähnten Aufgaben erfüllen (Engel 2003: 37).

Alle drei Einwände, die Cohen und Arato zur Verteidigung der Hegelschen Familie formulieren, lassen sich auch auf den Haushalt und die Wohngemeinschaft übertragen. Zugleich nehmen jedoch Cohen und Arato den wirtschaftenden Aspekt des Haushaltes konzeptionell nicht ernst genug: „Although families do perform economic functions, although they can be and are functionalized by the imperatives of the economic or the administrative subsystem, although there are strategic interactions within them as well as exchanges of services and labor for money or support, and although these are distributed along gender lines, families are not thereby economic systems.” (Cohen/Arato 1992: 536) Gegen Cohen und Arato muss eingewandt werden, dass gerade deshalb, weil im Haushalt ökonomische Funktionen, administrative Anforderungen sowie strategische Interaktionen und Dienstleistungen zusammenlaufen, der auf Liebe basierende Hegelsche Begriff der Familie konzeptionell wenig geeignet ist und ein funktionaler Aristotelischer Begriff hier weiter führt. Sobald nämlich der Haushalt — hinsichtlich seiner wirtschaftenden und seiner sozialen Seite — funktionaler verstanden wird und damit zugleich die bürgerlich-ideologische Zuschreibung der Liebe und die damit verbundene Opposition von Liebe und Staat nicht mehr den Blick verstellt, kann die politische Dimension des Haushaltes ernst genommen werden.

Die Wohnge­mein­schaft als zivil­ge­sell­schaft­liche Assoziation

Im  Haushalt sind ökonomische und soziale Aspekte miteinander verwoben. Er kann als eine Wohneinheit mit Küche verstanden werden, in dem wirtschaftend alltägliche Bedürfnisse des Wohnens und der Ernährung, aber auch der Lebensgestaltung und des sozialen Zusammenschlusses erfüllt werden. Menschen organisieren ihr Leben um ihn herum. Er steht für eine gemeinsame Lebens- und Freizeitgestaltung, für Erholung, Regeneration und für Entspannung. Eher als an vielen anderen Orten wird hier der Körperlichkeit Raum gewährt. Nicht nur die Küche, auch das Bad wird geteilt.

Als Konsumenten entscheiden sich Menschen für oder gegen bestimmte Waren, die wiederum ihre Alltagspraxis prägen. Endverbraucherinnen bestimmen durch Kauf darüber, welche Produkte am Markt bleiben und beeinflussen durch ihre Nachfrage, welche Produkte angeboten werden. An seine Bewohnerinnen und Bewohner stellt der Haushalt ökonomische, administrative und strategische Anforderungen, die unter politischem Gesichtspunkt von Belang sind.

Haushalte bilden aber auch in anderer Hinsicht einen Ausgangspunkt und die Voraussetzung politischen Handelns: Insbesondere als Orte, an denen Menschen aufeinander treffen und miteinander kommunizieren, können sie von besonderer politischer Bedeutung sein. Die Küche dient zwar überwiegend dazu, Nahrung zuzubereiten, der Küchentisch kann aber auch das menschliche Miteinander beherbergen. Er eignet sich zum Versammeln und zum miteinander ins Gespräch kommen. Exilanten und Dissidenten,denen die Küche Heimat bietet oder die keinen anderen Raum haben, nutzen Wohnküchen als Orte der Kommunikation. Um den Küchentisch herum werden Konflikte aus-getragen und bewältigt, miteinander gelebt, gehandelt und kooperiert. Doch nicht nur interne Kommunikation und Kooperation — der Bewohnerinnen und ihrer Gäste — verdient Erwähnung. Daneben ist auch die nach außen gerichtete Art der Versorgung in Form zeitweiliger oder dauerhafter nachbarschaftlicher Hilfe relevant.

Die Wohngemeinschaft stellt eine bemerkenswerte Variante des Haushalts dar, nicht nur weil die Partei der Grünen ohne Wohngemeinschaften kaum entstanden wäre. Die Wohngemeinschaft lässt sich als zivilgesellschaftliche Assoziation interpretieren.
Zwar war es in den 1970er Jahren üblicher als heute, am WG-Tisch Flugblätter zu verfassen. Dennoch scheint mir die weit verbreitete Auffassung, heutige Wohngemeinschaftgenerationen seien generell unpolitisch, so nicht zutreffend: Es gibt nach wie vor WG-Tische und inzwischen auch Gemeinschaftscomputer, die der Formulierung politischer Überzeugungen dienen. Und wenn sich die einstigen Ansprüche an eine umfassende Infragestellung auch des letzten Bereichs des eigenen Lebens heute zugunsten eines Leben-und-Leben-lassen-Konzepts gewandelt haben, kann dies auch als ein Fortschritt betrachtet werden; Entpolitisierung muss damit nicht einhergehen.

Wenn heute im wohngemeinschaftlichen Zusammenleben Fragen der gemeinsamen Haushaltsführung sowie der entsprechenden Aufgabenverteilung reflektiert und neue Praktiken erprobt werden, dann geschieht dies bereits auf Basis des — in den 1970er Jahren erst noch zu erkämpfenden — Selbstverständnisses, dass keine Aufgabenverteilung naturgemäß sei. Die Wohngemeinschaft ist ein Ort, an dem wirtschaftend Kenntnisse der Haushaltung vertieft werden können. Hier können die Aufteilung verschiedener Verantwortlichkeiten bei der Bewältigung täglich anfallender Aufgaben erörtert sowie eine gewohnte Verhaltensweise verändert werden. Die Wohngemeinschaft war einst und kann weiterhin Ausgangspunkt sozialen Wandels sein und Anstoß zu gesellschaftlicher Transformation geben.

Obwohl eine überwiegend bürgerliche Einrichtung (und in dieser Hinsicht auch bemerkenswert exklusiv), lässt sich die Wohngemeinschaft im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert treffender mit dem Aristotelischen Begriff des Haushalts
fassen als mit der Hegelschen Bestimmung der Familie. Das liegt daran, dass Wohngemeinschaften zumeist gerade nicht auf Liebe basieren.z Sie entstehen vielmehr einerseits funktional, da das gemeinsame Wohnen kostengünstiger als die Vereinzelung ist. Andererseits aber bleiben sie oft — wie andere Gemeinschaften auch – „um eines Gutes willen” bestehen (Aristoteles Politik: 1152 a 1). Denn die funktionalen Aspekte der erschwinglicheren Miete und der geteilten alltäglichen Versorgung können sinnvoll ein-hergehen mit der sprachlichen — und damit für Aristoteles auch ethisch wertenden — Gemeinschaft: „Die Gemeinschaft in diesen Dingen schafft das Haus und den Staat” (ebd.: 1153 a 18).

In dem Moment, in dem Menschen nicht bloß in einer sogenannten Zweck-WG nebeneinander her leben, sondern tatsächlich miteinander wohnen, miteinander sprechen und etwas in ihrem Leben teilen, sei es die — abwechselnde, arbeitsteilige oder gemeinsame — Zubereitung der Nahrung, sei es die Liebe für den film noir oder die Unlust am überfüllten Lebensmittelladen an der Ecke, dann kann die Wohngemeinschaft auch ein ,politischer` Ort sein. Sie bietet dann Raum, Informationen auszutauschen, politische oder kulturelle Diskussionen zu führen oder — schlicht, aber bedeutsam — menschliches Miteinander zu gestalten. Hier gibt es nicht nur Möglichkeiten für Auseinandersetzungen, sondern auch dafür, Überzeugungen in Frage zu stellen, Meinungen zu bilden,
Präferenzen zu entwickeln, andere für die eigene politische Auffassung zu gewinnen. Die Wohngemeinschaft bietet den Freiraum, um sich im Austausch mit anderen emotional und geistig zu entfalten. In dieser Hinsicht dem Salon nicht ganz unähnlich, kann die Küche bzw. der Esstisch der Wohngemeinschaft als ein öffentlicher Ort verstanden werden: Menschen treffen hier zusammen, die einander oft zuvor nicht kannten und die gleichwohl miteinander handeln.3 Der Esstisch der Wohngemeinschaft ist aber auch privat genug, um einen geschützten Rahmen für neue Gedanken und weitergehende Handlungen zu bieten.

[1] Anders verhält es sich in Großbritannien, wo die Zivilgesellschaft zwar dem Staat, aber nicht dem Markt entgegengesetzt wird. Hier zählen neben dem Engagement in freiwilligen Assoziationen auch ökonomische und kulturelle Produktion sowie das Leben im Haushalt zur Zivilgesellschaft (Keane 1988: 14).
[2] Keineswegs soll hier die Möglichkeit liebesbasierter Wohngemeinschaften bezweifelt werden. Aber die Liebe ist nicht das bestimmende, sondern höchstens ein akzidentelles Merkmal, zumal heutzutage manche WG länger besteht als die durchschnittliche Ehe.
[3] Ein Vergleich mit dem Salon liegt nahe: Das Dachkämmerchen Rahel Vamhagens in der Jägerstraße in Berlin war kaum größer als eine durchschnittliche WG-Küche heutzutage und besaß eine außergewöhnliche Anziehungskraft für unzählige Gäste: als Ort zwischenmenschlicher Konstellationen, als Ort des Austauschs. Und haben nicht Hegel, Hölderlin und Schelling eine Weile gemeinsam im Tübinger Stift gewohnt?

Literatur

Adloff, Frank 2005: Zivilgesellschaft. Theorie und Praxis, Frankfurt/Main
Aristoteles 1973: Politik, übers. v. Olof Gigon, Zürich/München
Cohen, JeanlArato, Andrew 1992: Civil Society and Political Theory, Cambridge/MA
Engel, Antke 2003: Sandkastenträume. Queer/feministische Überlegungen zu Verwandtschaft und Familie; in: femina politica 12. Jg., H. 1, S. 36-45
Habermas, Jürgen 1992: Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1986 [1821]: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke 7, Frankfurt/Main
Keane, John 1988: Democracy and Civil Society. On the predicaments of European socialism, the prospects for democracy, and the problem of controlling social and political power, London
Reese-Schäfer, Walter 2000: Politische Theorie heute. Neuere Tendenzen und Entwicklungen, München
Riedel, Manfred 1975: „Bürgerliche Gesellschaft”; in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner et al., Bd. 2, Stuttgart, S. 719–800
Rosenblum, Nancy 1998: Membership and morals. The personal uses of pluralism in America, Princeton
Jens Nordalm
Jenseits von Verfallsklage und Renaissancejubel: Bürgerliches Leben in der Gegenwart
Weder verschwinden momentan der Bürger, das Bürgertum, das Bürgerliche, noch er-fahren sie gerade eine Renaissance. Sie existieren einfach, seit dem 19. Jahrhundert bis heute, und in durchaus ähnlicher Weise. Das Auf und Ab der Diskurse und Diagnosen berührt einen Menschentyp nicht, der unter den Bedingungen der modernen Welt ein selbst gestaltetes und frei geordnetes Leben führen will. Der Sinn des Bürger-Begriffs in der gleichwohl schwelenden Debatte ist ein vielfacher. Keiner dieser vier „Bürger” ist der aufgeregten Diskussion bedürftig.
Der „Bürger” als Staatsbürger
Staatsbürger sind und bleiben wir alle, auf der heutigen Stufe politisch-sozialer Verfasstheit. Der politische Bürger ist Gegenstand der Reflexion seit Aristoteles, der ihn partikularistisch-ausschließend dachte; „Bürger” sind bei ihm die wenigsten. Universalistisch wird er gedacht erst in der Moderne, seit Thomas Hobbes‘ individualistischer Staatsbegründung, mit Verwirklichungsschritten in den Monarchien des 18. Jahrhunderts, in der Französischen Revolution und durch den Code Napoleon, dann durch die Verfassungen des 19. Jahrhunderts, mit tatsächlichen Hemmnissen, etwa im preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht bis 1918. Ein politisch teilhabendes, allgemeines Staatsbürgertum, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichheit der politischen Rechte sind seither das Selbstverständliche. In diesem politischen Sinne ist der Bürger die Folge-Figur des zuerst durch den Absolutismus des 18. Jahrhunderts vereinheitlichten, unterschiedslos dem Staat gegenübergestellten Untertanen.
Darüber braucht man nicht weiter zu reden, auch nicht über den gewünschten Grad der Engagiertheit dieses Bürgers. Zunächst ist es durchaus ausreichend und politikphilosophisch befriedigend, wenn er im freiheitlichen Rechtsstaat sein Wahlrecht ausüben kann und ausübt.

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