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Bürger­lich­keit

Ein Gespräch über die bürgerliche Gesellschaft, Religion, engagierte Intellektuelle und Generationserfahrungen nach 1945

aus: Vorgänge Nr.170 ( Heft 2/2005 ), S.3-20

vorgänge: Bürgerlichkeit ist in Deutschland seit jeher eine komplizierte Angelegenheit: Thomas Mann konnte mit den Buddenbrooks nur die Verfallsgeschichte einer bürgerlichen Familie schreiben; Ernst Jünger attackierte 1932 den Bürger in seinem Buch Der Arbeiter. Gleichzeitig ertönt immer die Klage über die fehlende Bürgerlichkeit hierzulande, im Unterschied zu den anderen westlichen Demokratien. Lord Dahrendorf, ist die ewige Frage nach dem Bürger eine deutsche Spezialität?

Lord Dahrendorf: Zunächst einmal gibt es in anderen Ländern des Westens eine begriffliche Differenzierung, die es in Deutschland nicht gibt: die Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen. Für mich ist vor allem immer die Bürgergesellschaft von Interesse gewesen. Diese setzt sich in ihren Anteilen – bildlich gesprochen – aus drei Vierteln Citoyen und aus einem Viertel Bourgeois zusammen. Die Bürgergesellschaft lebt also sowohl aus einem Bürgerselbstbewusstsein als auch aus einer Bürgerselbsttätigkeit. Diese Unterscheidung ist im Deutschen schwer zu treffen. Ich bin selber einst beim Begriff Citoyen in das dünne Eis eingebrochen, in das man in Deutschland leicht einbricht, weil überall das Wort „Staat” sich hineindrängt: Früher habe ich Citizenship mit „Staatsbürgerschaft” übersetzt. Das tue ich heute nicht mehr. Denn das ist das Entscheidende am „Bürger”: Seine Position ist nicht abgeleitet vom Staat, sondern eine eigene, selbstbewusste Position. Genau damit hat es in Deutschland immer gewisse Probleme gegeben. Es gibt zudem wichtige regionale Unterschiede: Die Bürgertradition Hamburgs oder auch Württembergs ist in anderen Teilen des Landes weniger ausgeprägt. In Frankreich und in England – in England mehr als in Großbritannien – ist es einfacher gewesen.

„Üblicher ist das Bürgerliche schon geworden”

vorgänge: Lange Zeit herrschte dort ein unbefangenes Verhältnis zur Klassengesellschaft – während es hierzulande immer die Sehnsucht gab, Klassenschranken in einer imaginären „Mitte” oder „Volksgemeinschaft” zumindest symbolisch aufzuheben.

Lord Dahrendorf: Ich bin froh, dass Sie im Tempus der Vergangenheit sprechen. Denn die britische Gesellschaft hat sich in den 30 Jahren, in denen ich dort lebe, fundamental verändert, gerade in dieser Hinsicht. Ich will die nationalen Unterschiede einmal ganz grob vereinfachen: In den meisten kontinentalen Ländern war irgendeine mittlere bürgerliche Position das Leitbild für alle anderen Schichten. In Deutschland war das eher der Oberamtmann, in Italien eher der kleine Selbständige, während in Frankreich eine spezielle bourgeoise Vorstellung existiert, in der ein Stück Staat durchaus dazugehört und Selbständigkeit nicht ganz so wichtig ist wie in Italien. England dagegen war immer anders. Charakteristisch waren hier die zwei gesellschaftlichen Pole mit jeweils gleichem Selbstbewusstsein und mit – auf unterschiedlichen Ebenen zwar, aber immerhin – ähnlichen Lebensweisen: einmal eine begrifflich nur schwer zu bestimmende Aristokratie, zum anderen die selbstbewusste Arbeiterklasse. Letztere gab es nur in England und nicht auf dem europäischen Kontinent, auch nicht in alten Zeiten. Die selbstbewusste Arbeiterklasse und die prägende Oberschicht haben eigentlich die Mitte zerrieben. Leute in der Mitte haben sich einerseits geschämt, dass sie ihre Familienursprünge in der Arbeiterklasse verlassen haben; andererseits orientierten sie sich an einem zweiten Aufguss von Oberschichtwerten und Oberschichtverhalten. Erst in den letzten 30 Jahren – forciert durch Thatcher und Blair – hat sich eine Mittelschicht ohne großes Selbstbewusstsein herausgebildet. Die Arbeiterklasse ist verschwunden, hat sich aufgelöst; die Aristokratie hat sich zurückgezogen und wird zum Illustriertenthema, so wie das in den kontinentalen Ländern schon seit dem Ersten Weltkrieg der Fall ist.

vorgänge: Herr Nolte, wie fragil ist aus Sicht des Historikers die deutsche Bürgerlichkeit im Vergleich?

Paul Nolte: Zunächst einmal halte ich nicht viel von diesen kulturpessimistischen Untergangsszenarien, in denen das Bürgertum immer schon von Krise und Verfall bedroht gewesen ist, unter Druck von außen geraten, an sich selbst verzweifelt, an sich selbst irre geworden wäre. Diese Fähigkeit zu radikaler Selbstkritik und Infragestellung bleibt dennoch ein positives Merkmal von Bürgertum und Bürgerlichkeit. Die Unterscheidung von Citoyen und Bourgeois hat sich aber in Deutschland tatsächlich nicht entwickeln können. Ich sehe das jedoch in letzter Zeit eher als Chance, denn angesichts der Probleme im Land scheint der Begriff von Citoyen offenbar nicht mehr auszureichen. Früher unzureichend mit Staatsbürger übersetzt, merken wir, dass da noch etwas anderes dazugehört.

vorgänge: Aber ist nicht der Citoyen für die Demokratie wichtiger als der Bourgeois?

Nolte: Im Prinzip ja. Aber heute müssen andere Komponenten von Bürgerlichkeit hinzu treten. Eine Ausstattung mit bestimmten Rechten reicht nicht aus. Denn bürgerliches Selbstbewusstsein entsteht auch aus anderen Dingen, wie beispielsweise einer elementaren Selbständigkeit – nicht im alten Sinne ökonomischer Selbständigkeit durch die Führung eines eigenen Gewerbebetriebes, aber eine Selbständigkeit im Sinne einer Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung. Diese neue Bürgerlichkeit würde auch in ihren konkret praktischen lokalen Zusammenhängen wurzeln. Angesichts des fehlenden Engagements vor Ort müsste man eigentlich wieder ein kommunales Bürgerrecht einführen, damit die Menschen merken, dass sie nicht nur Citoyen bezogen auf Deutschland und die EU sind, sondern sich auch mit ihrer Gemeinde identifizieren.

Hinter der Übersetzung von Citizenship als „Staatsbürgerschaft” stand übrigens auch das alt bundesrepublikanische Bestreben, die Menschen zu guten Demokraten zu machen und in ein Staatswesen einzugliedern: vom Citoyen zum Staatsbürger, zum Bürger der Bundesrepublik, und dann landete man rasch beim Verfassungspatriotismus.

vorgänge: Dennoch hat man den Eindruck, dass der Begriff „Bürgerlichkeit” in den letzten Jahren eine Renaissance erlebt, während nach 1968 der bürgerliche Wertehimmel immer wieder von Bürgerkindern attackiert wurde. Hat das auch etwas mit der Epochenscheide 1989 zu tun, als eine dezidiert antibürgerliche Ideologie wie der Kommunismus abtrat? Bleiben nunmehr bürgerliche

Normen als einziger Maßstab übrig?

Dahrendorf: Das hat ganz sicher etwas damit zu tun. Auffällig sind jedoch die Schwierigkeiten, die deutsche Intellektuelle mit der Civil Society haben. Ich halte diesen Begriff „Zivilgesellschaft” eigentlich für feige. Denn die Civil Society ist die Bürgergesellschaft. Aber „Zivilgesellschaft” meint – partiell zumindest – offenbar auch die „nichtmilitärische Gesellschaft”, die zum Beispiel prinzipiell nicht in Irak-Kriege zieht. Daher habe ich noch größere Probleme mit dem Begriff „Zivilgesellschaft”. Denn hier wird „zivil” gegen „militärisch” gesetzt, was Civil Society überhaupt nicht bedeutet. Das ist eine Fehlübersetzung, die mich beunruhigt. Die Tendenz, die dahintersteht, hat kaum mit 1989 zu tun, sondern weist in eine andere, ältere Richtung. Trotzdem steckt etwas Richtiges in Ihrer Bemerkung: Üblicher ist das Bürgerliche schon geworden, soweit ich das beobachten kann.

Neue Bürger­lich­keit als Folge zunehmender Unbür­ger­lich­keit

Nolte: Ich würde nicht 1989 ansetzen, wenn wir diesen Stimmungswandel verstehen wollen. Die Konjunktur der Begriffe „Bürgertum” oder „Zivilgesellschaft” hängt mit Prozessen zusammen, die der Geschichte der Bundesrepublik entstammen. Schon vor 1968 haben sich Ralf Dahrendorf und andere mit einer Entbürgerlichung auseinandergesetzt. Bürgerlichkeit war etwas Kleinbürgerliches geworden, emblematisch verdichtet beispielsweise im „gutbürgerlichen Essen”. Dieser Prozess setzte sich fort hin zu einer starken Mitte in Deutschland, die aber gegenwärtig immer stärker entbürgerlicht ist. Diese Mitte war zunächst kleinbürgerlich, heute eher diffus antibürgerlich, manchmal sogar neoproletarisch. Im Extremfall gehören zu dieser Mitte auch Verhaltensphänomene einer neuen Unterschicht. Und weil diese Mitte in ihrem Habitus – hierarchisch formuliert – nach unten durchgereicht worden ist, taucht als Gegenbewegung die Neubetonung des Bürgertums wieder auf; man will es, kritisch selbstkritisch gesprochen, wieder elitärer profilieren. Diese Kontroverse haben wir im Moment: Wie elitär oder wie inklusiv wollen wir das Bürgerliche? Dabei spielt in meiner Generation – ich selbst habe da aber keine Affekte – das Bedürfnis nach Abgrenzung von den scheinbar antibürgerlichen 68ern eine Rolle.

Dahrendorf Es gibt bei 18, 20 jährigen eine auffällige Spaltung, die man an den Schulen beobachten kann: zwischen denen, die die Absage an Formen der Bürgerlichkeit zum Prinzip ihres Lebens machen, und denen, die ganz im Gegenteil mit großem Fleiß versuchen, eine neue Bürgerlichkeit zu entwickeln. Zwischen beiden existiert eine Kluft; die eine Hälfte bleibt in der Schlammwelt und die andere sucht ein neu geformtes Da-sein. In dem kleinen Ort im Schwarzwald, wo ich ein Haus habe, verbringt die eine Hälfte der jungen Leute die Nachmittage im Park mit Trinken, die andere Hälfte engagiert sich in Vereinen und übt Instrumente, lernt also selbständige Lebensführung bei anstrengenden Aktivitäten, die mit Vergnügen unternommen werden.
Nolte: Im Schwarzwald ist das Verhältnis vielleicht fifiy-flfty; in einer Stadt wie Berlin müsste man sicher pessimistischer kalkulieren, vielleicht mit einem Verhältnis 75 zu 25.

vorgänge: Aber verstärkt nicht die Neubetonung des Bürgerlichen diese gesellschaftliche Spaltung?

Nolte: Sicher, diese neuen elitären Bürgerlichkeits- und Bildungsdiskurse könnten auch dazu führen, dass sich diese Kluft noch verstärkt. Es kommt daher auf die Instrumente an, jene 50 Prozent, von denen Lord Dahrendorf sprach, bürgerlichen Zivilisierungseffekten auszusetzen und die Inklusion in die bürgerliche Gesellschaft zu ermöglichen.

vorgänge: Hinsichtlich dieser fürsorglichen Instrumente für die Unterschichten: Welche Unterschiede gibt es da zwischen Ralf Dahrendorf als Anhänger der liberalen Ordnung… Dahrendorf … nicht bloß Anhänger, sondern Verfechter der liberalen Ordnung!

vorgänge: … zwischen Ihnen also und Paul Nolte, der sich selbst einen „linken Konservativen” nennt?

Nolte: Liberale müssten alle wie Ralf Dahrendorf sein – doch kaum einer schafft es, so liberal zu sein wie Ralf Dahrendorf. Heute haben wir jedenfalls eine andere Situation als in den 1960er, 1970er Jahren. Denn die beiden Pole eines linken und eines konservativen Denkens müssten beide wieder eine stärkere Rolle einnehmen angesichts der sozialen Probleme. Ein anderer Grund spricht ebenfalls für die Wiederkehr dieser Pole: Wir haben Leitbilder und Zukunftsvorstellungen in einem Ausmaß verloren, das wir uns in den 1960er Jahren nicht vorstellen konnten. Der kulturelle Bruch des Fortschrittsbewusstseins erfolgte ja erst seit der Mitte der 1970er Jahre und hat meine Generation betroffen und in ihrer Zukunftsangst gleichsam paranoid gemacht.

Wenn man sich wieder auf Ziele besinnt, dann müsste man – das wäre der konservative Pol – auch bestimmte Interventions- und Steuerungspotentiale entwickeln. Das war zwar früher auch mal „links” – müsste aber heute mit klaren kulturellen Präferenzen verbunden werden; das ist wiederum „konservativ”.

Liberalität im Sinne Lord Dahrendorfs mache ich mir jederzeit zu eigen. Aber Liberalität scheint mir weitgehend missverstanden worden zu sein als eine Liberalität des laissez faire, also nicht als eine Liberalität der selbständigen Lebensführung, sonderneines hyperindividualistischen Hedonismus, der das bürgerliche Element des Engagements um das Gemeinwesen verlorenen hat.Fastfood, Alkohol und Tattoos: Verhalten und Ernährung als Klassenfrage

vorgänge: Sie haben in einem umstrittenen Essay Ihre fürsorglichen Instrumente für die Unterschichten schon einmal ausgepackt: Vollkornbrote statt Fastfood, weniger Fernsehen, stärkere erzieherische Aufsicht. Das klingt konservativ-patriarchalisch und hat mit der Liberalität einer offenen Gesellschaft doch nicht viel zu tun.

Nolte: Die Forderung nach besserer Ernährung hat immerhin rasch die rot-grüne Regierung erreicht, Renate Künast hatte sich das offensiv zu eigen gemacht. Die Frage von Ernährung und Verhalten ist eine Klassenfrage. Weil es politisch inopportun erschien, wurde die Frage, welche Schichten nicht erziehen und sich falsch ernähren, lange nicht gestellt.

vorgänge: Wenn eine Politikerin so etwas ausspricht, wundert man sich vielleicht weniger. Wenn ein in Bielefelder Gesellschaftstheorie geschulter Wissenschaftler wie Sie sich die Lösung sozialer Missstände von richtiger Ernährung erhofft, erstaunt das doch.

Nolte: Die Bearbeitung sozialer Probleme muss nicht immer mit Großtheorien beginnen, die sich allzu oft als praktisch folgenlos erweisen. Gesellschaftstheorie darf auch an der Lebensrealität beginnen. Im Übrigen geht es nicht darum, Brotsorten vorzuschreiben, sondern die Fähigkeit zu stärken, selbst vernünftige Entscheidungen treffen zu können – Entscheidungen für ein chancenreiches Leben.

vorgänge: Lord Dahrendorf, wie liberal kann man heute denn noch sein?

Dahrendorf (lacht) Na, so liberal wie möglich! Im Ernst: Es kann sein, dass ich am Ende, wenn das, worüber wir jetzt reden, praktisch wird, weniger Wert lege auf Interventionen im Sinne Herrn Noltes. Noch kann ich ihm weitgehend folgen. Bleiben wir einmal in meinem Schwarzwaldort. Die Aktiven und Selbständigen monopolisieren allmählich alles. Da ist es gar nicht so leicht, was man eigentlich den anderen, den Inaktiven für Perspektiven bieten kann, denen, die mit der Bierflasche rumhängen. Das öffentliche Trinken ist auch in England ein großes Problem; selbst ich als Liberaler würde das öffentliche Trinken verbieten. Es gibt eine große Zahl von jungen Leuten, die überhaupt nicht mehr ohne Bierflasche ausgehen.

vorgänge: Auch im Schwarzwald?

Dahrendorf Natürlich, in kleinen Orten fällt es sogar stärker auf. Als Perspektive drängt sich rasch die amerikanische Antwort auf, wo die Tätigkeit eine selbstverständliche Notwendigkeit ist. Aber es ist nicht so einfach zu sagen: ,Wenn Ihr euch Mühe gebt, dann könnt Ihr es genauso wie die anderen auch schaffen.‘ Denn die Arbeitswelt hat sich verändert, ist komplexer geworden.

Nolte: Dieser unbürgerlicher Habitus, den Sie mit dem öffentlichen Trinken angesprochen haben, hat in Deutschland ganz stark zugenommen. Unbürgerlichkeit reicht bis hinzu Körperinszenierungen und wird bewusst als Stilmittel eingesetzt: Tattons und Piercing als Abgrenzungsinstrument.

vorgänge: Was soll an solchen ästhetischen Phänomenen problematisch sein?

Nolte: Das wissen wir spätestens seit Bourdieu: Sie reflektieren nicht nur Individualität, sondern sie erzeugen Klassenunterschiede. Früher hatte sich die Arbeiterklasse Mühe gegeben, Sonntags nicht den Blaumann, sondern die gute Kleidung anzuziehen und den Hut aufzusetzen, wenn man sich in die Öffentlichkeit bewegt. Damit versuchte sie, das Stigma der eigenen Klasse zu überwinden und sich einem bürgerlichen Habitus anzupassen. Wir nähern uns heute dagegen mehr den amerikanischen Verhältnissen an.

vorgänge: Wo lässt sich dann die neue Bürgerlichkeit überhaupt feststellen?

Nolte: Eine Diffusion von Bürgerlichkeit existiert nach wie vor. Denken Sie an die unzähligen Golfplätze, die in der Umgebung von Berlin entstehen. Es gibt das Bedürfnis, klassische Formen wieder zu entwickeln, wie beispielsweise die Salonkultur. Es sind also parallele Phänomene. Allerdings ist die Diffusion von Unterschichtenverhalten hinein in die gesellschaftlichen Mittelschichten historisch ungewöhnlicher. Lange Zeit übernahm das Bürgertum aristokratische Verhaltensformen und die klassische Industriearbeiterschaft ahmte bürgerliches Verhalten nach. Irgendwann sollte das zur vollständigen Verbürgerlichung der Gesellschaft führen: wir alle wären dann schöne Citoyens und brave Demokraten mit bürgerlichen Konsumformen. Doch momentan erleben wir den gegenläufigen Trend. Wir müssen zudem einen kritischen Blick auf die Mittelschichten werfen: Im bürgerlichen Verhalten gibt es nach wie vor starke regionale Unterschiede in Deutschland. Bürgerliches Engagement ist in Baden-Württemberg viel häufiger als in Norddeutschland, wo es nicht selbstverständlich ist, seine Freizeit für die Caritas oder die Freiwillige Feuerwehr zu opfern. Daher ist für mich diese neue Bürgerlichkeit auch in den Mittelschichten nur sehr begrenzt vorhanden, weil man sich dort eher individuell verwirklicht, statt mehr für die bürgerliche Gesellschaft zu tun.

vorgänge: In der Politik stehen die Bayreuth-Besucher Horst Köhler, Angela Merkel/ und Guido Westerwelle für neue Bürgerlichkeit – wobei letzterer auch unbürgerliche Momente im Big-Brother-Container hatte…
Dahrendorf: Ein Beispiel für die Orientierung nach unten, wenn man so will.

vorgänge: Auffällig ist bei diesen drei Politikern ihr manifester Ökonomismus. Ist das nicht eine reduzierte Form der

Bürgerlichkeit, bei der Wertfragen unter den Tisch fallen?

Dahrendorf Es ist doch sehr wünschenswert, wenn in einem Land, in dem Bürgerlichkeit stark durch Beamtentum und Fixierung auf den Staat dominiert war, nun ein paar Figuren auftauchen, die sich in einer wirtschaftlich geprägten Welt zuhause fühlen. Ich finde das eine durchaus erfreuliche Tendenz. Das wird für Angela Merke/ vielleicht nicht in dem selben Maße wie für Horst Köhler gelten.

vorgänge: Köhler war auch viele Jahre Spitzenbeamter im Bundesfinanzministerium.

Dahrendorf Das ist richtig, aber seine Orientierungen waren ökonomisch. Sie spüren immer wieder, wie stark ihn seine Zeit beim IWF in Amerika geprägt hat. Nein, meiner Meinung nach ist die gesellschaftliche Prägung durch Ideen und Normen der Wirtschaft in Deutschland noch viel zu gering.

Nolte: Es gibt diese starke Polarisierung innerhalb der Bürgerlichkeit. Wir müssen daher. Citoyen und Bourgeois stärker zusammen denken. Ich glaube, dass der Bundespräsident versucht, beides zu verbinden.

vorgänge: Wie verbürgerlicht sind denn die Grünen, deren Wählerschaft mittlerweile die einkommensstärkste von allen Parteien ist?

Nolte: In der grünen Bürgerlichkeit fühlen sich viele Angehörige meiner Generation wohl, weil die Grünen diesen sozialen Touch besitzen, einen Empathiefaktor. Sie vertreten Werte, die man in der – pointiert formuliert – kalten, nackten, technisch-ökonomisch-bourgeoisen Bürgerlichkeit von FDP und CDU nicht findet. Strategisch ist es an der Zeit für eine schwarz-grüne Koalition: Das wäre für mich eigentlich der Testfall, ob das Zusammengehen von zwei Bürgerlichkeiten auch politisch gelingt.

Schick­salslage und Denkstile der Generation Dahrendorf

vorgänge: Verlassen wir an dieser Stelle die Gegenwart und begeben uns auf Spurensuche in Ihrem Oeuvre, Lord Dahrendorf. Vor vierzig Jahren, 1965, erschien Ihr vielleicht bedeutendstes Werk, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland. Nach Beinhart Kosellecks Kritik und Krise (1959) und Jürgen Habermas‘ Strukturwandel von Öffentlichkeit (1962) ist es das dritte wichtige Buch nach 1945, das die prekären Tiefenschichten der bürgerlichen Gesellschaft hierzulande seziert. Wie kamen Sie zu diesem Thema?

Dahrendorf Gesellschaft und Demokratie in Deutschland ist in gewisser Weise auch das Ergebnis meiner früheren angelsächsischen Erfahrungen. Die Tübinger Vorlesungen, auf denen das Buch basierte, habe ich zum ersten Mal an der Columbia University in New York gehalten. Immer wieder tauchte die Frage auf: ,Was ist eigentlich in Deutschland passiert?‘ Und ich musste mich zunächst korrigieren. Bis dato hatte ich wie viele andere von der „restaurativen Adenauerzeit” gesprochen; Globke, Oberländer und Konsorten waren auch für mich die Indizien dafür. Doch dann wurde mir klar, dass nach 1945 viel mehr passiert war, als diese oberflächlichen Deutungen wahrhaben wollten. Es hatte sich in Deutschland wirklich fundamental etwas verändert. Der Siegeszug der sozialen Marktwirtschaft war dabei keineswegs selbstverständlich; es ist schon ein unwahrscheinlicher, glücklicher Zufall, dass Ludwig Erhard die Chance hatte, seine einfachen, aber klaren und entschiedenen Positionen in der Währungsreform auch durchzusetzen.

Ich habe diese Prozesse dann zusammengefasst und vor dem Hintergrund der deutschen Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert bilanziert. Für mich war die Frage entscheidend: Hat es gesellschaftliche Veränderungen gegeben, die dieses Mal die Demokratie fester begründeten als nach 1918? Diese Frage habe ich bejaht, jedenfalls für das westliche Deutschland.

vorgänge: In Ihren Tübinger Vorlesungen über Gesellschaft und Demokratie in Deutschland saßen auch Gudrun Ensslin und Bernward Vesper, die späteren RAF-Terroristen. Die Pastorentochter Ensslin und der Literatensohn Vesper hören Dahrendorf – ein Gleichnis für die Schwierigkeiten, die Bürgerlichkeit in Deutschland hat? Die beiden Bürgerkinder haben bei Ihnen offenbar nicht genug gelernt, um später vom Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft abzulassen.

Dahrendorf (Lacht) Also ich würde das nicht überinterpretieren. In Tübingen gab es drei Professoren, die den Festsaal der Universität füllten: Hans Küng, Walter Jens und ich. Wir hatten viele Studenten gemeinsam, Ensslin und Vesper waren auch darunter. Der bürgerliche Selbsthass ist ein altes Phänomen, gerade unter jungen Menschen und oft nicht frei von Tragik. Die spezielle Ironie gerade dieses Falles will ich nicht leugnen.

vorgänge: Sie sind Angehöriger jenes legendären Jahrgangs 1929, so wie zwei andere bedeutende deutsche Intellektuelle: Jürgen Habermas und Hans Magnus Enzensberger. In Ihrer Generation, die Ihr einstiger Soziologenkollege und Antipode Helmut Schelsky die „skeptische” genannt hat, fallen die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit dem Epochenbruch 1945 auf. Auf der einen Seite stehen konservative Bürger wie Joachim Fest und Wolf Jobst Siedler, die die positiven Traditionsstränge des deutschen Bürgertums suchen und sich deswegen permanent mit Hitler auseinandersetzen, um das Bürgerliche gleichsam ex post gegen Hitler zu impfen und dadurch zu bewahren. Auf der anderen Seite steht Jürgen Habermas mit seinem „schuldigen Denken”, wie Heinz Bude das genannt hat: diese permanente Präsenz der historischen Erblast und daraus folgend die ständige Auseinandersetzung mit ihr. Deswegen hat für Habermas das Bürgerliche als Kategorie heute keine Relevanz mehr, weil die bürgerliche Schuldverstrickung während des Dritten Reiches offenkundig zu stark war. Für Sie hingegen scheint Bürgerlichkeit erst nach 1945 möglich zu sein, weil die richtige Antwort – die Hinwendung zum Westen – gefunden wurde. Hitler war daher offenbar nie ein intellektuelles Problem für Sie.

Dahrendorf Das ist zugespitzt formuliert, aber Sie haben recht. Ich war selber überrascht, als mich Frank Schirrmacher und Stefan Aust vor kurzem immer wieder nach Hitler befragten (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. März 2005). Er war für mich schon 1945 in Berlin nicht das Hauptproblem.

vorgänge: Obwohl Sie kurz vor Kriegsende sechs Wochen in Haft waren, weil Sie in einer jugendlichen Widerstandsgruppe aktiv waren?

Dahrendorf: Ja, trotz dieser Erfahrung. Auch wenn natürlich Faschismus und Nationalsozialismus ohne Führer nicht denkbar sind: Ich war nie auf Hitler fixiert, weil er gesellschaftstheoretisch wenig interessant ist, während für Fest oder auch Sebastian Haffner diese Personalisierung entscheidend und zentral ist. Aber Sie beweisen damit im Grunde nur, dass die Generationsanalyse nicht zureicht. Es gibt sehr viele verschiedene Hintergründe, Geschichte, auch persönliche Geschichten für die von Ihnen angeführten Repräsentanten. Ich bin Hamburger aus einer liberal-sozialdemokratischen Familie; Habermas ist Gummersbacher und stammt aus einer extrem nationalistischen, wenn nicht sogar nationalsozialistischen Familie – das sind unterschiedliche Erfahrungen, obwohl ich mit Habermas viele Gemeinsamkeiten habe.

vorgänge: Herr Nolte, Sie sind Jahrgang 1963 und haben sich mehrfach mit dieser Intellektuellengeneration beschäftigt, vor allem in Ihrer Habilitationsschrift Die Ordnung. der Gesellschaft (2000), in der Sie u.a. das Denken Ralf Dahrendorfs und anderer Nachkriegssoziologen intensiv durchleuchtet haben. Wie sehen Sie die „Schicksalslage” dieser Generation Dahrendorf, um ein Wort Helmut Schelskys zu verwenden?

Nolte: Tatsächlich ist das eine Generation, an der sich nicht nur ich und viele andere meiner Generation noch lange abarbeiten werden, weil es eine so auffällig starke Intellektuellengeneration ist, in der sich etwas konzentriert und in der für mich auch gemeinsame Erfahrungen im Vordergrund stehen. Alle eint im Grunde dieses „schuldige Denken” und eine strukturelle Perspektive auf Gesellschaftsprobleme, ob nun durch die Brille des Marxismus oder durch eine andere Form von undogmatischer Klassenanalyse. Die Frage ,Wie erkläre ich das Einbrechen der Person Hitler in meine geordnete bürgerliche Welt?‘ – diese Frage dagegen ist für diese Generation nebensächlich gewesen; Fest und Siedler sind da Ausnahmen. Stattdessen diesen strukturellen Blick gewagt zu haben: Das ist eigentlich die große gemeinsame Leistung dieser Generation gewesen: Damit ging sie auch das Wagnis des „schuldigen Denkens” ein – eine sehr passende, etwas protestantische Begrifflichkeit –, ließ sich also auf die Frage ein, was man eigentlich selber dafür konnte, was in Deutschland passiert war.

vorgänge: Ihre Generation, Lord Dahrendorf, wagte ja dann auch die ganz großen Werke, denken wir an Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns, Niklas Luhmanns Systemtheorie oder die mittlerweile vier Bände von Hans-Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte. Auch da sind Sie Außenseiter in Ihrer Genetationenkohorte, weil Sie eigentlich ein klassisches Hauptwerk nicht vorgelegt haben.

Dahrendorf: Ich bin da ein Fuchs – und Habermas ist in gewisser Weise doch ein Igel, um es mit Isaiah Berlins klassischen Worten zu umschreiben: In seinem Essay The Hedgehog and the fox (1953) hat er die Denker, die sich mit einem großen intellektuellen Problem auseinandersetzen, als Igel bezeichnet – und diejenigen Köpfe, die viele kleinere Dinge erkennen, als Füchse. Und ich bin zudem ein Fuchs – im Unterschied sogar zu Isaiah Berlin –, der nicht so unglücklich darüber ist, dass er kein großes Hauptwerk vorführen kann…

vorgänge: Versucht haben Sie es dennoch mit umfangreichen Werken: bevor Sie Ihr schönes Erinnerungsbuch Über Grenzen veröffentlichten, haben Sie erst einmal ein 500-Seiten-Memoirenmanuskript verworfen; und einen ebenso umfangreichen Torso Modernity in Eclipse haben Sie vor zwanzig Jahren abgebrochen…

Dahrendorf: Sie sehen daran, dass ich manchmal durchaus solche Werke vorlegen wollte, sonst hätte ich diese dicken Manuskripte nicht geschrieben. Aber letztlich bin ich ohne Hauptwerk nicht unglücklich. Raymond Aron, einer meiner sehr engen väterlichen Freunde, hat darunter gelitten, weil er seine 500-Seiten-Bücher alle veröffentlicht hat und sie die Welt dennoch nicht bewegt haben, jedenfalls nicht in dem Maße, in dem er es immer gehofft hatte. Er hat geglaubt, dass seine zweibändige Clausewitz-Studie Den Krieg denken (1976) ein großes Werk ist. Das ist sie auch. Aber wenn über Aron geschrieben wird wie unlängst anlässlich seines 100. Geburtstags, dann finden Sie dieses Werk meistens nicht einmal erwähnt.

Bei Habermas könnten Sie ebenfalls diese zahllosen Aufsätze und tagespolitischen Interventionen nennen, aber dahinter steht doch immer das große Werk der Theorie des kommunikativen Handelns, mit Vorläufern und Fortsetzungen, also vom Strukturwandel der Öffentlichkeit bis Faktizität und Geltung. Das ist ein Opus – und das existiert bei mir nicht. Gut, das ist eben so.

In den angelsächsischen Ländern ist es übrigens nicht Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, womit mein Name verbunden ist, sondern Class and class conflict (1959): weil ganze Generationen von Soziologen in ihrem vierten Semester damit geplagt worden sind. Auch bei mir gibt es am Ende vielleicht eine sich durchziehende Thematik, ähnlich wie bei Isaiah Berlin: das Freiheitsthema. Aber ich bin kein Schulenbildner und es gibt auch nicht allzu viele Leute, die Dissertationen über mein Werk schreiben; Habermas ist hingegen ja das beliebteste Dissertationsthema.

Nolte: Sie sind da schon auf eine angelsächsische Weise untypisch, denn in Ihrer Intellektuellengeneration ist es ansonsten ein großes Motiv gewesen, dieses eine Zentralwerk vorzulegen – mit dem man auch gegeneinander antreten konnte: bei den Historikern Thomas Nipperdey versus Hans-Ulrich Wehler, bei den Sozialwissenschaftlern Habermas versus Luhmann. Diese Mühe um das Werk ist auch der Versuch, ein Statement der Generation abzuliefern, eine Lebensleistung. Natürlich sind Sie mir in Ihrem Herangehen sympathisch, weil unsere Generation von diesen Großwerken geradezu verschreckt und eingeschüchtert wurde und wird. Es wird daher noch eine lange Zeit dauern, bis wieder jemand das große Statement wagt; vielleicht sind es erst die nochmals Jüngeren, die diesen Mut zum großen Werk wieder fassen. Dieser Ehrgeiz existiert bei uns und den etwas älteren Jahrgängen, den in den 1950er Jahren geborenen Forschem, nicht. In der heutigen Welt ist es zudem so, dass die kürzere Intervention weitaus größere Wirkung entfalten kann: Ein Aufsatz in der Zeit löst mehr aus als es eine Theorie des kommunikativen Handelns auf die Schnelle tun würde. Beider Nachhaltigkeit kann man natürlich nicht vergleichen.

1989 als Epochen­zä­sur?

vorgänge: Lord Dahrendorf, Sie haben einmal gesagt, dass Freiheit und Demokratie glücklicherweise „kalte Projekte” seien. Sie selber waren jedoch mit heißem Herzen da-bei, als es 1989 in Ostmitteleuropa um Freiheit und Demokratie ging; sie haben neben vielen Artikeln sogar ein kluges Buch mit dem Titel Betrachtungen über die Revolution in Europa (1990) vorgelegt. Sehen Sie da einen Widerspruch?

Dahrendorf: Befreiung ist nicht kalt. Der Prozess der Schaffung dieser liberalen Ordnung ist in keiner Weise kalt. Es ist sogar eines der Dramen, die mich beschäftigen, dass nach einem erfolgreichen Prozess eine weitgehende Abkühlung einsetzt. Ich hatte das Glück, 1989 am St. Antony’s College in Oxford zu erleben, wo mit Timothy Garton Ash der meisterhafte Chronist der Revolution von 1989 lehrte. Alle Hauptakteure von 1989 waren bei uns zu Gast; mit manchen habe ich mich angefreundet: Bronislaw Geremek, Adam Michnik aus Warschau, Väclav Havel und Jiri Dienstbier aus Prag, Andrej Ple~u aus Rumänien. Bei den meisten erlebte ich das Drama des Überganges von der Leidenschaft des Kampfes für Freiheit zu den normalen Zeiten, die sie eigentlich gewollt hatten. Dabei geschieht etwas ganz Merkwürdiges: Zwar finden sich einige mit den normalen Zeiten ab, für Geremek gilt das beispielsweise. Für die meisten jedoch setzt eine sehr tiefe Enttäuschung ein. Ich weiß noch genau, was sie 1989 wollten, sie haben es selbst so gesagt: „Normalizazje”. Das war die große Sehnsucht. Jetzt ist sie da – und keiner hat sie gewollt. Sie werden melancholisch wie Havel. Rasch wird alles zur reinen Nostalgie. Eigentlich hätten sie davon geträumt, dass die Politik nach 1989 eine völlig neue, ganz andersartige Welt schaffen würde, eine neue Politik, neues Verhalten, dieses und jenes – und jetzt stellen sie fest, dass alles nur so wurde, wie es immer schon war. Ich leide an diesem Drama durchaus ein Stück mit.

1945 und 1989 sind für mich die beiden Zentralereignisse des Jahrhunderts. Gesellschaft und Demokratie in Deutschland war in gewisser Weise die Interpretation der großen Veränderungen, die 1945 bedeuteten. Dann kam so etwas wie 1989, wieder so ein Bruch. Dazwischen sehe ich auch Phasen, in denen es nicht so aufregend war. In diesen Zeiten war es ganz in Ordnung, dass die eher kalten, nämlich rationalen Institutionen von Demokratie und Marktwirtschaft die Gesellschaft weiterbewegten.

vorgänge: Lord Dahrendorf hat gelegentlich auf den eigentümlichen Umstand hingewiesen, dass das Jahr 1989 in Deutschland nicht als so starke Zäsur wahrgenommen wird, im Gegensatz zu anderen Teilen Europas. Herr Nolte, ist das ein Problem Ihrer westdeutschen Generation, die in kommoden Verhältnissen aufgewachsen ist? Und zeigt das nicht ein hierzulande immer noch vorhandenes Defizit an Freiheitsempfinden?

Nolte: Ich kann da bei den eigenen Erfahrungen ansetzen: Es war schon ein dramatisches Ereignis für jemanden, der 1963 geboren ist. Ich weiß noch genau, wie ich in der Küche stand und davon hörte, dass Ceauescu erschossen worden war – auch für den Historiker, der sich mit Revolutionen beschäftigt hatte, mit der symbolischen Bedeutung des Königsmordes, war das natürlich ein gleichsam leibhaftiges Erlebnis, Dieses Erlebnis 1989 hat sich dann jedoch nicht in mein Lebensgefühl übersetzt. Wir sind in Deutschland nun mal in einer asymmetrischen Situation. In Ostmitteleuropa konnten ganze Nationen den Weg in die Demokratie gehen – die DDR dagegen ist für Deutschland als Ganzes eben doch nur ein minoritäres Anhängsel gewesen und geblieben. Die altbundesrepublikanische Erfahrung – wie immer man zu ihr steht – hatte ein Ersatznationalbewusstsein ausgebildet. Das betraf besonders meine Jahrgänge, die in den 1970er, 1980er Jahren sozialisiert worden sind – auch dann, wenn wie in meinem Falle ein Teil der Familie aus Thüringen kommt und es Verwandtenbesuche aus der DDR gab. Der Osten lag also nicht völlig fern, spielte aber für das, womit man sich in der Bundesrepublik herumzuschlagen hat, keine Rolle. Es konnte keine lebensgeschichtliche Bedeutung gewinnen, weil die Welt im Osten anders war.

Für die deutsche Gegenwartsgesellschaft ist 1989 ebenfalls eine eher mittelbare Zäsur. Denn heute diskutieren wir die Probleme, die aus der Geschichte der Bundesrepublik herrühren: Wir müssen das altbundesrepublikanische Mischungsverhältnis aus Konsumgesellschaft, Wohlfahrtsstaat und föderaler Demokratie neu austarieren.

vorgänge: Könnte für diese Diskussionen nicht 1989 eine ideelle gesamtdeutsche Ressource werden, aus der man in schwierigen Zeiten wie heute den Mut für Veränderungen gewinnen könnte, gleichsam als emotionale Unterfütterung für die von Paul Nolte ausgerufene Generation Reform?

Dahrendorf Ich bezweifle das. Ich kann Paul Nolte gut verstehen. 1989 ist nun mal kein primär oder sekundär deutsches Ereignis. Unzählige Male war ich damals in Warschau und in Prag, in Budapest, in Bukarest, in Sofia – aber in Leipzig oder in Ostberlin war ich nicht.

Rückkehr der Religion?

vorgänge: Ein Phänomen der Gegenwartsgesellschaften des Westens scheint momentan die Rückkehr der Religion zu sein. Nun haben Sie beide familiäre Erfahrungen mit Glaubensgemeinschaften: Lord Dahrendorf als Sohn des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf, Paul Nolte als Pastorensohn…

Dahrendorf Sie übertreiben da ein wenig mit der sozialdemokratischen Glaubensgemeinschaft. Mein Vater war zwar in der Arbeiterbewegung verankert, aber der Kern seiner Politik war doch sehr unorthodox; also gegen die rückwärtsgewandte Verengung der Arbeiterbewegung gerichtet, nach 1945 vor allem sehr gegen die traditionelle SPD-Politik Kurt Schumachers.

Nolte: Das Wort „Glaubensgemeinschaft” finde ich auch in meinem Falle übertrieben, ich entstamme ja nicht einem inner circle von Mormonen. Es handelt sich eher um eine sehr individuelle Prägung durch einen Kulturprotestantismus, der sich schwer erklären lässt. Das kulturprotestantische Motiv spielt bei mir schon eine Rolle, wenn Sie so wollen, auch in meiner Betonung der gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen.

vorgänge: Die Rückkehr der Religion hat auch die säkulare Gesellschaftstheorie erreicht: Jürgen Habermas entdeckte 2001 den Glauben in seiner Rede zum Friedenspreis des deutschen Buchhandels und diskutierte 2004 mit Joseph Kardinal Ratzinger. Den liberalen Lord Dahrendorf kann man sich bei einem solchen Glaubensgespräch unter Generationsgenossen nicht so recht vorstellen.

Wie halten Sie es mit dem Glauben?

Dahrendorf: Mein Freund, der polnische Historiker Krzysztof Michalski, hat mich ein paar Mal nach Castelgandolfo mitgenommen, wo fünfzehn Leute zweieinhalb Tage ausgiebige und intime Gespräche mit Papst Johannes Paul II. führen konnten. Doch ich war dort nur als ein nicht sonderlich nahestehender Intellektueller. Ich bin nun wirklich in religiösen Dingen unmusikalisch, um diese Formulierung Max Webers aufzunehmen. Mein Vater und meine Mutter sind Anfang der 1920er Jahre aus der Kirche ausgetreten. Damals nannte man sich „Dissident” – eine hübsche Konnotation, wie ich finde. Ich bin nicht getauft und habe also weder eine positive noch eine negative Beziehung zu den Kirchen. Ich bin – wie alle nicht getauften Menschen – eher berührbar durch katholische als durch protestantische Riten, weil sie intensiver sind und daher als etwas, was nicht Teil von mir ist, einen größeren Eindruck machen. Ich hatte meine schönen Rom-Erlebnisse: Mein Tübinger Kollege Hans Küng hat mich zum Zweiten Vatikanischen Konzil mitgenommen, das für mich eine ungeheurere parlamentarische Erfahrung war. Aber trotzdem spielt der Glauben bei mir keine Rolle.

Habermas ist bekanntlich durchaus empfindlich in der Interpretation seiner eigenen Positionen, weil er nicht gerne verwechselt werden möchte mit dem späten Max Horkheimer, der ja auch die eine oder andere Wandlung erlebte. Bei mir gibt es jedenfalls keine Chance, dass ich eines Tages anfange zu sagen: ,Religion – eigentlich doch!‘
vorgänge: Paul Nolte verweist hin und wieder auf die religiösen Fundamente in einer postsäkularen Welt, als Ressource für die moderne Gesellschaft.

Dahrendorf: Auch wenn ich religiös unmusikalisch bin, betone ich seit langem, dass zur Bürgergesellschaft nicht nur die selbständige Lebensführung gehört, sondern eben auch bestimmte Formen der Bindung, Solidarität stiftende Elemente. Das ist für mich ein schwieriges Thema; ich habe auch immer gezögert bei dem, was ich darüber schreibe. Ich glaube, dass dieses Zögern auch spürbar wird, in dem was ich sage. Ich habe für Bindungen dieses Wort „Ligaturen” verwendet, in dem mindestens ein Teil der sprachlichen Wurzel enthalten ist, die auch in „Religion” steckt. Sie sehen: Ich bin zwar religiös unmusikalisch, aber nicht unempfindlich.

Nolte: Ich habe mich oft gefragt, wo diese Dahrendorfschen Ligaturen herkommen sollen. Wer stiftet sie? Ernst-Wolfgang Böckenförde hat das Problem klassisch formuliert: „Der freiheitliche Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.” Ideologie geschichtlich entstammt das Böckenförde-Diktum der Säkularisierungsdebatte, die mit Hermann Lübbe und anderen in den 1960er Jahren im Kreis um Joachim Ritter geführt worden ist. Es ist die Frage nach den Ressourcen und den Werten, die Böckenförde hier stellt, den man auch als „linken Konservativen” bezeichnen könnte. Es hat sich zuletzt so etwas wie eine „Böckenfördische Linke” konstituiert, zu der auch Habermas gehört: Sie übersetzt Böckenfördes Frage und versucht sie zunächst einmal säkular zu beantworten. Dann taucht Religion als Ressource für die Gesellschaft auf, wie zum Beispiel in der Friedenspreisrede von Habermas.

vorgänge: Erzeugt Glauben heute noch gesellschaftliche Bindungskräfte?

Nolte: Wenn wir die Frage nach den Ligaturen stellen und solche Potentiale suchen in einer Welt, in der Bindungen eine geringere Rolle spielen, kommen wir an einem Gespräch über Religion nicht vorbei. Traditionen sind aufgebrochen und Selbstverwirklichung wird in einem Maße betrieben, das in den 1960er Jahren, zu Zeiten von Dahrendorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, nicht denkbar war. Neben dem Glauben als Reflektionsressource existiert Kirche auch als Institution der Bürgergesellschaft. Denn auch wenn alle großen Massenorganisationen erodieren, auch die Kirchen, erleben wir ja da eine paradoxe Renaissance: Die Bischöfe Lehmann und Huber tauchen in der Öffentlichkeit häufig auf; es gibt an der Basis immer noch die Kirchengemeinde, die die Menschen in bürgerschaftliches Engagement hineinführen, in Engagement für Dritte. Auf die Kirchen als Institution der Bürgergesellschaft sind wir wieder stärker angewiesen, neben ihrer Rolle als Reflektionsinstanz. Man muss nicht religiös sein, um eine starke Kirche im Sinne der Bürgergesellschaft zu wünschen.

Dahrendorf Ich habe damals mit Papst Johannes Paul II, über Polen und die Kirche gesprochen. Ich sagte: „But the Church in Poland is obviously a very powerful part of civil society.” Er schaute mich an und erwiderte: „Oh, no no no! The Church is not civil society, the church is sacred society.” (Lacht) Da steckt einiges an Tiefsinn drin.

Ich denke im Moment viel über Böckenfördes Sentenz nach, zuletzt im Zusammenhang mit dem Europäischen Verfassungsvertrag und dem Gottesbezug in dessen Präambel. Ich bin nicht sicher, ob der Katholik Böckenförde recht hat, der übrigens auch in Castelgandolfo dabei war. Ich halte es für möglich, dass ich bei angestrengtem Nachdenken zu einem anderen Schluss komme als er. Civil Society mit Bindungen kann eben doch entstehen im Verfolg der Schaffung von Institutionen der liberalen Ordnung – John Locke statt Böckenförde sozusagen. Ich bin jedenfalls nicht sicher, dass Böckenförde recht hat.

Nolte: Natürlich gibt es auch andere bürgergesellschaftliche Ressourcen, die man in Amerika beispielsweise als eine Form von Zivilreligion betrachten kann.

Dahrendorf Auch dort gibt es gravierende Veränderungen. Einst gab es auch in kleinen Ortschaften viele Kirchen. Als ich 1950 zu Ostern das erste Mal in Amerika war, bin ich weitergereicht worden von einer zur anderen, überall herzlich begrüßt. Da war wirklich die Zivilreligion im Sinne Tocquevilles spürbar, die den Zusammenhalt von Gruppen innerhalb einer Gesellschaft erzeugt.

vorgänge: Sie betonen Ligaturen, Bindungen – war das nicht in den 1970er Jahren Ihre konservative Kehre – weitaus früher als bei Habermas –, nachdem Sie jahrzehntelang den Deutschen beigebracht haben, ihre Konsensfixiertheit abzustreifen und im Sinne der westlichen Demokratien endlich Konflikt zu lernen?

Dahrendorf: Ich habe die Ligaturen tatsächlich schon in den 1970er Jahren betont. Ich glaube, ich habe eine frühe Einseitigkeit meines Gesellschaftsbildes durch das Nachdenken über Bindungen korrigiert. Dass Freiheit im Konflikt besteht, würde ich jedoch immer noch behaupten.

Nolte: Dahrendorfs Conflict bleibt wichtig, denn gerade hier in Deutschland haben wir immer noch ein Konfliktdefizit. Es müsste nur jemand kommen, der noch einmal zeigt, wie wir gleichzeitig mehr Konflikt lernen können und andererseits auch Ligaturen schaffen, wie wir beispielsweise über die tot gelaufene Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus hinaus kommen können.

Die Bürger­ge­sell­schaft und ihre engagierten Intel­lek­tu­ellen

vorgänge: Für den Konflikt in der Gesellschaft sind zumeist die kritischen Intellektuellen zuständig. Sie beide gehören zu dieser Spezies, wenn auch unterschiedlichen Generationen entstammend: Wissenschaftler, die sich in die öffentlichen Debatten einmischen und sich mit Resonanz in der Fachwelt nicht begnügen.

Dahrendorf Es ist in der Tat eine Haltung, die mir zentral scheint. In kritischen Situationen der Gesellschaft ist sie besonders wichtig, in normalen Zeiten nicht im selben Maße, aber auch da hat sie ihre Bedeutung. Ja, ich sehe mich als public intellectual; als solcher hat es mir nie gereicht, nur in meiner community zu wirken.

vorgänge: Aber ist der Intellektuelle nicht eine Figur des 20. Jahrhunderts, als die ideologischen Schlachtordnungen im Weltbürgerkrieg noch standen und die Geistesarbeiter als Kombattanten noch gebraucht wurden? Hat nicht der Bedarf an Intellektuellen erheblich abgenommen, weil es die großen Ideen nicht mehr gibt?

Dahrendorf: Im Moment schreibe ich in der Tat an einem Buch, das die Intellektuellen in totalitären Zeiten untersucht, die „Erasmus-Intellektuellen”. Mich interessieren diejenigen, die nicht versuchbar waren – und warum sie es nicht waren. Ich arbeite bestimmte Tugenden heraus, bestimmte Verhaltensweisen, die zu dieser „Nicht-Versuchbarkeit” gegenüber totalitären Verführungen geführt haben und die Immunität erzeugt haben. Erasmus ist Pate dieser Intellektuellen, weil er ebenfalls zu seiner Zeit durch extreme Versuchungen hindurchmarschiert ist – durchaus auf eine etwas feige Weise. Das ist aber ein Teil der Intellektuellen, die nicht versuchbar sind, eben auch. Isaiah Berlin hat sich immer für feige gehalten, das war sein großes Problem. Die Figuren, über die ich schreibe, waren eben keine Bonhoeffers, die sich in Todesgefahr begaben und in ihr umkamen. Diese Position interessiert mich; ich fühle mich ihr nahe, gar kein Zweifel.

Hat der Intellektuelle heute diese Rolle ausgespielt? Ich wäre da mit Prognosen sehr vorsichtig. Ich behaupte zwar nicht, dass der Totalitarismus hinter jeder Ecke lauert. Aber der militante Islam ist schon eine ähnliche Gefahr. Deshalb ist die Position des aktiven, öffentlichen, aufgeklärten Intellektuellen keineswegs unaktuell. Wenn man sich dabei so-wohl gegen den Relativismus als auch gegen Anfälligkeit für Versuchungen deutlich abgrenzt, bleibt nach meiner Meinung eine wichtige Funktion für Intellektuelle. Ich will zwar auch nichts überschätzen, aber ich wäre mit vorzeitigen Abgesängen vorsichtig.

vorgänge: Herr Nolte, Sie sind das lebende Beispiel dafür, dass sich auch heute noch kluge Köpfe in öffentliche Angelegenheiten einmischen. Aber haben Sie nicht auch das Gefühl, ein Auslaufmodell zu sein? Denn viele Ihrer Sorte gibt es nicht mehr, im Unter-schied zu den 1950er, 1960er Jahren, als der Intellektuelle Ralf Dahrendorf das Glück hatte, viele Mitstreiter unter Schriftstellern und Wissenschaftlern zu haben.

Nolte: Da taucht es wieder auf, unser schon erwähntes Generationsphänomen. – Ich fühle mich zwar manchmal überlastet, aber einsam denn doch nicht; es gibt schon Mitstreiter. Doch früher waren die Zuordnungen klarer: Es gab den Raum der Universität, in der die Köpfe der Generation Dahrendorf sich konzentriert haben. Heute dagegen sind viele hochbegabte Leute in den Journalismus gegangen. Das sind ebenfalls bedeutende Intellektuelle meiner Generation, nur eben keine  Professoren-Intellektuelle. Auf Ihren Zusammenhang mit dem totalitären Zeitalter wäre ich gar nicht gekommen, weil aus der Erfahrung meiner Generation die großen intellektuellen Vorbilder posttotalitäre Geister waren: Habermas, Dahrendorf, Wehler, Enzensberger und so weiter.

Ich glaube im übrigen nicht, dass mit größerem zeitlichen Abstand zum Weltbürger-krieg die öffentlichen Aufgaben des Intellektuellen geringer werden.

vorgänge: Obwohl der Kampf der Ideen weniger heftig hin und her wogt?

Nolte: Das ist richtig, es gibt kaum noch flaggeschwenkende Lagerintellektuelle. Aber darin sehe ich für die intellektuelle Urteilskraft unserer Generation nur Vorteile.

Dahrendorf Vor Jahrzehnten standen sie sich immer gegenüber und befehdeten sich auf das heftigste: auf der einen Seite Russell und Sartre, auf der anderen Aron und Arendt. Diese Art der Auseinandersetzung gibt es im Augenblick glücklicherweise nicht. Aber sie könnte es irgendwann durchaus wieder einmal geben.

vorgänge: Sie selbst haben den Schritt vom politischen Intellektuellen zum intellektuellen Politiker gewagt: Sie gingen 1969 als Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt in das Kabinett Brandt-Scheel, waren danach EG-Kommissar. Herr Nolte, können Sie sich als Intellektueller solch einen Wechsel in die Politik auch vorstellen?

Nolte: Niklas Luhmann hat in einem Interview mal gesagt, weniger als Intellektueller oder als Professor, vielmehr als Staatsbürger sollte man sich dem nicht entziehen. Wir brauchen in Deutschland noch mehr Seitenwechsler und Quereinsteiger. Die Politik leidet nicht zuletzt unter den Gestalten, die seit ihrem 17, oder 18. Lebensjahr nichts anderes mehr machen als Politik. So entsteht keine Politik, mit der wir weiter kommen können. Wir brauchen einen immerwährenden Elitetransfer: Wenn ein Unternehmer wie Hans-Olaf Henkel auch Präsident der Leibnizgemeinschaft für Forschungsinstitute wird, warum soll nicht ein Historiker oder Soziologe nun nicht gerade ein Unternehmen führen, aber stattdessen eine Zeit lang Politik machen?

vorgänge: Nicht viele Akademiker Ihrer „Generation Reform” hätten Lust auf Politik…

Nolte: Ich finde das aber wichtig. Es ist schon ein sehr merkwürdiges Verhalten, auf das man da stößt; ich würde es das „unpolitische Politische” nennen, oder die Privatisierung des Politischen. Ich gehörte einer sehr stark politisch sozialisierten Generation an, die sich heute immer noch für politisch hält, weil sie die öffentlichen Angelegenheiten aufmerksam verfolgt. Aber die meisten unterliegen der Illusion, mit dieser reflektierten Passivität noch nach außen zu wirken. Man spricht im Grunde auch nicht mehr über Politik, trotz des Interesses. Es gibt einen diffusen Konsens im Milieu, wonach man irgendwie Links-Grün-Mitte positioniert ist. Aber im Grunde ist das Politische fast schon zur belanglosen Zone des Unaussprechlichen geworden; nicht mal im Freundeskreis spricht man mehr darüber. Insofern ist der Politik das Schicksal der Religion zu Teil geworden: das Schicksal der Privatisierung.

Dahrendorf Ich verstehe Politik im angelsächsischen Sinne: Politik heißt, Leute zu über-zeugen von bestimmten Vorstellungen, die man verfolgen will und dann aufgrund der Wahl ein gewisses Recht zu haben, Dinge umzusetzen. Da ist es nebensächlich, ja irrelevant, dass ich Parlamentarischer Staatssekretär wurde. Relevant ist, dass ich 1968/69 praktisch zwei Jahre Wahlkampf in der ganzen Bundesrepublik gemacht habe. Und zwar mit einem einzigen Ziel: die Menschen davon zu überzeugen, dass im Interesse der deutschen Demokratie ein Regierungswechsel ohne Gewalt unentbehrlich ist. Für mich ist Politik nicht ein Amt haben, sondern für Ideen werben und sich zur Wahl stellen.

vorgänge: Würden Sie Herrn Nolte aufgrund Ihrer persönlichen Erfahrungen überhaupt raten können, als Intellektueller in die Politik zu wechseln?

Dahrendorf: Politik ist keine Anwendung von Wissenschaft, sondern es ist eine eigene, andere Welt. Es ist zudem nicht sonderlich nützlich für die wissenschaftliche Karriere. Henry Kissinger war zwei Jahre lang Sicherheitsberater und wurde dann von der Universität vor die Wahl gestellt, entweder nach Harvard zurückzukehren oder ganz zu gehen. Das war gar keine schwere Entscheidung für ihn: Er hat sich von der Wissenschaft verabschiedet. Man muss schon irgendwann auf Zeit darüber entscheiden, ob man in eine andere Lebenssphäre mit anderen Zeithorizonten, mit einer anderen Lebensführung eintreten will.

Die Bilanz einer deutschen Intel­lek­tu­el­len­ge­ne­ra­tion

vorgänge: Zum Schluss schauen wir vielleicht nochmals auf die Bilanz Ihrer Generation, Lord Dahrendorf. Diese hat die bürgerliche Gesellschaft des Westens hierzulande erst verankert und war damit eminent erfolgreich. Ist diese klassische Rückschau-Perspektive zu harmonisch? Denn Konflikte unter Ihresgleichen gab es ja damals auch.

Dahrendorf: Wenn man älter wird, wird man auch gnädiger. Da fallen dann die Unterschiede, die heftigen Auseinandersetzungen nicht mehr so ins Gewicht. Das wirklich ungeheuer Aufregende, das dürfen Sie nicht vergessen, das war in den 1950er Jahren die Entdeckung der Wirklichkeit. Das galt für alle Denkströmungen – aber insbesondere für die Soziologie. Ob man sie wie ich bei den Industriesoziologen entdeckte, ob bei Rene König in Köln, ob im Umkreis von Helmut Schelsky in Hamburg…

vorgänge: … den Sie wegen seiner These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft” damals heftig attackiert haben…
Dahrendorf Schelsky war, was man sonst auch über ihn sagen mag, ein sehr großzügiger Mann, der viele um sich scharte und dabei half, dass ich meinen ersten Lehrstuhl in Hamburg bekam. Es gab viele hochinteressante Figuren, von denen leider nicht mehr viele übrig sind. Die Konflikte waren schon damals nur bedingt relevant. Im Nachhinein sehe ich sie mit großer Gelassenheit, mit größerer Gelassenheit übrigens als manche andere.

Nolte: Es müssen aufregende Zeiten gewesen sein, in denen Sie bemerkenswert jung Karriere machten und mit 28 Jahren bereits Ihren ersten Lehrstuhl bekamen. Heute kann es einem passieren, dass man noch mit 40 als ein Jungstar gehandelt wird. Die zwanzig Jahre alte Habermas-Formel von der „neuen Unübersichtlichkeit” gilt im Grunde immer noch. Die ideologischen Lager gibt es glücklicherweise nicht mehr in alter Form — andererseits fehlt das den Nachwachsenden, weil es dann nichts gibt, wovon sie sich intellektuell emanzipieren könnten. Viele Stichworte Ihrer Generation sollten wieder auf die Agenda: „Entdeckung der Wirklichkeit”, Realitätssinn, „Pfade aus Utopia”, das Ende von bestimmten Träumereien und Romantizismen — all dies sollten die Jüngeren von Ihrer Generation immer noch ganz konkret lernen.

vorgänge: Der Soziologe Ralf Dahrendorf wurde für Sie zum Forschungsobjekt. Daher die Frage: Ist die dominante Erfolgsgeschichte dieser Generation Dahrendorf eine Last für die Nachgeborenen?

Nolte: Nein, als Last empfinde ich das nicht. Ich hatte doch das Glück, noch direkt und persönlich von dieser Generation zu profitieren. Als studentische Hilfskraft bei Hans-Ulrich Wehler konnte ich zum Beispiel miterleben, wie der Historikerstreit – also eine der großen intellektuellen Schlachten dieser Generation – buchstäblich verfertigt wurde: „Kopieren Sie mal diesen Aufsatz”, „Besorgen Sie mir mal die Rezension von Ernst Nolte, von Andreas Hillgruber” etc. Das war sehr spannend. Insofern ist das auch – pathetisch formuliert – ein Auftrag, das Erbe dieser Generation am Leben zu halten.

vorgänge: Auch wenn Sie der Generationsdeutung skeptisch gegenüberstehen: Gibt es dennoch für Sie ein fortzuführendes Erbe Ihrer deutschen Intellektuellengeneration? Dahrendorf: Es ging uns allen um die Entdeckung der Wirklichkeit nach einer ideologischen Zeit. Das war sicher eine Erfolgsgeschichte. Vielleicht ist das die wichtigste Leistung unserer Generation, wenn Sie so wollen: die Etablierung des Wirklichkeitssinns hierzulande.

Das Gespräch führte Alexander Cammann am 12. Mai 2005 im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

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