Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 170: Rückkehr der Bürgerlichkeit

Parti­ku­lar­dif­fe­renz statt Bundess­taat?

Das Bundesverfassungsgericht marschiert im Eiltempo in eine andere Republik

aus: Vorgänge Nr.170 ( Heft 2/2005 ), S.117-127

Noch immer stimmen viele Ministerpräsidenten, ihnen nahestehende Wissenschaftler und Institute lauthals das Klagelied von der Krise des 

Föderalismus an. Noch immer arbeiten große und kleine Kommissionen auf unterschiedlichen Ebenen an Papieren, Stellungnahmen und Empfehlungen, wie die Balance zwischen Bund und Ländern neu auszutarieren wäre. Seit der deutschen Vereinigung durchläuft die Debatte über das Verhältnis von Bund und den nunmehr 16 Ländern immer neue Höhen und Tiefen. So ist mal von der Fundamentalreform die Rede, mal von der „Degeneration des deutschen Föderalismus” (so die grüne Fraktionschefin Krista Sager im Bundestag) oder von der Reföderalisierung (vgl. Niess 2004). Nur unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist vergleichbar intensiv über den Föderalismus geschrieben und gestritten worden. Doch seltsam einmütig enden nahezu alle Beiträge mit einem resignativen Seufzer: Es wird viel überlegt und verhandelt, aber kaum etwas realisiert.

Die aufgeregten Debatten in den politischen Parteien, unter den interessierten Wissenschaftlern und den Medien blenden dabei jedoch einen entscheidenden Punkt bisher aus: Die Weichen im deutschen Föderalismus sind längst neu gestellt. Der Streit über den „unitarischen Bundesstaat” (Konrad Hesse 1962), der im Namen der Gleichheit der Lebensverhältnisse und Gerechtigkeit für alle Bürgerinnen und Bürger immer mehr Funktionen und Aufgaben an sich gezogen habe, oder über den kooperativen Föderalismus, der seit der verstärkten Bundes-Rahmengesetzgebung in den 1970er Jahren für die Lähmung und die Undurchschaubarkeit staatlichen Handelns verantwortlich gemacht wird, ist bereits entschieden. Auf der Grundlage einer Verfassungsreform aus dem Jahr 1994, die als die „kleine” und damit noch nicht „wirkliche” gilt, konstruiert der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts unter dem Vizepräsidenten Winfried Hassemer den deutschen Föderalismus neu. Zehn Jahre nach dieser Korrektur des Grundgesetzes wird durch drei Urteile aus Karlsruhe deutlich, dass die Mehrheit der Richterinnen und Richter eine neue föderale Verfassungssystematik Schritt für Schritt aufbaut und durchsetzt.

Eine Kurskor­rektur in drei Urteilen des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts

In drei Urteilen zur Berufsbildungs- und Hochschulpolitik des Bundes, verkündet in knapper Folge (2002, 2004 und 2005), räumte der Senat alle bisherigen Auslegungen vom Tisch, inklusive der eigenen Rechtsprechung. Den Auftakt bildete das Altenpflegegesetz, in dem der Bundesgesetzgeber im Jahr 2000 die bis dahin höchst uneinheitliche Ausbildung zu den Berufen in der Altenpflege erstmals bundeseinheitlich geregelt hatte. Der Beruf sollte angesichts der demografischen Entwicklung und des Fachkräftemangels modernisiert und attraktiver werden (vgl. Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000). Anders als im traditionellen deutschen System der Berufsbildung (Betrieb und Berufsschule), in der Berufsbilder und Ausbildungsordnungen vom Wirtschaftsminister gesetzlich geregelt werden, findet die Ausbildung für die Gesundheits-, Pflege- und Heilberufe betrieblich in Krankenhäusern, aber vor allen in (privaten wie öffentlichen) Schulen statt, die der Kulturhoheit der Länder unterstehen. Die bayerische Staatsregierung bestritt daher in dem Verfahren, dass der Bund überhaupt eine Kompetenz habe, das Berufsbild neu zu gestalten und den Ausbildungsweg bis zur Berufszulassung vorzuschreiben.

Anders als in den folgenden beiden Urteilen zur akademischen Ausbildung und ihrer „partikular differenzierten” Regelung durch die 16 Länder gingen die acht Richterinnen und Richter in diesem ersten Fall erstaunlich knapp mit der nichtakademischen Ausbildung um. Die „Doppelzuständigkeit” von konkurrierender Gesetzgebung und ausschließlicher Länderkompetenz leugnete der Senat in seiner einstimmigen Entscheidung nicht. Im Gegenteil: Weil sie vorhanden ist, muss das Verfassungsgericht entscheiden (BVerfG, 2 BvF 1/01 v. 24.10.2002: 205).

Ihre Begeisterung über den modernen, ganzheitlichen Ansatz des neuen Berufsbildes verhehlten die Richter nicht. Er trage zu einer „Flexibilisierung” und einer „Aufwertung des Berufs” bei, urteilten sie ganz im Zeichen der Zeit. Und übertrugen dann knapp und kurz dem Bund die Zuständigkeit: „Bei der Verfolgung eines solchen ,ganzheitlichen` Ansatzes ist der Gesetzgeber hinsichtlich der Festlegung des Berufsbildes Altenpflege nicht starr an bestehende, traditionelle Vorprägungen gebunden; er ist vielmehr befugt, zur Durchsetzung wichtiger Gemeinschaftsinteressen die Ausrichtung des überkommenen Berufsbildes zeitgerecht zu verändern.” (ebd.: 210) Zu den „wichtigen Gemeinschaftsinteressen” jedoch zählten die Richterinnen und Richter nicht das Grundrecht auf freien und gleichen Zugang zu Ausbildungsstätten (Art. 12) für alle jungen Frauen und Männer, sondern allgemeine „arbeitsmarktpolitische Belange” und „die Wahrung der Wirtschaftseinheit” (ebd.: 216, 286).

Damit folgte der Zweite Senat weiterhin seiner Rechtsprechung, die seit jeher deutlich zwischen der akademischen Bildung und der nichtakademischen Berufsausbildung getrennt hat. Bereits 1980 entschieden die Richter im berühmten Urteil zur damals gesetzlich verankerten Berufsausbildungsabgabe, dass die Ausbildung der Lehrlinge und der „Fragenkreis der praktischen beruflichen Ausbildung” traditionell und strukturell „von den in der Wirtschaft tätigen Arbeitgebern wahrzunehmen ist” (BVerfG, 2 BvF3/77 v.10.12.1980: 309). Über zwanzig Jahre später hatte sich das Blickfeld der Richter nicht erweitert. Nach wie vor gilt, dass die Ausbildung außerhalb der Hochschulen und Universitäten nichts mit Bildung oder Chancengleichheit bei der Berufswahl, sondern ausschließlich etwas mit Arbeitsmarkt und Wirtschaftseinheit zu tun hat.

Aber im Grunde interessierte den Senat diese Frage auch nicht. Ihm bot das Altenpflegegesetz die Plattform, die „kleine Verfassungsreform” und den Artikel 72 Abs. 2 in seinem Sinne zu interpretieren und die neue Richtung der Rechtsprechung zu begründen.

Die acht Frauen und Männer des Senats wischten die bisherigen wissenschaftlichen Auslegungen der Verfassungsreform, die einschneidende Gewichtsverschiebungen (noch) nicht einräumen wollten, kurzerhand vom Tisch: Diese Auslegungen stünden „in klarem Widerspruch zum gesetzgeberischen Willen” (BVerfG, 2 BvF 1/01 v. 24.10. 2002: 311). Der Rest dieses Urteils beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit diesem gesetzgeberischen Willen und seiner Auslegung durch den Senat. Die Formulierungen, auf die sich die Richter geeinigt haben, tauchen in den folgenden Urteilen immer wieder auf. Sie bestätigen vor allem die Rolle, die sich der Zweite Senat im Föderalismus selbst zuweist: Er entscheidet nicht nur über die Handlungsspielräume des Bundesgesetzgebers, sondern darüber, ob Chancengleichheit im bundesstaatlichen Sozialgefüge noch als eine verfassungsrechtliche Verpflichtung eingestuft werden kann.

Nicht sonderlich bescheiden leitet der Senat seine eigene Aufgabe aus der Grundgesetzänderung ab. Deren Ziel sei es, die Position der Länder zu stärken und eine „effektive verfassungsgerichtliche Überprüfung sicher(zu)stellen”. Auch die Tendenz der Überprüfung ist für die Richterinnen und Richter eindeutig: „In der Grundgesetzänderung kann eine klare Anweisung des verfassungsändernden Gesetzgebers an das Bundesverfassungsgericht gesehen werden, seine bisherige, als korrekturbedürftig bewertete Rechtsprechung zu ändern.” (ebd.: 292) Sie sind auserkoren, den Kompetenzverlust der Länder, vor allem der Länderparlamente, seit den 1970er Jahren nicht nur aufzuhalten, sondern rückgängig zu machen. Sie sehen sich in dieser Linie bestätigt, da der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss vergeblich beschwor, die Zuständigkeiten des Bundes nicht einzuschränken und die des Bundesverfassungsgerichts nicht zu erweitern. Kohl sah in der Neufassung „erhebliche Gefahren für die Handlungsfähigkeit des Gesamtstaates und die Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland” (ebd.: 305). Doch da er die Zustimmung der Länder zu den europäischen Verträgen brauchte, steckte er in der letzten Abstimmung zurück. Aus dem jetzt gültigen Text, der ein Handeln des Bundesgesetzgebers an die Erforderlichkeit knüpfte, lasen die Karlsruher Richter eine bewusste „Distanz zur früheren Rechtsprechung”. Und dies gelte in doppelter Hinsicht, so zunächst für die Ersetzung der einheitlichen Lebensverhältnisse durch die gleichwertigen. Dieser Begriff entspräche mehr dem föderalistischen Gedanken als die „Idee der ,nivellierenden Vereinheitlichung” (ebd.: 318). Den leichthändigen Abschied von den Idealen der Französischen Revolution („Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“) kommentieren die Richterinnen und Richter mit Wohlwollen. „Der nunmehr gewählte Begriff nimmt das Niveau der kompetentiell legitimierten Vereinheitlichung vielmehr deutlich zurück.“ Der Bundesgesetzgeber könne auch nicht mit der Notwendigkeit argumentieren, die Lebensverhältnisse seiner Bürgerinnen und Bürger zu verbessern. Nur ihre Bedrohung lässt der Senat noch gelten. „Dem Bundesgesetzgeber obliegt es, das für die Einschätzung dieser Lagen fundierte Tatsachenmaterial sorgfältig zu ermitteln. Erst wenn das Material fundierte Einschätzungen der gegenwärtigen Situation und der künftigen Entwicklung zulässt, darf der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch machen” (ebd.: 322). Unterschiedliche Lebensverhältnisse und in weit gefassten Grenzen Rechtszersplitterung seien mit der Änderung des Grundgesetzes gewollt, urteilen die Richter.

Nur beim Wirtschaftsstandort Deutschland wiegen sie bedenklich ihre Häupter und denken nicht daran, die föderale Verfassungssystematik zu korrigieren. Im Bereich der Ökonomie eröffnen sie den Ländern keine eigenständigen Kompetenzräume für „partikulardifferenzierte” Regelungen. Im Gegenteil: „Unterschiedliche Ausbildungs- und Zulassungsvoraussetzungen können aber im deutschen Wirtschaftsgebiet störende Grenzen aufrichten, sie können eine Ballung oder Ausdünnung des Nachwuchses in bestimmten Regionen bewirken, sie können das Niveau der Ausbildung beeinträchtigen und damit erhebliche Nachteile für die Chancen des Nachwuchses sowie für die Berufssituation im Gesamtstaat begründen.” (ebd.: 330)

Diese Sätze der acht Richterinnen und Richter zum Wirtschaftsstandort Deutschland und der Neuordnung der Ausbildung zum Altenpfleger sollte man dick anstreichen. Die Verfassungshüter stimmen der Modernisierung und Attraktivität, der Chancenerweiterung und dem Kompetenzzuwachs für diesen nichtakademischen Beruf mit deutlichem Wohlwollen für bundesstaatliches Handeln zu. Zwei Jahre später werden sie bei ihrem Urteil vom 27. Juli zum 5. Änderungsgesetz des Hochschulrahmengesetzes, in dem mit dem Juniorprofessor der Berufsweg des Hochschullehrers durch den Bundesgesetzgeber neu geordnet wurde, dieses Wohlwollen in einem mit Mehrheit gefällten Urteil zurücknehmen. Für den Hochschullehrerberuf, dessen Professionalität für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort mindestens so wichtig ist wie der des Altenpflegers, legen die akademisch ausgebildeten Juristinnen und Juristen andere Maßstäbe an Tradition und Althergebrachtes an. Die Verfassungsreform ermöglicht den Richtern des Zweiten Senats ein Urteil in eigener Sache und zum eigenen Stand, denn in der Mehrheit kommen sie aus dem Beruf des Hochschullehrers.

Verfas­sungs­rich­ter­li­cher Radika­lis­mus: Junio­r­pro­fes­suren und Studien­ge­büh­ren­-­Ur­teile

Der Vorwurf ist durch einen genauen Blick in das Urteil zu belegen.

Die Richter kommen schnell zum Wesentlichen, der Verfassungsreform von 1994: „Hierdurch sollten die bisherige allzu großzügige Verfassungspraxis eingedämmt und der kooperative Charakter der Rahmengesetzgebungskompetenz wieder stärker betont werden” (BVerfG 2 BvF 2/02: 90). Da es ihnen wichtig ist, die Linie aus dem Altenpflege-Urteil fortzuführen und festzuzurren, fällt die Wiederholung des Leitsatzes noch knapper, noch zugespitzter aus: „Das Erfordernis der ,Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse‘ ist nicht schon dann erfüllt, wenn es lediglich um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen oder um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse geht.” (ebd.: 98) Kurz und schneidig räumt das Gericht auch mit der Rechtseinheit auf. Unterschiedliche Rechtslagen seien die „notwendige Folge des bundesstaatlichen Aufbaus”. Bei der Rechtfertigung für ein Bundesgesetz stehe dem Gesetzgeber „eine Einschätzungsprärogative zu”, die jedoch „verfassungsgerichtlich auf seine methodischen Grundlagen und seine Schlüssigkeit hin überprüft werden (kann).” (ebd.: 102) Und schlüssig sei es nach der Verfassungsreform nicht (mehr), dass der Bund den Beruf des Hochschullehrers neu gestaltet und darin die Habilitation abschafft. Denn seit 1994 müssten die Länder die Möglichkeit der konzeptionellen Gestaltung „behalten oder wiedererlangen” (ebd.: 108). Das ist ein deutlicher Fingerzeig, mit dem die Richter bewusst den Ländern Aufgaben zuweisen und gleichzeitig weite Spielräume öffnen wollen. Erforderlich sei ein Bundesgesetz nur dann, „wenn gerade durch unterschiedliches Recht in den Ländern eine Gefahrenlage entsteht. Das wäre etwa der Fall, wenn die Lebensverhältnisse sich zwischen Ländern in einer unerträglichen Weise auseinander entwickeln oder ein beruflicher Wechsel von einem Land der Bundesrepublik Deutschland in ein anderes erheblich erschwert oder gar praktisch ausgeschlossen wäre.” Es versteht sich, dass sich die Richter selbst vorbehalten, über die „unerträgliche Weise” des Auseinanderentwickelns zu entscheiden. Unterschiedliche Wege zum Beruf des Hochschullehrers zählen sie mit Sicherheit nicht dazu. Einschränkung der persönlichen Mobilität oder Wettbewerbsnachteile für den Hochschulstandort werden als irrelevant betrachtet. Im Vergleich zu den Begründungen beim Altenpfleger liest sich die Begründung für Vielfalt und Uneinheitlichkeit beim Professorenberuf verblüffend schlicht. Die Senatsmitglieder schließen sich ihren akademischen Sachverständigen an, die unterstrichen hätten: „Konkurrenz und Reaktionsfähigkeit auf schnelle Entwicklungen im Wissenschaftsbereich erforderten vielmehr Offenheit unterschiedlicher Qualifikationswege.” (ebd.: 134)

Die Rahmengesetzgebung des Bundes begrenzen sie auf die „Vorgabe eines Leitbildes für das deutsche Hochschulwesen” (ebd.: 148) oder „Konzepte und Anreize” (ebd.: 152).

Zwei Richterinnen und einem Richter geht diese rigorose Beschneidung des Bundesgesetzgeber dann doch entschieden zu weit. In einem bemerkenswerten Minderheitsvotum kritisieren Lerke Osterloh, Gertrude Lübbe-Wolff und Michael Gerhardt die enge Auslegung der Senatsmehrheit, „die dem Bund praktisch jede Möglichkeit zu neu-er politischer Gestaltung […] verschließt” (ebd.: 155). Sie bleiben in ihrem Votum beim Tenor des Altenpflege-Urteils. Im Falle der Juniorprofessur gehe es schließlich auch um die Kernfrage, ob es erforderlich sei, die Zugangsvoraussetzungen zum Amt des Professors bundeseinheitlich zu regeln. Die Minderheit bejaht diese Kernfrage, weil es zur Wahrung der Wirtschaftseinheit erforderlich sei, gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Berufen zu schaffen. Dies gelte auch für die akademischen Berufe, schließlich seien die Hochschulen „Orte der Ausbildung” und „Träger wirtschaftsrelevanter Forschung”. Mit ihrer Ablehnung verschiebe die Senatsmehrheit „den Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrolle“ und „lässt politische Präferenzen einfließen” (ebd.: 165). Deutlicher lässt sich die Kritik an diesem Urteil, in dem Standespräferenzen zu Gunsten der Habilitation mit der Neujustierung des Bundesstaates verknüpft werden, kaum noch formulieren.

Ein halbes Jahr später sind die kritischen Anmerkungen der Minderheit verschwunden. Fest geschlossen sind die Reihen des Zweiten Senats in den Urteilen zur Gebührenfreiheit und zur studentischen Selbstverwaltung. Die Urteile fallen immer kürzer aus. Sie sind fast unwirsch und ungeduldig formuliert, nach dem Motto: Der Bund solle endlich begreifen, dass er sich herauszuhalten habe. „Dem Bund ist gegenwärtig verwehrt, die Länder auf den Grundsatz der Gebührenfreiheit des Studiums und zur Bildung verfasster Studierendenschaften zu verpflichten.” (BVerfG, 2 BvF 1/03 v. 26.1.2005, Leitsatz) Auch bei den Begründungen geben sich die Richter immer weniger Mühe, ihre Argumentation nachprüfbar zu machen. So kommen sie zu dem kühnen Schluss: Es gäbe keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass Studiengebühren zu unvereinbaren Benachteiligungen führen könnten und damit der Grundsatz der gleichwertigen Lebensverhältnisse verletzt sei. Mit ebenso leichter Hand urteilen die Richter: Geld spiele bei der Entscheidung für ein Studium keine Rolle. „Soweit finanzielle Erwägungen […] überhaupt eine Rolle spielen, ist zu beachten, dass die Studiengebühren in der bislang diskutierten Größenordnung von 500 Euro je Semester im Vergleich zu den […] Lebenshaltungskosten von nachrangiger Bedeutung sind.” (ebd.: 72)

Koste was es wolle – dieser Senat des Bundesverfassungsgerichts will Studiengebühren. Aber nicht nur das: Er schiebt den Ländern die ausschließliche Zuständigkeit für das sozialstaatliche Gefüge der Bundesrepublik und die Wahrung gleicher Bildungschancen zu. Es sei davon auszugehen, dass die Länder bei einer Einführung von Studiengebühren „den Belangen einkommensschwacher Bevölkerungskreise angemessen Rechnung tragen werden” (ebd.). Woher die Richter diesen Optimismus nehmen, wird nicht belegt. Keinen einzigen Gedanken verschwenden sie offenbar daran, dass der Föderalismus mitnichten zu gleichen Bildungschancen geführt hat. Mit keinem Wort, mit keinem Minderheitsvotum gehen sie auf die lange Liste der nationalen und internationalen Untersuchungen zur sozialen Selektion des deutschen Schul- und Hochschulsystems ein. Diese Befunde erschüttern die Richter nicht. Aus ihrer Sicht bewegen sie sich vielmehr im Rahmen der „Bandbreite unterschiedlicher Lebensverhältnisse”.

Deutlich ermuntern sie die Länder zu „partikular-differenzierten Regelungen”. Zugangsbarrieren oder sonstige störende Grenzen, die die Richter bei der beruflichen Bildung noch abgebaut wissen wollten, zählen beim Zugang zum Studium nicht mehr. Negative politische wie ökonomische Effekte habe schließlich der Bund „nicht ausreichend wahrscheinlich gemacht.” (ebd.: 81)

Die Richter selbst schlagen sich eindeutig auf die Seite der Gebührenbefürworter. Gebühren böten die Möglichkeit, Qualität und „wertbewusste Inanspruchnahme” der Ausbildungsleistungen (ebd.: 82) zu verfolgen. Durch solche Sätze schimmert eine unverhohlene professorale Arroganz gegenüber den Studentinnen und Studenten. Mit diesem wertenden Urteil, das einstimmig erfolgte, verlässt der Zweite Senat die verfassungsrichterliche Distanz und nimmt in einer hochpolitischen Auseinandersetzung Partei. Auch in diesem Urteil vermischt somit der Senat akademische Standesinteressen und Standes(vor)urteile mit der neuen Linie zum Föderalismus, in der Partikularität und Differenz, Ungleichheit und Unterschiedlichkeit zu bundesstaatlichen Prinzipien erhoben werden.

Verfas­sungs­richter beim „Schwert­streich der Verein­fa­chung”

Diese explosive Mischung führt zu der Frage, was die acht Richterinnen und Richter eigentlich antreibt, sich so forciert in die Politik einzumischen und den Ländern einen derartigen Machtzuwachs nicht nur zuzugestehen, sondern vielmehr aktiv zuzuweisen.
In den Urteilen selbst finden sich, wie zu sehen war, erste Hinweise. Den bemerkenswertesten Einblick in das Selbstverständnis dieses Senats gewährte jedoch Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio: In seinem Referat auf dem 65. Deutschen Juristentag am 23. September 2004 in Bonn zeichnete er „Wege zu besserer Gesetzgebung”. Aus seinem Widerwillen gegen die vielen „Blitzgesetze” aus Berlin machte der Verfassungsrichter kein Hehl. Das beste Gesetz sei dasjenige, das nicht erlassen werde. Und er wird gegenüber der amtierenden Bundesregierung noch deutlicher. „Ungleichheiten und Differenzen, die das gesellschaftliche Leben hervorbringt, sind das Ergebnis der Freiheit, sie dürfen deshalb nur punktuell und maßvoll korrigiert werden,” befindet di Fabio und fährt fort: „Die Politik sollte aufhören, politische Moden, moralisierende Aufmerksamkeiten und gesellschaftspolitisch umstrittene Positionen mit Gesetzen zum Sieg zu verhelfen.“[4] Die Rolle, in der er sich selbst (und damit auch seinen Senat) sieht, ist eine kampfesfreudige. „Die Hydra der Komplexität ruft nach dem Schwertstreich der Vereinfachung,” meint der oberste Hüter der Verfassung martialisch. Auch die Richtung seines Kampfes kennt er: „Wir müssen uns in der politischen Leitvorstellung also wie-der stärker als Gemeinschaft im Wettkampf definieren, alte Stärken wiederentdecken und darauf Gesetzesvorhaben ausrichten.” Auf, auf zum Kampf bläst dieser neue Ritter Roland:. „Der völkerrechtlich offene und europäisch integrierte deutsche Föderalstaat braucht eine neue politische Konzeption für die Gesetzgebung.” Gegen wen sich eine neue Konzeption zu wenden habe, ist für den Verfassungsrichter auch klar: „gegen den zentralistischen paneuropäischen Superstaat”. Eine bessere Gesetzgebung erfordere es deshalb, „periodisch ein klärendes Gegengewicht zu setzen: und zwar gegen die zentralisierende und unitarisierende Ebene, das war früher und ist mitunter auch heute noch der Bund, aber immer deutlicher auch der europäische Gesetzgeber.” Womit auch der künftige, selbst erteilte Auftrag dieses Senats bereits umschrieben wäre. Er versucht aktiv über die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit diese klärenden Gegengewichte zu schaffen, insbesondere durch die Stärkung der nationalen Parlamente vor allem auf der Länderebene. Deutlich räumt der Senat diesem Auftrag Vorrang ein, wie das ungewöhnlich schnell abgewickelte Verfahren zum Europäischen Haftbefehl und dem Fall des Deutsch-Syrers Mamoun Darkazanli zeigt, der gegen seine Auslieferung an Spanien Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte (Aktenzeichen 2BvR 2236/04). Berichterstatter war in diesem Fall Udo di Fabio und in den zweitägigen mündlichen Verhandlungen Mitte April ließ er in seinen Fragen keinen Zweifel an seinen Vorbehalten, Schutzrechte des einzelnen deutschen Bürgers an die EU abzutreten, also auch Auslieferungen innerhalb der Europäischen Union zuzulassen (Süddeutsche Zeitung vom 15. April 2005). Auch Richter Hassemer warf in der Verhandlung die Frage auf, ob mit dem Haftbefehl „zu viel nach Europa transferiert” wurde (Frankfurter Rundschau vom 16. April 2005). Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass dieser Zweite Senat des Verfassungsgerichts entschlossen ist, alle Möglichkeiten zu nutzen, nicht nur den deutschen Föderalstaat neu zu positionieren, sondern auch dessen Verhältnis zur Europäischen Union. Und er forciert vor allem, um vor einem möglichen Inkrafttreten einer EU-Verfassung Fakten zu schaffen.

Die Entmachtung des Bundes als Gefahr für die Demokratie

Die neue föderale Vielfalt, die der Zweite Senat in drei Urteilen kurz hintereinander einforderte, beendet ein verfassungsgeschichtliches Kapitel, in dem Chancengleichheit, einheitliche Lebensverhältnisse und bundeseinheitlicher Sozialstaat zum unbestrittenen Verfassungsauftrag des gesamtstaatlichen Handelns zählten. Die politischen Folgewirkungen dieser Kurskorrektur durch das Bundesverfassungsgericht sind bisher nicht einmal ansatzweise erkannt worden – allenfalls in der bayerischen Staatskanzlei, die in allen drei Verfahren die Federführung hatte.

Der Bundesgesetzgeber ist in seinen Kompetenzen zurückgeworfen auf Fragen der Sicherheit und der Wirtschaftseinheit. Der politische Gestaltungsspielraum ist um die gleichwertigen wie die verbesserten Lebensverhältnisse beschnitten. Was das für die Kinder-, Jugend- und Familienpolitik künftig bedeutet, ist nicht absehbar. Es sei denn, der Bundesgesetzgeber schafft es, jedes Gesetz der konkurrierenden Gesetzgebung so zu verbiegen, dass demnach stets der Wirtschaftsstandort Deutschland bedroht sei, sollte dieses oder jenes Gesetz nicht in Kraft treten. Das wäre eine absurde Entwicklung.

Doch auch die Vorstellung der Richter von den Bundesländern und deren Kompetenzen zielt an der heutigen Wirklichkeit vorbei. Sie weisen den 16 Ländern die Aufgabe zu, über das bundesstaatliche Sozialgefüge künftig zu wachen. Nach der neuen Verfassungssystematik des Zweiten Senats fällt es ihnen zu, über den sozialen und kulturellen Zusammenhalt dieser Gesellschaft zu entscheiden. Sie müssen die Werte Vielfalt und Differenz, Unterschied und Ungleichheit politisch so ausgestalten, dass sie mit den Grundrechten, die jeder einzelne Bürger und jede einzelne Bürgerin hat, vereinbar sind. Allein die praktische Bildungspolitik in fast allen Ländern führt zur Verletzung von Chancengleichheit und zu immer feiner ausgestalteter Selektion. Die soziale Herkunft entscheidet in den Ländern über Bildungs- und damit nach wie vor über Lebenschancen. Damit wachen die Länder nicht über das bundesstaatliche Sozialgefüge, sondern sichern Privilegien und Status der oberen Dienstklassen aus Politik, Wirtschaft, Beamtenapparat und Wissenschaft. Künftig können sich die Landesparlamentarier sogar auf die Verfassungsrichter berufen, wenn sie partikulare und differenzierte Interessen weiter gesetzlich ausfächern. Denn die Richter und Richterinnen haben mit keinem Satz erwähnt,dass ihre neue Wortschöpfung von den partikulardifferenzierten Regelungen auch in Sinne von mehr Teilhabe und Emanzipation, von einer positiven Förderung des Anders artigen oder der benachteiligten Minderheit verstanden werden könnte. Sie haben nun Machtbalancen und gesetzgeberische Institutionen im Blick, nicht die Entwicklung de Demokratie. In diese Richtung aber ließe sich die neue Verfassungssystematik auch wenden. Im öffentlichen politischen Diskurs müsste nicht mehr die Frage „Was hält die Gesellschaft zusammen?” im Mittelpunkt stehen: Sondern wichtiger wäre die Frage Wer hält sie zusammen?

Wie dringend eine Antwort hierauf ist, zeigen jüngste Untersuchungen zur Zufriedenheit der Deutschen mit der Demokratie. Nur noch 28 Prozent der Ostdeutschen und 56 Prozent der Westdeutschen sind zufrieden damit, wie unsere Demokratie funktioniert. Das Vertrauen in das demokratische System ist in den letzten beiden Jahren um 1′ Prozentpunkte schlagartig abgesackt: gegen den Trend in den übrigen europäischen Ländern und quer durch alle Bevölkerungsgruppen (vgl. Böckler Impuls 03/2005 Scheuer 2005). Hier bahnt sich eine völlig andere Bedrohung des bundesstaatlichen Sozialgefüges an, die in dem gegenwärtigen Machtpoker zwischen der EU, dem Bund und den Ländern noch niemand zu sehen gewillt ist. Auch die Hüter der Verfassung in Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts bleiben auf diesem Auge blind.

[1] Erhard Denninger verwies schon 1994 darauf, dass aus der „neuen Lust an der Vielfalt” oder den „gleichen Recht auf Ungleichheit” auch Gefahren für das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes entstehen könnten (Denninger 1994: 38).
[2 Den Hinweis verdankt die Verf. Erhard Denninger.
[3 Hier ist auch der bemerkenswerte Hinweis enthalten, dass der Gedanke von Hans-Jochen Voge (SPD) eingebracht worden sei.
[4] Der Redetext liegt der Verf. vor. In einem kommentierenden Bericht Revolution auf dem Juristen tag verweist Heribert Prantl als einziger Journalist auf dieses Referat (Süddeutsche Zeitung v 25.126. September 2004).

Literatur

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2000: Beschlussempfehlung und Bericht des fe derftihrenden Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestag; vom 3. Juli 2000, BT-Drucks. 14/3736
Denninger, Erhard 1994: Menschenrechte und Grundgesetz, Weinheim
Leibholz, GerhardJRinckh, Hans-Justus 1968: Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Korn mentar, 3. Aufl., Köln
Niess, Frank 2004: Kooperations- vs. Konkurrenz-Föderalismus; in: Blätter für deutsche und internationale Politik H,11, S.1353-1363 Scheuer, Angelika 2005: Demokratiezufriedenheit in Deutschland sinkt unter EU-Niveau; in: Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI) 33, H. 1
Verfassungskommission 1993: Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drucks 12/6000 vom 5.11.1993

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