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Die Grünen als neue Partei des Bürgertums

Geschichte – Milieu – Wähler – Mitgliedschaft

aus: vorgänge Nr.170, ( Heft 2/2005 ), S. 61-70

Die Trägerschichten des klassischen Bürgertums haben sich in den letzten Jahrzehnten entscheidend gewandelt: Die antibürgerliche Kritik der 1960er und 1970er Jahre, die Bildungsrevolution und in deren Gefolge die Aufsteiger aus den proletarischen Schichten, der Zerfall der politischen Klassenlogik in der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft zugunsten politischer Generationen seit den 1960er Jahren, aber auch die Vertreibung, Marginalisierung oder Nivellierung des Bürgertums in der DDR sorgten für ein verändertes Bürgertum in nicht nur quantitativer, sondern auch qualitativer Hinsicht. Doch wo liegt nunmehr die politische Heimat dieses neuen Bürgertums? Sind die Grünen dabei, die Nachfolge der traditionellen Bürgerparteien CDU und FDP anzutreten? Mit einer Analyse der grünen Mitglieder- und Wählerstrukturen sowie des Politikangebots im Hinblick auf dessen Zielgruppenausrichtung soll eine erste Verortung bürgerlicher Schichten im aktuellen bundesdeutschen Parteiensystem vorgenommen werden. Werfen wir zuvor jedoch einen Blick auf dieses neue Bürgertum – in Abgrenzung zum alten Bürgertum – und seinen Entstehungsprozess in der Bundesrepublik.

Altes und neues Bürgertum

Der Begriff des Bürgertums hat sich seit Jahrhunderten vielfach gewandelt. Nach den Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts in Europa wurde mit ihm nicht länger eine mit politischen Rechten und Pflichten ausgestattete Gruppe innerhalb eines territorial abgegrenzten Gemeinwesens bezeichnet. Vielmehr konstituierte sich das Bürgertum nun über den materiellen Besitz, aus dem heraus der Anspruch auf politische Privilegien abgeleitet wurde (Münkler 1996: 72). Das Bürgertum begründete sich als Klasse, das sich zunächst im Gegensatz zu den entrechteten Unterschichten des Feudalstaates, später zur aufkommenden Industriearbeiterklasse befand. In den modernen Massendemokratien des 20. Jahrhunderts erlebten die Gesellschaften Westeuropas eine Dominanz dieser bürgerlichen Klassenkultur bis in die 1960er Jahre hinein. In dieser Zeit zeigte
sich das bürgerliche Lebensmodell als stark und ausstrahlungskräftig genug, um die unteren Schichten anzuziehen und in die bürgerliche Wertewelt zu integrieren (Nolte 2004: 67f.). Mit der bundesdeutschen Bildungsrevolution in den 1960er Jahren öffnete sich der bürgerliche Kosmos prinzipiell für alle Angehörigen der Gesellschaft; die Schichtgrenzen wurden durchlässiger. Allerdings führte diese Offenheit nicht zur unverrückbaren Etablierung der bürgerlichen Denk- und Lebensweise als Hegemonialkultur, sondern sie verlor stattdessen ihre Stellung als erstrebenswert erachtetes Lebensmodell. Nur vor diesem Hintergrund der theoretischen Erreichbarkeit des bürgerlichen Lebensniveaus lässt sich das Aufkommen der antibürgerlichen Kritik am Ende der 1960er Jahre erklären, die direkt aus dem Bürgertum selbst sowie aus den aufstiegsorientierten Schichten des Proletariats hervorbrach. Lange Zeit galt diese Protestwelle als endgültiger Auslöser eines „Niedergangs der bürgerlichen Denk- und Lebensformen” (Kondylis 1991). Inzwischen zeigt sich, dass der Schichtencharakter der bundesdeutschen Gesellschaft allen Nivellierungsanalysen zum Trotz bis heute überlebt hat und nach dem Ende der Systemkonkurrenz von kapitalistischem und kommunistischem Gesellschaftsmodell wieder verstärkt hervortritt (Nolte 2004: 34ff.). Doch haben sich die Trägerschichten der jeweiligen Klassen inzwischen in ihren Wertesystemen weitgehend gewandelt: Erwies sich das Bürgertum bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts als Hort der Vernunft, des zweckrationalen Handelns, des Glaubens an die Möglichkeit zur Selbsterziehung und zur unbegrenzten Beherrschbarkeit von Natur und Leben (Kondylis 1991: 27; Hettling/Hoffmann 1997: 333), so blieb der Wandel der Wertevorstellungen im Zuge der stillen Revolution (Inglehart 1977) in den 1970er Jahren nicht ohne Folgen für den bürgerlichen Wertehimmel heutiger Zeit. Gerade in Teilen der traditionell eher konservativ geprägten bürgerlichen Schichten der bundesdeutschen Gesellschaft konnte sich das postmaterialistische Denken mit der Priorität für Werte wie Emanzipation, Selbstverwirklichung, Individualität und Selbstverwaltung stetig ausbreiten. Die Gründe liegen zum einen im Einfluss des Zeitgeistes, zum anderen in der wirtschaftlich gesicherten Position der bürgerlichen Schichten: Sie erlaubt es dem Bürgertum, sich auch in Krisenzeiten weiterhin an den weichen Themen der Neuen Politik zu orientieren. Daneben kehrten bis heute viele der inzwischen etablierten ehemaligen Vorreiter der stillen Revolution wieder in die bürgerliche Lebensform zurück, aus der sie in den 1960er Jahren aufgebrochen waren, oder traten als Aufsteiger mit entsprechenden Wertorientierungen in die Bürgertumsklasse ein.

Es spricht also vieles dafür, das Werteuniversum des heutigen Bürgertums als eine Kombination aus gleichzeitiger Befürwortung der ökonomischen Marktfreiheit und des gesellschaftspolitischen Libertarismus, also von direkter Demokratie, Dezentralisierung, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, zu betrachten (zum Libertarismus-Konzept vgl. Kitschelt 1992: 13). Damit würden die alten Bürgertugenden Ordnung, Pünktlichkeit, Fleiß und Sparsamkeit in ihrer Bedeutung inzwischen weit hinter Eigenverantwortung, Selbstverwaltung und freiheitlichem Denken rangieren. Die das Parteiensystem prägenden Konfliktdimensionen zwischen den Grundwerten Marktfreiheit und Interventionismus sowie zwischen Libertarismus und Autoritarismus (Niedermayer 2003:
266f.) wären in einer klar abgrenzbaren gesellschaftlichen Gruppe entgegen bisheriger Annahmen verschmolzen: In der Parteienforschung wurden die Werte Interventionismus und Libertarismus bislang gemeinsam dem linken (links-libertären) Spektrum zugeordnet, Marktfreiheit und Autoritarismus galten als Wertesysteme rechts der Mitte (Stöss 1997: 161).

Welche gesellschaftlichen Gruppen und Milieus stellen also das Bürgertum heutiger Zeit? Zunächst weiterhin die klassisch-bürgerliche Klientel aus konservativ geprägter Wirtschaftselite, die, sofern älteren Jahrgangs, kaum postmaterialistische Werte ausgebildet hat und, sofern jüngeren Alters, sich trotz libertärer Wertorientierungen jedoch in direkter Abgrenzung zu den Postmaterialisten und deren Staatsorientierung definiert (Generation Golf; vgl. Klein 2003: 107f.). Außerdem eine postmaterialistisch geprägte gesellschaftliche Elite, postmaterialistisch geprägte Aufsteiger als Gewinner der Bildungsrevolution sowie ein von Repressionserfahrungen geprägtes und die DDR überlebendes Bürgertum. Dieses hier konzipierte neue Bürgertum zeichnet sich auch weiterhin nach den wesentlichen sozialstrukturellen Kriterien des alten Bürgertums aus, also der Zugehörigkeit zur Oberschicht, oberen oder mittleren Mittelschicht, einem hohen formalen Bildungsgrad sowie einer Erwerbstätigkeit, die vor allem wissensbasierte und eigenverantwortliche Tätigkeiten einschließt.

Bürgerliche Parteien im Wandel

Spricht man von den bürgerlichen Parteien, meint man die gemäßigten Parteien[1] rechts von der Mitte des politischen Spektrums, also konservative und konfessionelle Parteien sowie liberale Mitteparteien, die sich in allen westlichen Demokratien aus den liberalen Traditionen des 19. Jahrhunderts, oder, wie in Skandinavien, durch eine Anpassung vormaliger Bauernparteien an die Erfordernisse der industriellen Massendemokratie etablierten (Murphy 1996: 63). Der bürgerliche Block fand als politische Kraft allerdings erst mit dem Aufstieg der Arbeiterbewegung und ihren Parteien gegen Ende des 19. Jahrhunderts zusammen. Er war Ausdruck der neuen Dominanz der gesellschaftlichen Spaltungslinie zwischen wirtschaftsbürgerlichen und Industriearbeiter-Interessen. Zuvor verliefen die das Parteiensystem prägenden Frontlinien noch mitten durch die bürgerliche Schicht, in der sich liberale und konfessionelle Parteien im Kirche-Staat-Konflikt gegenüberstanden oder Konservative und Liberale als Vertreter des ländlichen Adels bzw. des städtischen Bürgertums.

Die Dominanz des Arbeit-Kapital-Konflikts entwarf eine politische Lagerstruktur, in der sich die parteilichen Vertreter der Arbeiterschaft und die des Bürgertums gegenüberstanden. Innerhalb des bürgerlichen Lagers kam es dabei in nahezu allen westlichen Demokratien zu einer Hegemonie konservativer bzw. nach 1945 auch christdemokratischer Parteien. Die Liberalen wurden dagegen stets, zum Teil bis heute, durch interne Flügelkämpfe zwischen linksliberalen Bürgerrechtskräften und rechtsgerichteten national-liberalen Vertretern geschwächt, die nicht selten zu Spaltungen der liberalen Parteien führten. Als Konsequenz bemühten sich die Liberalen oftmals um eine Mitteposition zwischen Sozialisten und Konservativen oder dienten innerhalb des bürgerlichen Lagers als Juniorpartner. Beide Varianten sind auch in der Geschichte der Bundesrepublik seit 1949 zu beobachten und entsprachen lange Zeit der Stellung der FDP als Königsmacherin im deutschen Regierungssystem.

Mit dem Eintritt der Grünen in das bundesdeutsche Parteiensystem und spätestens seit dem Hinzukommen der PDS haben sich die beiden Parteienblöcke wieder deutlich polarisiert. Durch die schrittweise Etablierung rot-grüner Koalitionen zunächst auf Länderebene wurde die FDP in ihre Rolle als Mehrheitsbeschafferin der CDU innerhalb des bürgerlichen Blocks zurück gedrängt. Zwar gab es weiterhin Versuche der FDP, sich als Partei der Mitte und damit in Äquidistanz zu den beiden Volksparteien CDU und SPD zu präsentieren – zuletzt im Bundestagswahlkampf 2002 -, jedoch blieben diese ohne elektoralen Erfolg. Auf der anderen Seite des Parteienwettbewerbs bemühen sich die Grünen spätestens seit ihrer Regierungsteilnahme im Bund 1998 vor allem in den Fragen um eine liberale Ausrichtung, die auf der Konfliktlinie Arbeit-Kapital verhandelt werden (Bornhöft et al. 2003: 38). Damit empfiehlt sich die Partei inzwischen als die neue Mittepartei, die zunehmend anschlussfähig an das bürgerliche Lager wird. Schon 1995 riet der Parteienforscher und Grünen-Experte Joachim Raschke, die Grünen sollten die „FDP beerben, ohne FDP zu werden”, und dabei „Reformpartei bleiben, Mittelpartei werden” (Raschke 1995: 12). Das Vorankommen der Bündnisgrünen auf diesem strategischen Weg zeigt auch die seit Ende der 1990er Jahre immer wieder aufbrechende Debatte um schwarz-grüne Bündnisse auf Länderebene. Auch die CDU ist inzwischen prinzipiell offen für derlei Gedankenspiele, und das längst nicht mehr nur in den liberalen und urbanen Landesverbänden. Doch was genau macht die Grünen zur neuen bürgerlichen Option?

Die Grünen als Partei des Bürgertums

Nicht nur das Bürgertum selbst hat sich nach 1990 stark verändert, auch die Grünen erlebten als Partei in diesem Zeitraum starke Wandlungsprozesse. Dabei war die Hauptrichtung immer klar: Die Grünen wurden „mittiger”, homogener und damit auch bürgerlicher.

Belege für die bürgerliche Herkunft von Teilen der Grünen oder für eine allmähliche Verbürgerlichung der Partei finden sich in ihrer kurzen Geschichte mehr als reichlich: Angefangen bei den Gründungsmitgliedern der bürgerlich-wertkonservativen Vorläuferorganisation SVP Die Grünen, über schwarz-grüne Gedankenspiele in Kreisen der Ökolibertären Baden-Württembergs bereits Ende der 1980er Jahre, bis hin zur Aufforderung Joschka Fischers 1988, die Grünen in Richtung der neuen Mittelschichten hin zu öffnen und die Position einer ökologischen FDP einzunehmen (Klein/Falter 2003: 60), zeugt schon das erste Jahrzehnt grüner Politik von ersten bürgerlichen Positionen. Gleichzeitig wird jedoch die noch stark heterogene interne Struktur deutlich, die die Partei zur andauernden Beschäftigung mit sich selbst zwang und darüber eine notwendige Verständigung über die programmatische und strategische Ausrichtung verhinderte.

Erst der Fall der Mauer im November 1989 und das Wahldebakel bei der Bundestagswahl 1990 sorgten für eine Klärung der Richtungsstrategie, die mit dem Verlassen großer Teile der linken Kräfte aus dem Umfeld der Ökosozialisten und des Linken Forums einherging. Auf der darauf folgenden Bundesversammlung im April 1991 wurden wichtige Strukturreformen beschlossen, die die Partei kompatibler mit den Spielregeln des parlamentarischen Systems und damit elektoral wieder erfolgreich machen sollten. Darüber hinaus wählten die Grünen als Selbstbezeichnung die einer ökologischen Reformpartei (ebd.: 62), womit die Option einer radikalen Systemopposition endgültig ad acta gelegt und eine Gruppe Radikalökologen um die ehemalige Bundesvorstandssprecherin Jutta Ditfurth zum Parteiaustritt bewegt wurde. Mit dem Abflauen der Flügelkämpfe und der Abspaltung der Extreme wurde der Weg der Westgrünen frei für den Zusammenschluss mit dem ostdeutschen Bündnis 90, das als wertkonservative Bürgerrechtspartei (ebd.: 61) einer stärker pragmatischen Ausrichtung der Gesamtpartei Vorschub leistete. Die realpolitische Linie setzte sich in den 1990er Jahren nicht zuletzt auch aufgrund der Einsicht in das Älterwerden der grünen Anhängerschaft und deren damit verbundenen sozialen Integration gegenüber einer fundamentalistischen Protesthaltung durch. So war es im Grunde folgerichtig, dass 1998 Bündnis 90/Die Grünen zum ersten Mal in ihrer Geschichte in eine Regierungskoalition auf Bundesebene eintraten.

Seitdem wurde der beschrittene Weg hin zu einer zuverlässigen Reformpartei noch konsequenter verfolgt, da die Erfordernisse der Regierungsverantwortung verstärkende Wirkung entfalteten und die Politik der grünen Mitglieder in Kabinett und Fraktion immer eindeutiger die Richtung vorgaben. Nach erneuten schweren Kämpfen zwischen Realos und Linken um die Regierungspolitik – so um die Einsätze der Bundeswehr im Kosovo und Afghanistan oder um den Atomkompromiss – entschloss sich die Partei 1999 zur Initiierung einer Debatte um ein neues Grundsatzprogramm, in der Hoffnung, auf diesem Weg die sich zu zerreiben drohende Partei zu integrieren (Egle 2003: 107). Vor allem ein stark am Pragmatismus orientierter Ton und die Reflexion des eigenen Wandels prägen das neue Programm, das im März 2002 auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Berlin verabschiedet wurde. Mit dem darin entwickelten erweiterten Gerechtigkeitsbegriff, der über die reine materielle Umverteilungslogik hinaus weist und daneben immaterielle Ressourcen wie Bildung, Geschlecht, Herkunft und Lebensstil in den Blick nimmt, machen die Grünen ein Politikangebot, das sich sowohl in Richtung eines aufklärerischen Humanismus als auch einer Parteinahme für die Schwächsten der Gesellschaft interpretieren lässt und damit auch für bürgerliche Schichten wählbar wird (ebd.: 110). Darüber hinaus gelang mit der notwendig gewordenen Anpassung an die Realitäten des Regierungsalltags in verschiedenen Politikfeldern, wie der Außen-, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik, die Öffnung gegenüber den bürgerlichen Wählern der Mitte.

Bürgerliche Wähler­schaft der Grünen?

Für die Annahme, dass die Grünen mit den eben beschriebenen Änderungen ihres Politikangebots lediglich auf die Hinwendung ihrer Wählerschaft zu einer bürgerlichen Lebensform reagiert haben, spricht in der Wahlforschung so manches. So haben Markus Klein und Jürgen Falter errechnet, dass die Wähler der Grünen 1982 über das geringste Einkommen im Vergleich mit den Wählerschaften von CDU, SPD und FDP verfügten, seit 1990 ein sprunghafter Anstieg ihres Einkommens zu verzeichnen ist, und sie schließlich im Jahr 2000 alle anderen Wählerschaften überflügelten (Klein/Falter 2003: 162). Bekannt wurde der Befund von Falter aus dem Jahr 2004, wonach die Grünen die FDP als Partei der Besserverdienenden inzwischen abgelöst hätten: Bei der Bundestagswahl 2002 verfügten 32,4 Prozent der Grünen-Wähler über ein monatliches Haushaltsnettoeinkommen von 3000 Euro und mehr; demgegenüber verdienten nur 20,4 Prozent der FDP-Wähler genauso gut, bei CDU/CSU waren es immerhin 25,9 Prozent der Wähler in dieser Einkommensklasse (Der Spiegel 36/2004: 28). Damit liegen die Grünen-Wähler an der Spitze der Einkommensskala, unterscheiden sich jedoch von der Spitzenverdiener-Klientel der FDP durch die Bedeutung, die sie materiellen Werten beimessen. So stellt Ulrich Eith über die Grünen-Wähler fest: „Das Selbstverständnis definiert sich nicht über das Einkommen, sondern entlang von Wertevorstellungen.” (ebd.: 32)

Die Frage bleibt offen, ob es sich bei diesen wohlhabender gewordenen Wählern um immer dieselben Wähler handelt, die ihrem Lebenszyklus folgend inzwischen eine gefestigte Position in der Gesellschaft einnehmen und somit – gemäß der These von den Grünen als einem Ein-Generationen-Projekt – für eine allmähliche Alterung der Grünen-Anhängerschaft sorgen (Bürklin/Dalton 1994), oder ob sich im Lauf der Jahre die Wählerschaft der Grünen möglicherweise ausgetauscht hat. Für Letzteres lassen sich in den jüngsten Wahlanalysedaten deutliche Belege finden. Schaut man sich nur die Ergebnisse der letzten Wahlen aus dem Jahre 2005 und 2004[2] sowie die der Bundestagswahl 2002 im Vergleich an, dann fällt auf, dass nur eine Minderheit der Wähler von Bündnis 90/Die Grünen der Partei bereits bei der jeweils vorangegangenen Wahl die eigene Stimme gegeben hat.[3] Die Mehrheit der Grünen-Wähler aller betrachteten Wahlgänge – mit Ausnahme der Europa-Wahl 2004, bei der die Partei 60 Prozent ihrer Wählerschaft seit der Bundestagswahl 2002 halten konnte – hatte zuvor entweder eine andere Partei unterstützt, keine Partei gewählt oder war zum ersten Mal wahlberechtigt.[4]

Daneben fällt hinsichtlich der für das Bürgertum relevantesten Erwerbsgruppe eines besonders ins Auge: Bündnis 90/Die Grünen haben bei allen Wahlgängen in fast allen Erwerbsgruppen deutlich dazu gewinnen können, ganz besonders jedoch in der Gruppe der Selbständigen. So waren die Gewinne in dieser Gruppe bei der Bundestagswahl 2002 unter allen erhobenen Erwerbsgruppen mit vier Prozent am deutlichsten, genauso bei den Landtagswahlen in Brandenburg mit fünf Prozent und bei denen in Sachsen mit vier Prozent. Bei den für die Grünen insgesamt sehr erfolgreichen Europawahlen 2004 konnten sie bei den Selbständigen sogar elf Prozentpunkte im Vergleich zur Wahl 1999 dazu gewinnen und überflügelten damit den Anteil der FDP-Wähler in dieser Gruppe deutlich (21 zu 14 Prozent), in Schleswig-Holstein lagen die Grünen bei den Selbständigen mit der FDP gleichauf. Bei allen Wahlen, mit Ausnahme der Landtagswahlen im Saarland und in Sachsen, wurden die Grünen neben den Beamten und den Personen in Ausbildung am häufigsten von Selbständigen gewählt. Dabei gehen die Gewinne der Bündnisgrünen unter den Selbständigen seit den Wahlgängen 2004 mit Verlusten in dieser Gruppe bei mindestens einer der klassischen bürgerlichen Parteien einher: In Schleswig-Holstein gewannen die Grünen bei den Selbständigen drei Prozent, während die CDU einen und die FDP drei Prozentpunkte verlor, in Brandenburg nahmen die Grünen bei den Selbständigen um fünf Prozent zu, während die CDU 16 Prozent in dieser Gruppe abgeben musste; ähnlich die Bilanz in Sachsen (+4 vs. -15) und im Saarland (+3 vs. -4). Besonders deutlich fiel das Ergebnis bei der Europawahl aus, bei der die Grünen unter den Selbständigen im selben Ausmaß hinzugewinnen konnten wie die CDU in dieser Gruppe verlor (elf Prozent). Im Gegenzug verloren die Grünen bei der Landtagswahl in Schleswig-Holstein unter den Arbeitslosen acht Prozentpunkte, während die CDU bei ihnen acht Prozent hinzugewann und die FDP ihren Anteil in dieser Gruppe konstant halten konnte. Trotz dieser Befunde bleiben FDP und vor allem CDU weiterhin die Parteien der Selbständigen, jedoch ist mit einem weiteren Eindringen der Grünen in diese Wähler-Gruppe zu rechnen.

Wenig überraschend ist demnach auch der Befund von Klein und Falter, wonach sich die westdeutschen Wähler der Grünen seit deren Gründung entlang der wirtschaftspolitischen Links-Rechts-Achse deutlich nach rechts bewegen und 2000 sogar dem gemäßigten rechten Spektrum zuzurechnen sind (Klein/Falter 2003: 174). In den neuen Bundesländern bewegten sich die bündnisgrünen Wähler dem entgegengesetzt von einer Mitteposition im Jahre 1992 hin zu einer deutlich linken Positionierung im Jahr 2000, was dem Linksruck der gesamten ostdeutschen Bevölkerung in dieser Zeit entspricht. Entlang der Wertachse zwischen libertären und autoritären Einstellungen bleiben die Wähler von Bündnis 90/Die Grünen in Ost- wie in Westdeutschland deutlich im libertären Bereich verankert (ebd.: 176).

Bürgerliche Mitglied­s­chaft der Grünen?

Die Wandlung der Partei hatte natürlich auch Folgen für die Zusammensetzung der Mitgliedschaft. Während sich die strategische und politische Ausrichtung der Bündnisgrünen immer stärker an den Erfordernissen der parlamentarischen Demokratie orientierte, verlor die Partei mit jeder inhaltlichen Neupositionierung einen Teil der unterlegenen Gruppierungen und gewann neue Mitglieder aus den Milieus der Gesellschaft, welche die jeweiligen Richtungswechsel unterstützen konnten. Die Annahme, dass auch die Veränderungen in der Mitgliedschaft eine Verbürgerlichung der Partei anzeigen, wird durch den Befund der Potsdamer Parteimitgliederstudie belegt. Danach waren im Frühjahr 1998 lediglich 44 Prozent der Grünenmitglieder bereits vor 1990 in die Partei eingetreten, die restlichen 56 Prozent also erst im Zuge oder sogar nach der Durchsetzung der Realo-Strategie gegenüber einer Fundamentalopposition (Klein/Falter 2003: 102). Dementsprechend rechneten sich 1998 auch 53 Prozent der Parteimitglieder dem Realo-Flügel zu. Doch wie sieht es mit der Stellung der Grünen-Mitglieder im gesellschaftlichen Schichtengefüge aus? Lässt sich durch die empirischen Daten ihre mehrheitliche Zugehörigkeit zum neuen Bürgertum nachweisen?

Bei der Frage nach der Schichtzugehörigkeit geben sich die Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen mehrheitlich als Angehörige der mittleren Mittelschicht aus, wie die Mitglieder aller anderen Parteien auch (Heinrich et al. 2002: 10). Auch bei der zweit-und drittgrößten Gruppe (obere und untere Mittelschicht) machen die Grünen, abgesehen von der PDS, keine Ausnahme. Vermutet man das Bürgertum vor allem in der oberen und mittleren Mittelschicht sowie der Oberschicht, dann werden vor allem die Parteien FDP (89 Prozent), CDU (88 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (85 Prozent) von ihm als Mitglieder geprägt. Bei der SPD kommen die Angehörigen dieser Schichten auf 77, bei der PDS auf nur 48 Prozent. Zu den beiden nicht bürgerlichen Schichten, untere Mittelschicht und Unterschicht, zählen sich bei der FDP elf Prozent, bei der CDU 13 Prozent und bei Bündnis 90/Die Grünen 16 Prozent der Mitglieder, bei der SPD sind es dagegen 23 und bei der PDS 61 Prozent. Damit werden mit Ausnahme der PDS alle Parteien mehrheitlich von den Schichten des Bürgertums geprägt, jedoch am deutlichsten CDU und FDP sowie die Grünen, die sich von der SPD und erst recht von der PDS in ihrer sozialen Zusammensetzung deutlich unterscheiden.

Als klassische Berufe des Bürgertums gelten gemeinhin die des alten Mittelstands, also Selbständigkeit, akademische und freie Berufe. 15 Prozent der Mitglieder von Bündnis 90/Die Grünen üben einen dieser Berufe aus, genauso wie 14 Prozent der CDU- und 22 Prozent der FDP-Mitglieder (ebd.: 12). Bei der SPD gehören sechs Prozent und bei der PDS vier Prozent diesen Berufsgruppen an. Dominant sind die bürgerlichen Berufe damit in keiner der aufgeführten Parteien, jedoch haben sie im linken Lager aus SPD und PDS eine eindeutig marginale Bedeutung, wohingegen sie bei den Grünen in ähnlichem Maße beheimatet sind wie bei CDU und FDP. Bei den nicht bürgerlichen Berufsgruppen Arbeiter, Landwirte und Arbeitslose zeigt sich hingegen keine deutliche Zugehörigkeit der Grünen zum bürgerlichen Block: Geben bei ihnen elf Prozent ihrer Mitglieder, bei der CDU acht und bei der FDP sieben Prozent einen solchen Beruf an, so finden sich bei der SPD 13 und bei der PDS zehn Prozent, die diesen Gruppen angehören.

Auch beim Bildungsgrad ergeben sich eindeutige Bürgertumsmerkmale bei den Mitgliedern der Grünen, allerdings werden diese von den Mitgliedern der FDP und der PDS geteilt. Mit 58 Prozent ist der Anteil der Akademiker von allen Parteien bei den Grünen am höchsten, weitere 22 Prozent ihrer Mitglieder haben Abitur (ebd.: 16). Bei der FDP besitzen 54 Prozent ein abgeschlossenes Hochschulstudium, bei der PDS 53 Prozent. Bei der CDU liegt der Anteil der Personen mit höchstem Bildungsabschluss bei 38 Prozent ähnlich wie bei der SPD, die 33 Prozent Akademiker in ihren Reihen zählt. Insgesamt werden alle Parteien in Ostdeutschland deutlich stärker von Akademikern geprägt als in Westdeutschland, wobei die Unterschiede zwischen Ost und West bei den Grünen und der FDP aufgrund ihres hohen Akademikeranteils im Westen nicht erheblich sind.

Die Grünen als neue bürgerliche Partei

Die Dominanz bürgerlicher Merkmale innerhalb der Mitgliedschaft von Bündnis 90/Die Grünen, die deutliche Orientierung der Grünen-Wähler an Mittepositionen, die Anzeichen für einen Austausch sowohl der Mitgliedschaft wie der Wählerschaft seit 1990 und die dabei stabile Ausrichtung am libertären Wertesystem sprechen zusammen für die Repräsentanz der neuen Bürgertumsgruppierungen durch Bündnis 90/Die Grünen. Die beiden klassischen bürgerlichen Parteien FDP und CDU halten weiterhin die Mehrheit innerhalb der konservativ geprägten Wirtschaftselite, doch wird es für sie zunehmend schwerer, die libertären bürgerlichen Schichten allein aufgrund sozioökonomischer Politikangebote an sich zu binden. Die Grünen überlassen eine am Sozialinterventionismus ausgerichtete Politik immer deutlicher den linken Parteien SPD und PDS, wie u.a. im Frühjahr 2005 die unterschiedliche Rolle der rot-grünen Koalitionspartner in der von der SPD angestoßenen „Kapitalismus-Debatte” belegte. Sie nähern sich selbst wirtschaftsliberalen Konzepten, in denen staatlicher Interventionismus höchstens als ökologisches Korrektiv oder zum Schutz von Minderheiten gerechtfertigt erscheint. Damit können sich die libertär orientierten Bürgerschichten eher bei den Grünen wieder finden als im reinen Neoliberalismus der FDP oder im gesellschaftspolitischen Anti-Modernismus der CDU.

Zwar hat Franz Walter in mehreren Aufsätzen auf die Erosion der bürgerlichen Anhängerschaften der Union hingewiesen und die „Verproletarisierung” der bürgerlichen Parteien beschrieben (Walter/Bösch 1998; Walter 2004: 34ff.): Eine systematische Analyse der Wählerströme zwischen FDP, CDU und Bündnis 90/Die Grünen sowie ein empirischer Beleg für den hier vermuteten Zusammenhang zwischen bürgerlichen Schichtmerkmalen und wirtschaftsliberal-libertären Wertausprägungen steht jedoch noch aus.

1Zum Teil können sich auch rechtspopulistische Parteien auf eine bürgerliche Basis stützen. Als Beispiele dienen u.a. bis Anfang 2005 die FPÖ in Österreich, seit den 1990er Jahren die SVP in der Schweiz, Ende der 1990er Jahre die Schill-Partei in Hamburg oder auch seit Beginn der 1990er Jahre die Alleanza Nazionale in Italien.
2 Landtagswahlen im Saarland am 5. September 2004, in Brandenburg und Sachsen am 19. September 2004, in Schleswig-Holstein am 20. Februar 2005 sowie die Europawahl am 13. Juni 2004.
3 Alle Analysen gehen auf die Daten der Wahltagsbefragungen von Infratest dimap zurück.
4 Wählerhaltequoten gegenüber der vorangegangenen Wahl auf entsprechender Ebene: 48 Prozent
bei der Bundestagswahl 2002, 32 Prozent bei der saarländischen Landtagswahl 2004, 14 Prozent in
Brandenburg und 27 Prozent in Sachsen 2004 sowie 43 Prozent in Schleswig-Holstein 2005 (eigene Berechnungen auf Grundlage der Daten von Infratest dimap).

Literatur

Bornhöft, Petra et al. 2003: Pragmatismus pur; in: Der Spiegel 10, 1. März 2003, S. 38-46
Bürklin, Wilhelm/Dalton, Russel J. 1994: Das Ergrauen der Grünen; in: Klingemann, Hans-Dieter/Kaase, Max (Hg.): Wahlen und Wähler. Analysen aus Anlaß der Bundestagswahl 1990, Opladen,
S. 264-302
Egle, Christoph 2003: Lernen unter Stress: Politik und Programmatik von Bündnis 90/Die Grünen; in: Ders. et al. (Hg.): Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998-2002, Wiesbaden, S. 93-116
Heinrich, Roberto et al. 2002: Parteimitglieder im Vergleich: Partizipation und Repräsentation. Kurzfassung des Abschlussberichts zum gleichnamigen DFG-Projekt, Potsdam
Hettling, Manfred/Hoffmann, Stefan-Ludwig 1997: Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. Jahrhundert; in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 23, S. 333-359
Inglehart, Ronald 1977: The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, New Jersey
Kitschelt, Herbert 1992: The Formation of Party Systems in East Central Europe; in: Politics & Society, Jg. 20, H.1, S. 7-50
Klein, Markus 2003: Gibt es die Generation Golf? Eine empirische Inspektion; in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 55, H. 1, S. 99-115
Klein, Markus/Falter, Jürgen W. 2003: Der lange Weg der Grünen. Eine Partei zwischen Protest und Regierung, München
Kondylis, Panajotis 1991: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform. Die liberale Moderne und die massendemokratische Postmoderne, Weinheim
Münkler, Herfried 1996: Bürgertum/Bürgerliche Gesellschaft und Kultur; in: Nohlen, Dieter (Hg.): Wörterbuch Staat und Politik, Bonn, S. 71-74
Murphy, Detlef 1996: Bürgerliche Parteien; in: Nohlen, Dieter (Hg.): Wörterbuch Staat und Politik, Bonn, S. 63-71
Niedermayer, Oskar 2003: Parteiensystem; in: Jesse, Eckard/Sturm, Roland (Hg.): Demokratien des 21. Jahrhunderts im Vergleich. Historische Zugänge, Gegenwartsprobleme, Reformperspektiven, Opladen, S. 261-288
Nolte, Paul 2004: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, Bonn
Raschke, Joachim 1995: Parteifamilie mit offener Werte-Kombination; in: Frankfurter Rundschau, Nr. 46 vom 23. Februar 1995, S. 12
Stöss, Richard 1997: Stabilität im Umbruch. Wahlbeständigkeit und Parteienwettbewerb im „Superwahljahr” 1994, Opladen/Wiesbaden
Walter, Franz 2004: Zurück zum alten Bürgertum: CDU/CSU und FDP; in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B40, S. 32-38
Waltey, Franz/Bösch, Frank 1998: Verlust der Mitte. Die Erosion der christlichen Demokratie; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 43, H.11, S. 1339-1350

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