Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 170: Rückkehr der Bürgerlichkeit

Im Kampf um die gefährdete Verfassung

Der Grundrechtereport 2005 belegt die schleichende

Aushöhlung unserer Rechtsordnung

aus: Vorgänge Nr. 170 ( Heft 2/2005 ), S.144-145

Jeder, der sich in der praktischen Bürger- und Menschenrechtsarbeit in Deutschland engagiert, kennt die ungläubige Skepsis vieler Menschen hierzulande: „Verletzung von Menschenrechten? In Deutschland? Das kann doch nicht sein!” Angesichts dieser Illusionen erscheint umfassende Aufklärung über die rechtspolitischen Entwicklungen, die richterliche Praxis und die Aktivitäten großer Wirtschaftsunternehmen wichtiger denn je. Einen gelungenen Überblick hierzu bietet der seit nunmehr 1997 erscheinende Grundrechte-Report, den neun der wichtigsten Bürger- und Menschenrechtsorganisationen herausgeben:

Till Müller-Heidelberg u.a. (Hg.): Grundrechte-Report 2005. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland, Fischer Taschenbuch: Frankfurt/Main 2005, 255 S., ISBN 3-596-16695-0; 9,90 Euro

Wie auch in den Vorjahren orientiert sich der Report in seinem Aufbau an den Grundgesetzartikeln. Bis auf wenige Ausnahmen behandeln die insgesamt 43 zum Teil knapp gehaltenen Beiträge, in der Mehrzahl von Juristen verfasst, die aktuelle Lage der fundamentalen Rechte unserer Verfassung. Für einen nicht juristisch vorgebildeten Leser werden zwar einige Ausführungen nur schwer zu verstehen sein; dennoch besticht der Report durch präzise Berichte und Schlussfolgerungen, die ansonsten nur selten in der Öffentlichkeit diskutiert werden.

In der Einleitung erinnert die Richterin am Bundesverfassungsgericht Christine Hohmann-Dennhardt daran, dass „nicht die freie Entfaltung des Kapitals […] Anliegen unserer Freiheitsrechte [sei], sondern die freie Entfaltung der Persönlichkeit jedes Einzelnen.” Der Sozialstaat dürfe nicht als Ballast verstanden werden, sondern als Grundlage für eine gerechte Teilhabe. Jede andere Sichtweise entziehe dem Staat seine Legitimation, im Namen des Volkes zu handeln, da er durch den Abbau von sozialen Rechten nur den Interessen der Starken diene. Neben dem klassischen Adressaten, der staatlichen Gewalt, spricht die Autorin ebenfalls die Verantwortung großer Wirtschaftsunternehmen an, die ebenso die politische Realität prägen und dabei grundrechtsrelevante Bereiche verletzen können.

Mit einem zentralen Bürgerrechtsthema beschäftigt sich Wolfgang Kaleck: Er zeigt, wie mit Guantanamo, mit der EU-Terrorismusliste, auf deren Grundlage ohne richterliche Kontrollmöglichkeiten gegen betroffene Personen weitreichende Entscheidungen getroffen wer-den, sowie den ausgebauten Ausweisungsbestimmungen rechtliche Freiräume geschaffen werden, die auch den Grundrechtsschutz in Deutschland verletzen. Diese Entwicklung offenbart, wie sich Politik von rechtsstaatlichen Grundsätzen entfernen kann und sogar seit der Aufklärung sicher geglaubte Errungenschaften heute in Frage gestellt werden. Die These des Bonner Verfassungsrechtlers Matthias Herdegen, dass die Menschenwürde im Einzelfall zur Disposition stehen müsse, verdeutlicht, dass aufgrund dieser Entwicklungen auch Deutschland ein Klimawechsel in den juristischen Debatten droht.

Völlig zurecht knüpft der Report auch an die „Folterdebatte” in Deutschland an. Trotz der eindeutigen Bestimmungen im Grundgesetz, in der Strafprozessordnung und in unterschiedlichen internationalen Verträgen, die ein absolutes Folterverbot normieren, werden die-se hierzulande erstaunlich hemmungslos diskutiert. Mit dem im Juni 2004 verabschiedeten neuen Luftsicherheitsgesetz überschritt Rot-Grün eine weitere Grenze. Eine „solche gesetzliche Lizenz zum Töten Unschuldiger nach Maßgabe einer quantitativen, die Menschenwürde verletzenden Abwägung Leben gegen Leben (…]” stelle „ein makaberes Novum unserer Rechtsordnung” dar, heißt es dazu treffend im Report.

Unter dem Stichwort informationelles Selbstbestimmungsrecht werden die Videoüberwachung am Arbeitsplatz, der Einsatz von Minichips zur Warenkontrolle oder die automatisierte Kfz-Kennzeichenerkennung analysiert –Entwicklungen, die wegen der wachsenden technischen Möglichkeiten die Gefahreines allumfassenden Bewegungsprofils aller Bürger real werden lässt.

Schwere Verstöße gegen das Recht auf Leben kommen an Hand von Todesfällen nach einem Brechmitteleinsatz sowie durch das Vorgehen einiger BGS-Beamte bei der Abschiebung eines Sudanesen zu Sprache. Die Religionsfreiheit ist im Hinblick auf die Landesgesetze kaum mehr existent; die Länder geben vielmehr im öffentlichen Dienst den Symbolen des christlichen Abendlandes den Vorrang. Einen rein ökonomischen und daher hoch problematischen Umgang mit der Pressefreiheit sieht der Report in der Monopolbildung auf dem Zeitungsmarkt und in der Diskussion, dort die Wettbewerbsbeschränkungen aufzulockern. Auch die Demonstrationsfreiheit ist in Gefahr, wenn es der Hessische Innenminister durch die verwaltungsrechtliche Gebührenordnung einschränkt.

Der Schutz der Wohnung und die Probleme des Gesetzgebers, eine klare Grenze zum absolut geschützten Kernbereich persönlicher Entfaltung zu ziehen, werden ausführlich diskutiert. Unter der Überschrift Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat widmet sich der Report Hartz IV mit Blick auf die neuen Zumutbarkeitsregelungen und die Koalitionsfreiheit; ebenso dem Recht auf Bildung und der fragwürdigen Struktur unseres dreigliedrigen Bildungswesens. Zu wünschen bleibt, dass der Grundrechtereport seine kritisch-aufklärerische Wirkung auch in Zeiten harten rechtspolitischen Gegenwindes entfalten kann – denn eine weitere Unterminierung unserer Rechtsordnung hätte verheerende Folgen für die Demokratie in Deutschland.

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