Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 170: Rückkehr der Bürgerlichkeit

Orien­tie­rung und Distinktion

Zur Bedeutung von Geschichte für bürgerliche Eliten: das Beispiel Bern

aus: Vorgänge Nr.170 ( Heft 2/2005 ), S.71/79

Die aktuellen Figurationen bürgerlicher Lebenswelten in Bern, von denen im folgenden die Rede sein soll, lassen sich nur nach einer historischen Rückschau interpretieren. Zunächst werden daher die historischen Hintergründe der bernischen Verhältnisse betrachtet, und im Anschluss daran die am Beispiel der Berner Burgergemeinde gemachten Beobachtungen eingeordnet.[1]

Histo­ri­sches Stadt­bür­gertum versus gewöhnliche Einwohner

In vordemokratischer Zeit übte eine aristokratisch geprägte städtische Elite, das Patriziat, die politische Herrschaft über Bern, den größten Stadtstaat nördlich der Alpen, aus. Das Patriziat war Teil der städtischen Bürgerschaft, dem durch Besitz des Bürgerrechtes privilegierten Kern der Stadtbevölkerung. Die bernische Terminologie bezeichnet Bürger als Burger und das Bürgerrecht als Bürgerrecht. Die Bürgerschaft, die Summe der Burger, war in Form von Gesellschaften organisiert, die im Spätmittelalter aus Gilden und Handwerkerverbänden hervorgegangen waren. Bei den Gesellschaften, die sich seit dem 20. Jahrhundert teilweise wieder als Zünfte oder Zunftgesellschaften bezeichnen, handelt es sich um erbrechtlich definierte Personenverbände beziehungsweise um Besitzkorporationen (Schläppi 2005; 2006).

Spätestens seit dem 17. Jahrhundert schottete sich die Stadtbürgerschaft aus Furcht um ihre materiellen und rechtlichen Privilegien hermetisch gegen Zuzügler und soziale Aufsteiger aus der Einwohnerschaft ab. Der Sturz der alten Ordnung, den die Besetzung des bernischen Staatsgebietes durch Napoleonische Truppen im Jahr 1798 auslöste, tat der Vorzugsstellung der etablierten Stadtbürger keinen Abbruch. Die Angehörigen der Burgerschaft behaupteten ihren qua Geburt begründeten Sonderstatus sogar im Jahr 1831, als im Staat Bern erstmals liberale Kräfte aus den ehemaligen Untertanengebieten die Macht übernahmen und die jahrhundertealte Vorherrschaft der Stadt über das Land brachen. Aber selbst die freisinnigen Politiker, die das politische System und die Verfassung von sämtlichen Überresten der ständischen Strukturen des Ancien Regime zu säubern trachteten, legten nicht Hand an die altbernischen Korporationen. Anstatt diese kurzerhand und endgültig abzuschaffen, wurden 1832 zwei unabhängig voneinander funktionierende kommunale Gebilde geschaffen, die bis in die Gegenwart nebeneinander existieren (Rieder 1998: 35-37; Schläppi 2001: 39-60, 164-167; Tanner 1995: 574-576).

Die 1832 gegründete Einwohnergemeinde umfasst alle stimmberechtigten Einwohner Berns und ist somit die öffentlich-rechtliche und politische Nachfolgerin der alten Stadtgemeinde (Rieder 1998: 34f.). Sie garantiert das Funktionieren der Verwaltung und der politischen Institutionen, organisiert demokratische Wahlen und Abstimmungen, verfügt über die Steuerhoheit und erfüllt sämtliche Aufgaben des öffentlichen Dienstes. Die Burgergemeinde — so bezeichnet sich der aus den Nachkommen des altbernischen Herrenstandes und der ehemaligen Stadtbürgerschaft gebildete abstrakte Personenverband, der übrigens auch noch im 21. Jahrhundert in Form der 13 traditionellen Gesellschaften organisiert ist — trat zwar die politische Hoheit 1832/33 formell ab (Schläppi 2001: 61f.; Tanner 1995: 581-584). Im Rahmen eines 1852 mit der Einwohnergemeinde abgeschlossenen Teilungsvertrags sicherte sie sich aber erhebliche Vermögenswerte sowie beträchtlichen Immobilien- und Landbesitz in und um Bern, wo-durch namhafte Teile des kommunalen Allgemeinguts bis in die Gegenwart der Verfügungsgewalt der Einwohnergemeinde entzogen sind (Rieder 1998: 173-178). Ihr Reichtum versetzte die Burgergemeinde in die Lage, ohne Erhebung von Abgaben informell bei politischen Entscheidungen mitzumischen, wobei sie namentlich auf die Stadtentwicklung und auf die Kulturpolitik Einfluss nahm (Rieder 1998: 321-342).[2]

Bürger­schaft und bürgerliche Aufsteiger nähern sich an

Nicht zuletzt wegen des beachtlichen ökonomischen Kapitals der Burgergemeinde und den damit verbundenen Nutzungschancen bemühten sich bereits im 19. Jahrhundert immer mehr anpassungswillige bürgerliche Aufsteiger um Aufnahme in die Burgerschaft[3] und um den Erwerb des exklusiven Burgerrechts. Allerdings waren die Mentalitäten der geburtsständisch definierten Burgerschaft und der modernen Leistungseliten so gegensätzlich, dass die burgerliche Parallelkommune lange Zeit nur wenige Ausgesuchte in ihre Reihen aufnahm. Bis ins ausgehende 19. Jahrhundert behielt die Burgergemeinde ihre mehrheitlich ablehnende Haltung gegen Außenstehende bei (Schläppi 2001: 171-174). Erst massive politische Agitation, welche in den 1880er Jahren die altbernischen Korporationen abschaffen wollte, setzte bei den altbernischen Oberschichten einen zögerlichen Gesinnungswandel in Gang (Schläppi 2001: 67-72).

Bevor der alte Argwohn der Aristokraten einem entkrampften Umgang mit den bürgerlichen Leistungseliten wich, mussten erhebliche kulturelle Gegensätze überwunden werden. Dies geschah unter anderem im Rahmen der Gründungsfeier der Stadt Bern von 1891. Der Bürgertumsforscher Philipp Sarasin sieht in derartigen Feiern, wie sie für die Zeit charakteristisch waren, den „Versuch bürgerlicher Sinn- und Konsensstiftung durch den Rekurs auf ,Geschichte” (Sarasin 1990: 309). Tatsächlich kam den pompösaufgezogenen Festlichkeiten zum 800jährigen Jubiläum der Stadt und einem aufwändig inszenierten historischen Festspiel eine zentrale Rolle bei der wechselseitigen Integration städtischer Oberschichten aristokratischen und bürgerlichen Herkommens zu. Nach langen und erbitterten Streitigkeiten um die von liberaler und konservativer Seite unnachgiebig erhobenen Ansprüche auf die bernische Heldenhistorie verständigten sich die Nachkommen der patrizischen Standeseliten und die aufstrebenden Leistungseliten Ende des 19. Jahrhunderts erstmals auf eine partnerschaftliche Verwaltung und Nutzung des historischen Erbes. Patrizier mit aristokratischen Wurzeln und Bürger ohne nennenswerte Abstammung stellten 1891 die heroischen Schlachterfolge (Laupen, Murten, Grandson, Nancy) und deren Hauptprotagonisten, welche Bern im Spätmittelalter groß und mächtig gemacht hatten (Bubenberg, von Erlach etc.), in einem für die Zeit typischen Kostümumzug endlich gemeinsam dar (Schläppi 2001: 453-460).

Die neu gefundene Einigkeit hatte zur Folge, dass sich die geburtsständisch definierte Burgerschaft um 1900 ideologisch öffnete und vordergründig eine liberalere Aufnahmepolitik etablierte. Nur ein Jahrhundert später werden die damals aufgenommenen Sippen bereits als „alte” unter noch älteren Familien respektiert (Schläppi 2001: 79-81), denn wer sich als Angehöriger eines historischen Verbands im Licht der hehren Heroengeschichte sonnen darf, genießt in Bern auch im 21. Jahrhundert noch hohes Ansehen, selbst wenn er keine aristokratischen Vorfahren vorweisen kann. Allein die Aufnahme geschafft zu haben, gilt in der bürgerlichen Oberschicht als Auszeichnung, ist doch allenthalben bekannt, wie klein der handverlesene Kreis der auserwählten „Neuburger” ist.[4]

Das Aufnah­me­pro­ze­dere: „Burger­lich­keit” in Reinkultur

Wer das Burgerrecht erwerben will, muss zunächst ein offizielles Aufnahmebegehren stellen, das danach in mehreren Schritten von unterschiedlichen Instanzen und Gremien geprüft wird. Reglementarische Vorgaben, wie die Aufnahmeverfahren formell abzulaufen und welchen Erwartungen die Kandidaten zu genügen haben, existieren nicht. Die imaginäre Liste der notwendigen Bedingungen ist jedoch lang (Rieder 1998: 137-152; Schläppi 2001: 204-209). Zentral für eine Neuaufnahme ist sicherlich der materielle Wohlstand der Petenten.[5] Mindestens ebenso wichtig sind aber wohlgeordnete familiäre Verhältnisse, worunter eine intakte Ehe mit Kindern verstanden wird. Die direkten Nachkommen befinden sich mit Vorteil bereits in einer höheren Ausbildung oder haben immerhin eine realistische Aussicht, zu späterem Zeitpunkt eine respektable Berufskarriere ergreifen zu können (Schläppi 2001: 186-190).

Will ein Anwärter echte Chancen haben, muss er zudem über einen außerordentlichen Leistungsausweis verfügen, wenn auch nicht unbedingt im Sinn von objektiv erbrachter Arbeit. Wesentlich wichtiger ist die subjektive Einschätzung der absolvierten Laufbahn durch die Einburgerungsgremien, denen als Basis für ihre Meinungsbildung einerseits mehrere mit Hausbesuchen bei den Kandidaten verbundene persönliche Gespräche dienen, die ihre Eindrücke andererseits aber mit in burgerlichen Kreisen informell eingeholten Referenzen absichern. Die Aufnahme in die Burgergemeinde drückt gewissermaßen aus, dass der Aufgenommene am Platz Bern bereits über gute Kontakte zu Leuten verfügt, die seine Tauglichkeit als potentieller Burger anhand der richtigen moralischen Maßstäbe beurteilen können. Häufig bauen solche Beziehungsnetze auf bekannt- oder verwandtschaftlichen Verbindungen zu tonangebenden Akteuren der Burgerschaft auf (Schläppi 2001: 204-206). Wichtig ist außerdem ein distinguierter Lebensstil — deshalb unter anderem die Hausbesuche .[6]

Das am schwierigsten zu fassende Aufnahmekriterium ist die „Verbundenheit mit Bern”. Obwohl die für Einburgerungen verantwortIichen Entscheidungsträger stereotyp auf der zentralen Bedeutung dieses Kriteriums insistieren, fehlt eine konkrete Definition, welche diese Kategorie näher umschreiben würde. Unter der Chiffre „Verbundenheit mit Bern” kann somit alles oder nichts gefasst werden. Untersucht man die Argumentationszusammenhänge, in denen der Begriff jeweils zur Anwendung kommt, gibt das Prädikat „Verbundenheit mit Bern” darüber Auskunft, dass ein Bewerber spezifische Wertehaltungen teilt und in den Probegesprächen zu erkennen gegeben hat, dass er um die Wichtigkeit bestimmter Einstellungen und Mentalitäten für den inneren Zusammenhalt der Burgergemeinde weiß. Dazu gehören unter anderem die Identifikation mit einer spezifischen Sichtweise der bernischen Tradition sowie ein Sample bestimmter konservativer Weltanschauungen.‘ Voraussetzung jeder Einburgerung ist, dass die Verantwortungsträger ihre eigenen Auffassungen von einer vernünftigen Lebensgestaltung und einige ihrer persönlichen dogmatischen Dispositionen in den Bewerbern wieder erkennen können (Schläppi 2001: 207-209; 2005). Das Attribut „Verbundenheit mit Bern” steht für eine erfolgreich bestandene Gewissensprüfung und dient, da inhaltlich nicht explizit umschrieben, als willkürliches Ausschlusskriterium (Rieder 1998: 145-147). Ob die Burgergemeinde eine Einburgerung vollzieht, ist deshalb reine Ermessenssache.

Der geschilderte Anforderungskatalog deckt sich mit den bürgerlichen Lebenskonzepten, die im 19. Jahrhundert an der Schwelle zur klassischen Moderne ausformuliert wurden und sich in der Folge als schichtimmanente Leitbilder durchsetzten (Rieder 1998: 70-72; Tanner 1995: 159-476). Wer im 21. Jahrhundert in die Burgergemeinde aufgenommen wird, erfüllt ein durch und durch traditionelles Muster von „Bürgerlichkeit” (Schläppi 2001: 192-204). Obwohl viele der langwierigen Einburgerungsverfahren auf der Strecke bleiben, weil ein Bewerber den zuständigen Personen nicht passt, ist der Drang arrivierter Aufsteiger nach Aufnahme in die Burgergemeinde ungebrochen. Aus dieser Tatsache kann abgeleitet werden, dass für konservativ denkende Eliten das urbürgerliche Programm nichts an Attraktivität eingebüsst hat. Die Aufnahme in die Burgergemeinde weist einen Angehörigen der städtischen Oberschicht darüber aus, dass seine soziale Stellung ihm den Zugang in den elitären Verkehrskreis erlaubt. Erst durch die Einburgerung erhält der wirtschaftliche Erfolg die Aura einer akkreditierten konservativen Kultiviertheit, welche erworbener Wohlstand allein nicht ausstrahlt (Schläppi 2001: 216-219).

Aufwändige Integration

Die Aufnahme in die Burgergemeinde stellt eine Transformation von Vermögen und sozialen Ressourcen in kulturelles und symbolisches Kapital dar. Originär bürgerlichen Konzepten bezüglich eines sparsamen Umgangs mit Geld und anderen Ressourcen zufolge muss eine derartige Investition langfristig amortisiert werden, indem sie nachhaltig bewirtschaftet wird (Schläppi 2001: 453; Tanner 1995: 401-407). Dies bedingt Bildung, Pflege und Ausbau des erworbenen Beziehungsnetzes. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem geselligen Leben zu. Übers Jahr hinweg bietet sich an unzähligen gesellschaftlichen Anlässen Gelegenheit, neue Kontakte zu etablieren oder bereits bestehende Beziehungen zu vertiefen. Eine entscheidende Funktion nehmen dabei die nach wie vor gepflegten Männeressen ein, an denen in Anlehnung an die bürgerliche Vereinskultur des vorletzten Jahrhunderts Trink- und Rederituale zelebriert werden (Schläppi 2001: 461-464; 2005).

Das zentrale Medium der burgerlichen Vergemeinschaftung ist — auch dies typisch bürgerlich (Tanner 1995: 159-280) — die Familie. Anlässlich von sogenannten „Kinder-” oder „Jugendfesten”, an denen idealerweise auch Eltern und Großeltern teilnehmen, werden im Beisein von Familienangehörigen und Verwandten aller Generation die noch nicht volljährigen Nachkommen auf Kosten der Korporationskassen reich beschenkt. Auch hinter diesen im Kontext bürgerlicher Pädagogisierung im 19. Jahrhundert entstandenen Bräuchen steht der Gedanke, dass sich die Investition Einburgerung erst dann lohnt, wenn das Interesse an der burgerlichen Sache und damit auch der Nutzen aus den unterschiedlichen Verbindungen an die Folgegeneration weitergegeben werden kann (Rieder 1998: 266, 272-274; Schläppi 2005: 465-469).

Den inneren Spielregeln der Burgerschaft zufolge erwirbt sich das soziale und kulturelle Kapital, welches die Zugehörigkeit zu einem der geschichtsträchtigen Traditionsverbände darstellt, nicht wie Anteilscheine in einer einmaligen Geschäftstransaktion. Selbst wer alle Hürden der Aufnahmeprozedur genommen und seine Einkaufssumme bezahlt hat, kann sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Einerseits wird von Neulingen aktives Engagement für die burgerliche Sache erwartet. Andererseits spielt innerhalb der Burgergemeinde eine subtile Standeshierarchie, die sich aus der familialen Herkunft (Rieder 1998: 229-232, 356), definiert durch das Jahr, in dem der Stammvater eingeburgert wurde, und aus den Verdiensten der Vorfahren um burgerliche Belange ableitet (Schläppi 2001: 83). Akzeptanz und Ansehen im Gruppenverband müssen und können mit freiwilligen Eigenleistungen erarbeitet werden. Viele Neuburger übernehmen ehrenamtlich zeitintensive Verwaltungsaufgaben. Sie sind in ihren Amtshandlungen bemüht, die Wertehaltungen und die immanente Logik der Traditionskorporationen durch eine spezifische Praxis in besonders reiner Form zu reproduzieren — eine typische Verhaltensweise von Assimilierten (Schläppi 2001: 414).[8]

Streben nach Geschichte

Der Makel der fehlenden familiären Herkunft hingegen kann objektiv nicht korrigiert werden, denn das Jahr der Einburgerung ist objektiv gegeben. Bemerkenswerterweise bemühen sich aber auffällig viele Neuburger unter erheblichem Aufwand um die Konstruktion möglichst langer Ahnenreihen. Gelingt es dann im Einzelfall, einen genealogischen Link bis ins 17. oder gar ins 16. Jahrhundert herzustellen, wird dies über Wappentafeln, Ahnenporträts, antiken Hausrat und bereitwillig erzählte Legenden äußerlich sichtbar gemacht. Auch wenn all diese Behelfsmittel auf das Einburgerungsjahr und somit auf die faktische Stellung in der Sozialhierarchie keinerlei Einfluss haben, geben sie ihren Besitzern doch Halt und einen Hauch von Historizität (Rieder 1998: 232, 277; Sarasin 1997: 242; Schläppi 2001: 89f.).

Müssen Neuburger im Ringen nach Akzeptanz das eigene Herkommen erforschen, dokumentieren und kommunizieren, so beschäftigen sie sich auch mit der bemischen Geschichte. Dabei hat sie weniger die analytisch-kritische, wissenschaftliche Geschichtsschreibung als vielmehr der vielfach überholte Wissensstand zu interessieren, welcher dem Selbstverständnis der Eliten altbernischen Herkommens entspricht und in den in Leder gebundenen Klassikern der sanktionierten Lokalhistorie nachzulesen ist. In zahlreichen internen Publikationen burgerlicher Vereinigungen erscheinen regelmäßig von Laienschreibern verfasste historische Beiträge, die sich vielfach mit der eigenen Familiengeschichte beschäftigen oder den Inhalt von Archivalien referieren, die der Verfasser zufällig in die Hand bekommen hat.

Ein eindimensionales Verständnis von Geschichte als Summe erzählbarer Ereignisse treibt mitunter seltsame Blüten. Einige der burgerlichen Gesellschaften, welche in der Vormoderne Bezüge zu bestimmten Berufen hatten, lassen die alten Handwerke wieder aufleben und veranstalten zum Beispiel Schmiedekurse oder richten in der ehemaligen Zunftstube eine traditionelle Werkstatt ein (Schläppi 2001: 472f., 492f.). Die kriegshandwerkliche Tradition lebt in Form des von der „Reismusketengesellschaft” organisierten „Zunftschiessens” weiter. Geschossen wird mit unhandlichen Vorderladerbüchsen und selbst gegossenen Bleikugeln. Einige Apotheken im alten Stadtkern, die sich im Besitz von Neuburgern befinden, stellen anhand von überlieferten Rezepten traditionell bernische Genuss- und Heilmittel her.

Neuburger organisieren euphorisch historische Jubiläen und nehmen überproportional und übereifrig daran teil. Sie suchen und sammeln Überreste aus der patrizisch-aristokratisch geprägten bemischen Überlieferung, zu der sie weder einen quellenmäßig nachweisbaren Bezug noch eine familiäre Verbindung haben. Sie stiften für ihre Gesellschaften sündhaft teures Silbergeschirr, auf dem sie historische Sujets anbringen. Weil viele meinen, mit ihrem Vermächtnis „Geschichte machen” zu können, schreiben sie der beschenkten Nachwelt gleich noch den Verwendungszweck ihrer Gabe vor (Schläppi 2001: 322-328; 2005). Wenn es der gesellschaftliche Rahmen erlaubt, werden diskrete Anstecknadeln oder auch auffällig beschriftete und mit Zunftwappen verzierte Kleidungsstücke getragen. Imposante Fahnen gehören zur Grundausstattung jeder burgerlichen Korporation. Neuburger adaptieren das scheinbar historisch überlieferte „Stadtberndeutsch” des Patriziates, einen artifiziell antiquierten Soziolekt,9 von dem sie alle im Rahmen burgerlicher Vergemeinschaftung bei erstbester Gelegenheit feststellen,dass er distinktiven Charakter hat (Rieder 1998: 232, 254f.; Schläppi 2001: 86f., 328f.; Siebenhaar/Stähli 2000: 13-15, 67f., 70f.).

Geschichte als Medium der Orien­tie­rung und Distinktion

Sammeln, Sortieren, Ordnen, Beschriften und Festschreiben sind typische Strategien bürgerlicher Lebensbewältigung und dienen der „Konstruktion eines Weltbildes mit den Mitteln visueller Zeichen”, wobei das „Kontinuum der Signifikanzen” keine „Lücke zwischen Selbstbild und Weltbild” erlaubt (Sarasin 1990: 252). Die besagten Handlungsweisen dienen also der Selbstvergewisserung und werden dann besonders virulent, wenn aufgrund allgemeiner gesellschaftlicher Veränderungsprozesse hergebrachte Gewissheiten zur Diskussion stehen. Der materialisierte, handfeste Zugang burgerlicher Kreise zur Geschichte soll in Zeiten des Umbruchs bürgerliche Identität konstituieren und absichern.

Allerdings vermögen nicht einmal die im kollektiven Selbstverständnis so bedeutsamen burgerlichen „Traditionen” das brennende Verlangen nach Orientierung und Halt in der Vergangenheit zu stillen. Irritation macht sich (nicht nur) bei Neuburgern breit, wenn klar wird, dass viele der gegenwärtig gepflegten „Traditionen” aus dem 19. Jahrhundert stammen oder gar erst im 20. Jahrhundert unter erheblichem finanziellem Auf-wand künstlich institutionalisiert wurden. Wenn selbst Neuschöpfungen jüngeren Datums schon nach wenigen Jahren als „Traditionen” gelten, läuft dies bürgerlichen Begriffen von Geschichtlichkeit, welche Historie und Herkommen als jahrhundertealte unverrückbare Fakten fernab von kreativem Wandel und Neuinterpretation sehen, zuwider. Bezeichnenderweise unternahmen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts gewisse Neuburger wiederholt den Versuch, das überlieferte Brauchtum für die Nachwelt bleibend zu reglementieren (Schläppi 2005).

Immer noch zeigen bürgerliche Eliten der Schweizer Bundeshauptstadt großes Interesse an der Aufnahme in eine der geschichtsträchtigen burgerlichen Korporationen. Die Attraktivität und Wirkungsmacht der originär bürgerlichen Kategorien des 19. Jahrhunderts sind in konservativen Kerngruppen also ungebrochen. Dass diese Trends ausgerechnet im ausgehenden 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine neue Blüte erleben, dürfte sich durch die Dynamik der globalisierten Welt — diese lässt sich durchaus mit den an der Schwelle zum 20. Jahrhundert stattgefundenen Transformationsprozessen parallelisieren — ebenso erklären, wie mit der Renaissance von „Bürgerlichkeit” als handIungsleitender Kategorie sozialer Eliten.

Originär bürgerliche Praktiken prägen den burgerlichen Alltag. Dass diese im burgerlichen Sozialmilieu nach wie vor die Leitkultur darstellen, lässt die beteiligten Akteure im Glauben, traditionale Konzepte würden ihre Relevanz auch in Zeiten von exzessivem Individualismus und rapidem gesellschaftlichem Wandel nicht einbüssen. So bleibt die Hoffnung der Individuen intakt, die von anthropologisch inspiriertem Stammesdenken durchdrungene Korporation werde ihnen auch in einer weltumspannend vernetzen Gesellschaft, die jeden überschaubaren Handlungszusammenhang zunehmend zersetzt, Orientierung und Geborgenheit im jahrhundertealten Kontinuum des Traditionsverbands bieten. Bourgeoise Sinnsuche in der Konstruktion und Reproduktion historischer Mythen wird unter Bezugnahme auf das Konzept der invented tradition (Hobsbawm 1999 [1983]) oft als Phänomen des historistischen 19. Jahrhunderts verbucht — zu Unrecht, denn die Teilhabe an Geschichte ist für konservative Sozialeliten auch noch im 21. Jahrhundert von eminent identitäts- und sinnstiftender Bedeutung.

Gleichzeitig wirkt die von „Traditionen” gesättigte Historizität als Distinktionsmerkmal gegenüber anderen urbanen Oberschichten. Wenn auch die verfassungsrechtlichen Gegebenheiten, wie sie am Beispiel Berns gezeigt wurden, einzigartig sein dürften, so werden sich analoge Distinktionsmuster auch in verwandten sozialen Konstellationen beobachten lassen. Einige der auf die bemische Burgerschaft zutreffenden Befunde können auf vergleichbare Populationen in anderen Gegenden übertragen werden. Sind bürgerliche Oberschichten seit Generationen etabliert, beanspruchen sie allein schon aufgrund ihres Herkommens für sich einen kulturellen Vorrang, einen überlegenen Lebensstil und neigen zu einem herablassenden Umgang mit tiefer gestellten Sozialgruppen. Gestandene Eliten schauen stets und überall standesbewusst auf einfache Leute, „Neureiche” und „Emporkömmlinge” herab.

[1] Der vorliegende Beitrag basiert auf langjährigen Forschungen des Verfassers. Auf Angaben zu theoretischer Literatur und Quellen wird verzichtet, vgl. dazu Schläppi 2001.
[2] So beispielsweise jüngst im Zusammenhang mit der Realisierung des Museumsprojekts Zentrum Paul Klee, oder auch mit dem Kulturpreis der Burgergemeinde, einer mit rund 70 000 Euro dotierten Auszeichnung, die bislang ausschließlich an arrivierte Berner Künstler und etablierte bernische Kulturinstitutionen vergeben wurde.
[3] Ist hier in Bezug auf die jüngere Geschichte von der Burgerschaft die Rede, so werden darunter nicht alle der unterdessen weit über 10.000 Mitglieder der Burgergemeinde verstanden, von denen ein grosser Teil weder in Bern ansässig ist noch die spezifischen Lebenskonzepte teilt, welche im inneren Kreis des Personenverbands Gültigkeit haben. Vielmehr soll der Begriff eine Kerngruppe der städtischen Oberschicht bezeichnen. Es handelt sich um rund 2.000 Personen, die in und um Bern wohnen und sich leidenschaftlich am politischen und geselligen Leben der Burgergemeinde beteiligen. Der innere Zirkel dieser Kerngruppe, der einflussreiche Positionen besetzt, dürfte etwa aus 200 Männern in gehobenen bürgerlichen Berufen bestehen.
[4] Aus Gründen der Verständlichkeit verzichtet der vorliegende Beitrag auf die begriffliche Unterscheidung zwischen „Neu-” und „Jungburgern”, die in den neusten Untersuchungen zur Burgerschaft eine wichtige Rolle spielt (Arn 1999; Rieder 1998; Schläppi 2001; 2005). Ist in der Folge von Aufnahmebedingungen für Neuburger die Rede, so sind diese Ausführungen als idealtypische Synthese zu verstehen. Jede Einburgerung ist für sich gesehen singulär. Dennoch sind die anhand vieler Beispiele gemachten Beobachtungen verallgemeinerbar. Ausgeklammert werden hier aber die Einburgerungen mit Burgertöchtern verheirateter Männer. Für diese sogenannten „Schwiegersohnfälle” gelten grundsätzlich andere Spielregeln (Schläppi 2001: 222-226).
[5] Bereits die Aufnahmegebühren haben selektiven Charakter. Sie werden individuell festgesetzt und liegen für einen Familienvater zwischen ca. 10.000 und 30.000 Euro zuzüglich rund 5000 Euro für die Ehepartnerin und für jedes minderjährige Kind (Schläppi 2001: 209-213).
[6] Dieser zeichnet sich unter anderem durch Liegenschaftsbesitz oder mindestens eine Wohnadresse in einem der bernischen Oberschichtenquartiere aus. Als Folge dieser räumlichen Definition des Sozialmilieus besuchen Jugendliche aus burgerlichen Kreisen vielfach die gleichen Bildungsinstitute (Schläppi 2001: 115-120; Tanner 1995: 313f.).
[7] Etwa eine rigorose Haltung bezüglich Ordnung, Sauberkeit und Verkehrspolitik im öffentlichen Raum, eine skeptische Haltung gegenüber den demokratisch gewählten Gremien und den Verwaltungsinstitutionen der Einwohnergemeinde, Sympathie für das bürgerliche Modell der Geschlechterrollen. In der Tat wurde das Frauenstimmrecht in den burgerlichen Gesellschaften erst in den 1970er Jahren gegen erhebliche innere Widerstände eingeführt. Immer noch engagieren sich Frauen in erster Linie als dienende Helferinnen im wohltätigen Bereich. In den höchsten Ämtern sind so gut wie keine Frauen zu finden (Rieder 1998: 112-114, 152-154; Schläppi 2001: 330-336, 362f., 459).
[8] In höhere Ämter gelangen neu eingeburgerte Familien in der Regel erst in zweiter oder dritter Generation. Aufgrund ihres Eifers haben die neuen Familien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Nachkommen des ehemaligen Patriziates aus gewissen Chargen fast völlig verdrängt und sind zur wichtigsten Trägerschicht der Institutionen altbernischen Ursprungs geworden (Braun 2004: 201f., Schläppi 2001: 348-353). Die Selbstdarstellung der Burgergemeinde in den Medien und ihr gelegentlicher Auftritt im politischen oder kulturellen Leben pflegt das Bild eines genealogisch legitimierten Traditionsverbands, der ein schützenswertes Kulturerbe verkörpere. Selbst das linke politische Spektrum und die Presse, von wo aus eigentlich Kritik an der Existenz einer autonomen Parallelgemeinde laut werden müsste, erliegen dem Nimbus der Historie (Rieder 1998: 291f.).
[9] Burgerliche Sozialarbeiter heißen Almosner, Reglemente sind Satzungen; Präsidenten werden mit Obmann, Sekretäre mit Stubenschreiber und Rechnungsführer mit Seckelmeister angesprochen. Der Gemeinderat heißt Waisenkommission und statt von einem Subventionsfonds redet das burgerliche Bern von einem Stubengut. Auch seltsame Akzentsetzungen bei der Aussprache der Namen einiger bedeutender Patriziergeschlechter dienen der Entlarvung Außenstehender.

Literatur

Arn, Karoline 1999: „Mehr Sein als Scheinen”. Die Burgerschaft der Stadt Bern im 19. und 20. Jahr-hundert. Eine städtische Elite in ständischer Exklusivität, Lizentiatsarbeit, Bern Braun, Hans 2004: Die Familie von Wattenwyl, Bern Hobsbawm, Eric 1999 [1983]: Inventing Traditions; in: The Invention of Tradition. Ed. by Eric Hobsbawm and Terence Ranger, Cambridge, 5.1-14 Rieder, Katrin 1998: „Hüterin der bernischen Tradition”. Eine Institutionenanalyse aus kulturgeschichtlicher Perspektive, Lizentiatsarbeit, Bern Sarasin, Philipp 1990: Stadt der Bürger. Struktureller Wandel und bürgerliche Lebenswelt 1870-1900, Basel 1870-1900, Basel/Frankfurt/Main Sarasin, Philipp 1997: Stadt der Bürger. Bürgerliche Macht und städtische Gesellschaft, Basel 1846—1914, 2. Aufl., Göttingen  Schläppi, Daniel 2006: Berns burgerliche Gesellschaften; in: Andre Holenstein et al. (Hg.), „Berns Mächtige Zeit”. Das 16. und 17. Jahrhundert neu entdeckt, Bern (i. E.) Schläppi, Daniel 2001: Die Zunftgesellschaft zu Schmieden zwischen Tradition und Moderne. Sozial-, struktur- und kulturgeschichtliche Aspekte von der Helvetik bis ins ausgehende 20. Jahrhundert, Bern (= Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern, Bd. 81) Schläppi, Daniel 2005: Geschichte der Zunftgesellschaft zu Metzgern von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bern (i. E.) Siebenhaar, Beat/Stähli, Fredy 2000: Stadtberndeutsch. Sprachporträts aus der Stadt Bern, Murten Tanner, Albert 1995: Arbeitsame Patrioten — wohlanständige Damen: Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830-1914, Zürich

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