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Zivil­ge­sell­schafts­dis­kurs und Bürger­tums­de­batte

(Re-)Konstruktion eines Beziehungsgeflechts

aus: Vorgänge Nr.170 ( Heft 2/2005 ), S.45-52

Auf die Frage, ob die Bundesrepublik eine bürgerliche Gesellschaft sei oder sich dies nur einbilde, antwortete jüngst der Historiker Reinhart Koselleck: „Sie ist beides. Sie bildet sich etwas ein und ist es objektiv.” (Hettling/Ulrich 2005: 40) Durch seine Anmerkung, dass jede Gesellschaft, da immer auch politisch verfasst, eine bürgerliche ist, stellt sich die Frage, was sich die Gesellschaft einbildet, wenn sie sich als eine bürgerIiche stilisiert und was sie überhaupt unter „bürgerlich” versteht. Diese Probleme sollen im folgenden anhand der seit den 1990er Jahren geführten Bürgertumsdebatte diskutiert werden. Zunächst kreiste diese Auseinandersetzung darum, ob und inwieweit die zentralen Begriffe der Analysen für „das lange 19. Jahrhundert” – „Bürgertum”, „Bürgerlichkeit” und „bürgerliche Gesellschaft” – auf die bundesrepublikanische Gesellschaft nach 1945 angewandt werden können. Gegenwärtig scheint aber diese Frage keine Relevanz mehr zu besitzen. Vielmehr, so die These, wird in der Geschichte der Bürger nach Fragmenten gesucht, welche bei der Konstruktion eines neuen gesellschaftlichen Leitbildes hilfreich sein könnten. Diese Verschiebung der Fragestellung ist jedoch kein Resultat der Forschungsdebatte, sondern steht mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussionen um eine „Zivilgesellschaft” in engem Zusammenhang. Deswegen soll im folgenden nach den Bedingungen und Bedeutungen des diskursiven Erstarkens von „Bürgertum” und „Bürgerlichkeit” bzw. nach den Ursachen der gegenwärtigen Suche nach bürgerlichen Kontinuitäten in Sozialstruktur und Habitus gefragt werden.

Ein wissenssoziologisch diskursanalytischer Perspektive kann hier helfen. Sie besitzt den Vorteil, die verschiedenen Begriffsbestimmungen nicht ausschließlich auf die Sachdimension hin beobachten zu müssen, sondern vielmehr auch die soziale und die zeitliche Dimension wissenschaftlicher Forschung in die Analyse mit einbeziehen zu können (vgl. grundlegend Luhmann 1984: 92-147). Während die Sachdimension vor allem Aufschlüsse über den Wahrheitsgehalt liefert, kann die soziale Dimension die Relevanz und Plausibilität, die zeitliche Ebene dagegen das historische Aufkommen und die Moden verschiedener Begriffskonstruktionen thematisieren.

Karl Mannheim und Michel Foucault sind die Paten eines solchen Blicks. Beide ersetzten einen erkenntnistheoretisch fundierten absoluten Wahrheitsbegriff durch einen relationalen, um Beziehungen zwischen Wissensgehalten bzw. Aussagen in einem Diskursfeld aufzeigen zu können. In dieser Perspektive offenbart sich nun, wie die Thematisierung und Akzentuierung der Begriffsfacetten von „Bürgertum” und „Bürgerlichkeit” sich in den letzten Jahren verschoben haben. Denn je nach deren Konturierung werden jeweils plausible Anschlüsse an gegenwärtige gesellschaftliche Selbstthematisierungen — wie die der Zivilgesellschaft — gesucht.

Zunächst soll die Bürgertumsdebatte nachgezeichnet werden, um dann die ihr inne wohnende Entwicklung mit den Diskussionen um die Zivilgesellschaft in Beziehung zu setzen, deren gemeinsamer Fluchtpunkt das Konstruieren einer spezifischen bürgerlichen Identität zu sein scheint.

Die Bürger­tums­de­batte in der Geschichts­wis­sen­schaft seit den 1990er Jahren

Seit den 1990er Jahren wurde vermehrt versucht, die Kategorien der einflussreichen historischen Bürgertumsforschung auf den Bereich der Zeitgeschichte zu übertragen. Hatte man sich für die Forschungen zum 19. Jahrhundert auf mehr oder weniger klare Begriffe und Kriterien verständigt (vgl. u.a. Kocka 1988), so zeigten sich schnell Schwierigkeiten bei einer direkten Übertragung: Eine wirkmächtige Sozialformation Bürgertum ließ sich in der Bundesrepublik schwer nachweisen. Es begann eine Debatte mit sich überkreuzenden Positionen, bei welcher zunächst gefragt wurde, ob wir in einer Gesellschaft leben, welche mit der Begriffstrias „Bürgertum”, „Bürgerlichkeit” und „bürgerliche Gesellschaft” adäquat beschrieben werden kann. Alsbald änderte sich jedoch die Fragestellung: Nunmehr wurde versucht, verschiedene Facetten von „bürgerlich” und „Bürgertum” wiederzufinden. Dadurch fiel jedoch die Begriffstrias zunehmend auseinander; die einzelnen Kategorien wurden unscharf.

Anfangs existierten in der Diskussion zwei Pole. Auf der einen Seite stand der Bochumer Historiker Hans Mommsen als Vertreter der bis in die 1990er Jahre fast durchgängig akzeptierten Position: Unter der Prämisse, dass das Bürgertum im 19. Jahrhundert eine einheitliche soziale Formation mit einem spezifischen Wertebewusstsein und nicht nur eine Mittelschicht gewesen sei, konstatierte er dessen Untergang im 20. Jahr-hundert. Denn die sozialen Grundlagen, wie auch die für das Bürgertum kennzeichnenden Wertvorstellungen und Lebensformen, seien während der Weimarer Republik weit-gehend ausgehöhlt worden (vgl. Mommsen 1991). Diese skeptische Position teilten mit ähnlichen Argumenten auch Jürgen Kocka und Lothar Gall: die Übertragung historischer Kategorien auf die Bundesrepublik müsse sie unscharf machen.

Auf der anderen Seite steht man dagegen dieser Übertragungsmöglichkeit offener gegenüber. So öffneten das Argument einer externen „Restabilisierung und Restrukturierung einer bürgerlichen Gesellschaft” (Niethammer 1990: 528f.) durch die Westalliierten und die These, dass eine bürgerliche Gesellschaft auch ohne stabiles Bürgertumexistieren kann (Wilharm 1990: 612), ein Feld für die zeithistorische Bürgertumsforschung. Jedoch löste sich hier die Verknüpfung zwischen der Sozialformation „Bürgertum” und der „bürgerlichen Gesellschaft”; letztere wird verstärkt über „Bürgerlichkeit” als Habitus beschrieben.

Hannes Siegrist stellte Skeptiker und Optimisten hinsichtlich der Existenz von bürgerlichen Strukturprinzipien, Wertvorstellungen oder Trägergruppen einander gegenüber, wobei die „Krise und das Ende von Bürgertum und Bürgerlichkeit […] geradezu ein Mythos [seien], dem sich die Historiker und Gesellschaftswissenschaftler nur schwer entziehen können” (Siegrist 1994: 563). Deswegen nimmt er gegenüber den Stimmen der Skeptiker eine skeptische Position ein. Denn bürgerliche Strukturprinzipien, Rollenleitbilder, Mentalitäten und Verhaltensweisen hätten sich nach 1945 zäh erhalten und gingen immer neue Kombinationen ein, die ihren Charakter und ihr Gewicht erheblich veränderten. Damit nimmt Siegrist jedoch eine Pluralisierung der Begriffstrias in Kauf. Denn gerade mit dem Argument des dynamischen Wandels können jetzt den Begriffen neue Bedeutungen unterlegt werden und neue Verbindungen geknüpft werden. Dadurch rückt die Deutungsfülle des Begriffs Bürger wieder in den Vordergrund, die zwar neue Anschlüsse ermöglicht, aber die Kategorie zunächst erst einmal aufweicht. Aus der Debatte wird eine Arbeit an Begriffen bzw. eine „Arbeit am Mythos” (vgl. Blumenberg 1979).

Den Versuch, die Kategorien zeitgemäß zu modernisieren, unternimmt schließlich Hans-Ulrich Wehler in zwei gewohnt pointierten Aufsätzen. Im ersten Beitrag bezieht er die bürgerliche Zielutopie auf die Gegenwart. Dabei wird auf der einen Seite die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft von der Sozialformation Bürgertum historisch entkoppelt, denn aus „der Vogelperspektive betrachtet” war das Verfechten der bürgerlichen Zielutopie „keineswegs an das Substrat ihrer bürgerlichen Protagonisten gebunden.” (Wehler 2000: 89) Auf der anderen Seite wird jedoch diese Zielutopie explizit an die gesellschaftliche Selbstbeschreibung als Zivilgesellschaft angeschlossen. So kann er die enthistorisierte Zielutopie auf das gesellschaftspolitische Tableau holen und der „Renaissance der ,Bürgerlichen Gesellschaft‘ in Gestalt der ,Zivilgesellschaft` jede politische und intellektuelle Unterstützung” (Wehler 2000: 92) zukommen lassen. In dem Zusammenschluss von Vergangenheit und Zukunft durch die Verknüpfung des vagen Begriffs der bürgerlichen Utopie mit einer normativen Konzeption von Zivilgesellschaft erreicht die Debatte eine andere Ebene. Festzuhalten bleibt, dass es aus dieser Sicht plausibel wird, auch in der Gegenwart nach bürgerlichen Elementen zu fahnden.

Im zweiten Aufsatz versucht Wehler zu zeigen, dass die gesamte Begriffstrias auf die Bundesrepublik übertragbar sei und zudem der sozialen Ungleichheitsforschung unterstützend unter die Arme greifen könnte. Denn der (neu-)bürgerliche Lebensstil korreliere mit sozialer Ungleichheit, welche aber durch die zur „Vielfaltforschung” verkommene Ungleichheitsforschung aufgelöst werde. Anhand seines Fazits lässt sich eine Verschiebung der Fragestellung feststellen: „Man kommt um die Anerkennung bürgerlicher Kontinuität und bürgerlichen Aufstiegs nach 1945 nicht herum. [,..] Aber eins haben die kontinuierliche Expansion des Bürgertums und seine Ausstrahlungskraft bisher nicht herbeigeführt: eine fundamentale Auflösung der Ungleichheitsstrukturen, die weiterhin einem schwer schmelzbaren Metallkörper gleichen.“ (Wehler 2001: 633f.) So ist aus der Ausgangsfrage nach der Übertragungsmöglichkeit der historischen Kategorien die Frage geworden, wie man die negativen Aspekte (Ungleichheitsproduktion) der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft minimieren könne.

Diese neue Fragestellung greift nun auch Eckart Conze in einer Replik auf Wehler auf, die letztlich jedoch am Kernargument vorbeigeht. Denn auch er findet die Begriffe der historischen Bürgertumsforschung auf die Gegenwart anwendbar, da man „nicht Identität, Homogenität oder Beständigkeit sozialer Formationen postulieren [müsse, S.M.], um sie über einen längeren Zeitraum untersuchen zu können.” (Conze 2004: 529) Durch dieses Argument wird es nun aber zunehmend schwieriger zu unterscheiden, inwieweit sich Begriff oder Gegenstand verändert haben. Das durch die begriffshistorische Forschung erreichte Reflexionspotential wird so wieder aufgegeben.

Ankunft in der Gegenwart? Die Bürger­tums­de­batte heute

Jüngst fragte ein Sammelband zum Bürgertum nach 1945, welche „Traditionen an Bürgerlichkeit nach 1945 noch vorhanden waren und in welchem Maße sie prägend wirkten” (Hettling 2005: 9), lässt aber hinsichtlich der Existenz wirkmächtiger bürgerlicher Muster keinen Zweifel aufkommen, denn mit „Abgesängen auf den Bürger sollte man […] vorsichtig sein. Noch jedes Mal haben sie sich als verfrüht erwiesen.” (Hettling 2005: 13) Die Hauptthesen des Bandes bestehen zum einen darin, dass die politische Aktualität der Bürgeridee auch auf den „fortdauernden Elementen von Bürgerlichkeit” als „wirkungsmächtige[n] Faktoren in der Geschichte der Bundesrepublik” (Hettling 2005: 19) beruht. Zum anderen ließe sich die Geschichte der Bundesrepublik nicht ohne diese Bürgerlichkeitselemente hinreichend erklären. Wie schon Conze und Wehler gestehen die Autoren dem Kulturmuster „Bürgerlichkeit” eine hohe Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit zu. Doch wird der Begriff „Bürgerlichkeit” zugleich recht hoch gehängt, denn erst „in der Synthese von Staatsbürgerlichkeit, persönlicher Selbständigkeit als Individuum und einer hinreichenden sozioökonomischen Fundierung konstituiert sich Bürgerlichkeit als Gesellschaftsmodell.” (Hettling 2005: 20; Hervorh. S.M.) Damit wird eine modernisierte Begriffsbestimmung auf der Folie des Zivilgesellschaftsdiskurses in Anschlag gebracht, welche mit der historischen Bürgertumsforschung nur noch wenig gemein hat (vgl. hierzu Kocka 1988: 17ff.; Lundgreen 2000). Ein Motiv hierfür lässt sich am Ende des einleitenden Aufsatzes finden: „Selbstverantwortung als neues Zauberwort” im gesellschaftlichen Diskurs könne nur wirkungsvoll propagiert werden, wenn es eine politische Verankerung und eine gesellschaftliche Utopie gebe. An diesem Punkt lohne es sich, „erneut über Bürgerlichkeit nachzudenken und mit bürgerlichen Traditionen zu argumentieren.” (Hettling 2005: 37) Anscheinend handelt es sich um die Konstruktion einer politisch-gesellschaftlichen Utopie mit Hilfe des Rekurses auf Bürgerlichkeit, um so den Begriff der Selbstverantwortung der neoliberalen Deutung zu entkleiden und ihn mit der zivilgesellschaftlichen Sphäre zu verknüpfen.

Auf der Sachebene ist zusammenfassend festzuhalten, dass zunächst die Begriffe der historischen Bürgertumsforschung versuchsweise auf die zeithistorische Forschung übertragen wurden. Um diese aber auf die Gesellschaft nach 1945 anwenden zu können, wurde verstärkt mit der realen Wandlungsfähigkeit von „Bürgertum”, „Bürgerlichkeit” und „bürgerlicher Gesellschaft” argumentiert. Die damit verbundenen neuen Konnotationen und Bedeutungsfacetten konnten dann mit Hilfe des Bedeutungsreichtums des Bürgerbegriffs historisch rückgebunden werden. Daraus entstanden im Vergleich zur historischen Bürgertumsforschung vielschichtigere und wandlungsfähige Kategorien, welche jedoch dabei zunehmend unscharf wurden. Das Herauskristallisieren von Bürgerlichkeitselementen stellt damit aber nur noch geringen Erkenntnisgewinn in Aussicht.

Warum ist es überhaupt von Bedeutung, Facetten von „Bürgerlichkeit” nach 1945 zu finden? Warum wird das Aufweichen von erfolgreichen Kategorien akzeptiert? Weil es sich – so meine These – um Konstruktionsprozesse von Identität handelt, denn genau an diesem Punkt berühren sich die bisher geschilderte wissenschaftliche Bürgertumsdebatte und die gesellschaftlichen Diskussionen um eine – wie auch immer verstandene — Zivilgesellschaft. Obwohl schon oft über Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Bürgerlichkeit und Zivilgesellschaftlichkeit gestritten wurde, soll im folgenden durch die Einbeziehung der gesellschaftlichen Gegenwartsdiagnostik als Zivilgesellschaft nunmehr auch die Sozial- und Zeitebene der Bürgertumsdebatte aufgeschlossen werden. Denn gerade über den gemeinsamen Fluchtpunkt beider Diskussionen – dem unhinterfragten Streben nach einer gesellschaftspolitischen Identität – können die wechselseitigen semantischen Verknüpfungen verständlich werden.

Normative Verschrän­kung: Zivil­ge­sell­schafts­kon­zep­ti­onen und Bürger­lich­keit

Die Rede von einer Zivilgesellschaft ist eng mit dem gesellschaftlichen Umbruch in den osteuropäischen Staaten 1989/90 verbunden. Wie tief auch immer das semantische Verhältnis zu diesem Epochenbruch tatsächlich sein mag: Die zeitliche Parallele zwischen der wissenschaftlichen Bürgertumsforschung und dem diskursiven Erstarken der Zivilgesellschaft bleibt erstaunlich. Die Vermutung liegt somit nahe, dass sich beide nicht unabhängig voneinander entwickelt haben, sondern vielmehr aufeinander beziehen.

Um auf die soziale Ebene zu gelangen, sollen zunächst zwei Positionen in der Thematisierung von Zivilgesellschaft unterschieden werden. Auf der einen Seite gibt es verschiedene Konzeptionen, welche den gesellschaftlichen Ort (weder Staat, noch Wirtschaft oder Familie) oder auch die soziale Qualität (u.a. Geneinwohlengagement, Gewaltfreiheit) von Zivilgesellschaft in das Zentrum ihrer Analysen stellen — gemeinsam ist diesen Konzepten ein normatives Verständnis des Begriffs. Auf der anderen Seite wird eher eine Historisierung und Kontextualisierung des Zivilgesellschaftsdiskurses angestrebt, um über dessen Konstruktion und Mechanismen Auskunft geben zu können – diese Perspektive versteht sich als deskriptiv (vgl.: Kocka 2002: 16f.).

Aufgrund der Heterogenität der Ausgangsprämissen und Gegenstandbeschreibungen soll folgend der normative Strang zivilgesellschaftlicher Konzeptionen genauer in den Blick genommen werden, um die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit beschreiben zu können. Der normative Diskurs wird als Analysegegenstand ernst genommen, aber mit Hilfe einer deskriptiven Perspektive auf Zivilgesellschaft beobachtet, um so die Verschränkung zwischen der Zivilgesellschaft und der Bürgertumsdebatte auf der Sozialebene anhand von Plausibilitäten und Begriffsmoden sichtbar zu machen.

Zahllose Positionen tauchen in den Debatten auf: Gerhard Schröder geht es „um eine ,Zivilisierung des Wandels‘ durch politische Integration und ein neues Bürgerbewusstsein” (Schröder 2002: 186), für Julian Nida-Rümelin stellt die Zivilgesellschaft ein „ethisches Projekt” dar (Nida-Rümelin 2002: 254). Beschwörend wird von Bürgerengagement, -bewusstsein, -gesellschaft oder -beteiligung gesprochen, um gesellschaftliche Integration durch Identifizierung als Bürger zu erreichen. Der Begriff „Bürger” bleibt dabei schillernd vieldeutig. Claus Offe vergleicht bürgerschaftliches Engagement gar mit Pornographie, da beide Phänomene „der Erfahrung unmittelbar zugänglich, aber begrifflich schwer zu fassen” sind (Offe 2002: 276). Um dieser Definitionsnot etwas Abhilfe zu verschaffen, wird dann auf die historische Gestalt des Bürgers rekurriert, welcher nunmehr „als Leitbild einer kommenden und gewünschten Gesellschaft” (Bude 2005: 116) gilt. Insofern wird über einen renovierten Bürgerbegriff versucht, „Tradition für Zukunft zu nutzen.” (ebd.) Hier kommt es zu einer Verschränkung zwischen der Bürgertumsdebatte und den normativen Konstruktionen einer Zivilgesellschaft: Die „Selbständigkeit als Bürger […][ist] erforderlich, um […] eine bürgerliche Gesellschaft zu bilden” (Hettling 2005: 37).

Die Verschränkung beider Diskurse geschieht jedoch weniger in der Sachdimension, als vielmehr in der Sozialdimension, auf der Verknüpfungen über Plausibilität und Relevanz hergestellt werden. Indem das Projekt der Zivilgesellschaft als relevant empfunden wird, entstand erst die Frage nach dem bisherigen gesellschaftspolitischen Erfolg der Bundesrepublik nach 1945. Erst der allgemein reetablierte Bürgerbegriff ließ die Antwort, dass der Erfolg in den weiterhin vorhandenen Elementen von Bürgerlichkeit zu finden ist, plausibel werden.

Die vorgenommenen Anschlüsse an die Bürgertumsdebatte sind an einigen Argumenten ablesbar. So wird angemerkt, dass der Untergang des Bürgertums sich in der Forschung immer wieder verschoben hat. Dadurch kann die Motivation begründet werden, auch nach dem vermeintlichen Verschwinden des Bürgertums noch nach diesem zu fahnden. Ein zweites Argument besteht in dem Hinweis auf die Wandlungsfähigkeit des Bürgertums gleich einem Chamäleon (vgl. Bude 2005: 123), welches die Kontinuität in den Vordergrund rückt. Drittens wird konstatiert, dass sich bürgerliche Verhaltensweisen diffundiert haben. Dadurch kann erklärt werden, dass Bürgerlichkeit auch ohne stabiles Bürgertum weiterzuexistieren vermag. Mit Hilfe dieser Argumente kann die Bürgertumsforschung als Fundament für die Diskussionen um eine Zivilgesellschaft dienen. Doch war dies nur möglich, weil die gesellschaftliche Konstruktion einer Zivilgesellschaft Bürgertumsforschung nach 1945 überhaupt erst plausibel gemacht hatte. Damit greifen aber die gesellschaftspolitischen Diskussionen in die wissenschaftliche Konstruktion der bundesrepublikanischen Geschichte nach 1945 ein, was den Erkenntnisgewinn der historischen Forschung deutlich verringert, da er vorwiegend auf einer semantischen Begriffsmode aufbaut. Die Verknüpfung normativer Ansprüche mit analytischen Kategorien konfrontiert die Geschichtswissenschaft wieder mit ihrer historiographischen Schwäche, die man längst überwunden geglaubt hatte. Historischer Erkenntnisgewinn ist jedenfalls nur dann zu erwarten, wenn klare, analytische Kategorien benutzt werden und gegenüber Begriffskonjunkturen eine besonders skeptische Haltung eingenommen wird. In der gegenwärtigen Bürgertumsdiskussion scheinen da Zweifel angebracht.

Literatur

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der westdeutschen Gesellschaft und Geschichtswissenschaft der Nachkriegsperiode; in: Geschichte
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52 vorgänge Heft 2/2005, S. 45-52
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