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Jenseits von Verfalls­klage und Renais­sance­ju­bel: Bürger­li­ches Leben in der Gegenwart

aus: Vorgänge Nr. 170 ( Heft 2/2005), S.80-86

Weder verschwinden momentan der Bürger, das Bürgertum, das Bürgerliche, noch erfahren sie gerade eine Renaissance. Sie existieren einfach, seit dem 19. Jahrhundert bis heute, und in durchaus ähnlicher Weise. Das Auf und Ab der Diskurse und Diagnosen berührt einen Menschentyp nicht, der unter den Bedingungen der modernen Welt ein selbst gestaltetes und frei geordnetes Leben führen will. Der Sinn des Bürger-Begriffs in der gleichwohl schwelenden Debatte ist ein vielfacher. Keiner dieser vier „Bürger” ist der aufgeregten Diskussion bedürftig.

Der „Bürger” als Staats­bürger

Staatsbürger sind und bleiben wir alle, auf der heutigen Stufe politisch-sozialer Verfasstheit. Der politische Bürger ist Gegenstand der Reflexion seit Aristoteles, der ihn partikularistisch-ausschließend dachte; „Bürger” sind bei ihm die wenigsten. Universalistisch wird er gedacht erst in der Moderne, seit Thomas Hobbes‘ individualistischer Staatsbegründung, mit Verwirklichungsschritten in den Monarchien des 18. Jahrhunderts, in der Französischen Revolution und durch den Code Napoleon, dann durch die Verfassungen des 19. Jahrhunderts, mit tatsächlichen Hemmnissen, etwa im preußischen Drei-Klassen-Wahlrecht bis 1918. Ein politisch teilhabendes, allgemeines Staatsbürgertum, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichheit der politischen Rechte sind seither das Selbstverständliche. In diesem politischen Sinne ist der Bürger die Folge-Figur des zuerst durch den Absolutismus des 18. Jahrhunderts vereinheitlichten, unterschiedslos dem Staat gegenübergestellten Untertanen.

Darüber braucht man nicht weiter zu reden, auch nicht über den gewünschten Grad der Engagiertheit dieses Bürgers. Zunächst ist es durchaus ausreichend und politikphilosophisch befriedigend, wenn er im freiheitlichen Rechtsstaat sein Wahlrecht ausüben kann und ausübt.

Der „Bürger” als Akt einer Selbst­zu­schrei­bung empha­tisch-e­li­tärer Art

In der Form elitärer Selbstzuschreibung verbindet sich mit dem „Bürger” humanistische Bildung, selbständige (Hettling 2000) oder akademisch-staatsdienstliche Arbeit, Orientierung an der Hochkultur und am Staat, dabei durchaus noch eine Thomas Mannsche Abwehr von Zumutungen des Politischen in der eigenen Lebenssphäre und die kulturkritische Skepsis der Vermassung und Verflachung des modernen Lebens.

Dieser „Bürger” ist, so jedenfalls Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest in einem Interview mit dem Magazin Cicero, verschwunden (FesdSiedler 2005). Mit diversen Ein-drücken begründen beide ihre Diagnose: Man sehe keine Krawatten mehr auf dem Kudamm; die Gesellschaft Berlins kenne weder Bürgertum mehr noch Kleinbürgertum; es gebe keinen geltenden Kanon von bürgerlichen Werten mehr, keine Zuverlässigkeit, Gesetzestreue und kein ernstes Staatsbürgertum, überhaupt keine großen Verbände, an die sich ein Bürgertum anschließen könne; der seit dem Nationalsozialismus die Deutschen besetzende Begriff der Volksgemeinschaft verunmögliche ein Bürgertum, das von Abgrenzungen und Differenzbewusstsein lebe; in der Konsens-Demokratie könne es kein Bürgertum geben; das Bürgertum bestehe aus einem Leben in geordneter Freiheit, für das es aber einen bestimmten Menschen brauche (also dieser Mensch und dieses Leben verschwänden); der Analphabetismus in Deutschland bedrohe Bürgerlichkeit.

Solche Impressionen lassen einen zunächst ratlos. Man befreie sich aus dieser bürgerlichen Endzeitstimmung durch einen entschlossenen Blick in die Welt, „auf der Suche nach Wirklichkeit” (Helmut Schelsky). Siedler und Fest können keine Bürger dieses Zuschnitts mehr entdecken — aber es gibt sie, mutmaßlich sogar recht zahlreich, selbst den Beamtenbürger, den Siedler verschwunden glaubt wie den Hansebürger. Die immerhin feststellbaren Wandlungen der Bürgerlichkeit sind positiv: Kulturkritik spielt für die nachwachsenden Bürger nicht mehr die Rolle, die sie lange und noch für Siedlers und Fests Generation spielte. Auch die Frage „politisch oder unpolitisch?” wirkt heute alt. Politisches Interesse, politische Gespräche und die Lektüre einer guten Zeitung sind selbstverständlich. Die Selbständigkeit ist selten geworden; aber angestellte Akademiker empfinden sich als geistig hinreichend selbständig und haben ihr bürgerliches Selbstbewusstsein von der Form (heute durchaus auch von der Existenz) des Arbeitsvertrages längst entkoppelt.

Der Blick in meinen Freundeskreis trifft auf lauter bürgerliche Mittdreißiger (und diese Freunde haben wiederum Freundeskreise voller Bürger): der Diplomat und die ministerialbeamtete Juristin, die keinen Liederabend versäumen, mit allseits durch kultivierten Konsumgewohnheiten, sie klavierspielend, er Klassisch-Bürgerliches lesend, mehrsprachig und europäisch beheimatet; der promovierte Historiker und die promovierte Kunsthistorikerin, er in hohem Amt in bürgerlicher Partei, sie pendelnd im süddeutschen Museumsdienst, Kunst sammelnd; der geisteswissenschaftliche Hochschulassistent und die Innenarchitektin zwischen hauptstädtischer Kultur und Jahrhundertwende-Landhaus, die politische Journalistin und der Klinikarzt, theaterorientiert, klassische und spanische Musik ausübend, mit Baby und stets Abendgäste-offener Wohnung, der Wissenschaftsjournalist und die nach Norden pendelnde Forschungsinstituts-Biologin, um ein gelingendes Leben der Balance zwischen Berufen und zwei Kindern ringend, gesprächeliebend und weltläufig; das Jungverlegerpaar, kunstsinnig und -sammelnd, exzessiv lesend, der Waldspaziergänge so bedürftig wie der Vernissagen, die promovierte Unternehmensberaterin und die Psychologin, an allem interessiert und an vielem teilhabend, was die Feuilletons besprechen; der Künstler, lesende Maler, kunstgeschichtlich orientiert und versiert, in großzügigem Altbau-Atelier, mit gelegentlichen Runden um eine durchaus bürgerliche Tafel. Alle diese Bürger sind bereit zu finanziellem Engagement. Sie machen sich viele Gedanken, etwa über die Frage, wie man in den partnerschaftlich-zweifachen bürgerlichen Lebensentwurf Kinder integriert. Das einzig Beklagenswerte scheint heute zu sein, dass so viele bürgerliche Menschen mit 35 beruflich noch keinen festen Boden unter sich fühlen oder so viele gar arbeitslos sind. Aber das macht sie nicht unbürgerlich.

Und es gäbe ihn nicht, den Handwerker- oder Unternehmer-Bürger im Stadtrat? Und in den deutschen Parlamenten säßen keine Bürger? Und in Hamburg gäbe es keinen gebildeten und politisch tätigen Kaufmanns-Bürger? Auch Siedler und Fest möchte man zurufen, was die Süddeutsche Zeitung jüngst den schnöselig-abgrenzungssüchtigen Dandy-Konservativen, den Alexander von Schönburgs und Christian Krachts, zurief: „Jungs, macht Euch mal wieder locker!”

Der „Bürger” als der vorherr­schende soziale Typ

Was hat es auf sich mit der Beobachtung, bürgerliches Verhalten und bürgerliche Werte (Kunstsammeln, Mäzenatentum und Salon, Familien-, Werte- und Leistungs-Diskurse) erführen gegenwärtig eine Renaissance? Die Bürger im exklusiven Sinne haben nie auf-gehört, Kunst zu sammeln, sie haben nie aufgehört, sich zu treffen, sich Vorträge zu halten und Gespräche über Kultur und Gesellschaft zu führen; man denke nur an Rotarier und Lions-Club in jeder noch so kleinen Stadt. Dass Sammeln und Salon im Kommen seien, mag erstens ein Berliner Eindruck sein und wäre, wenn es zuträfe, ein Ausdruck der seit dem Kaiserreich ununterbrochen zunehmenden Verbreitung bürgerlicher Lebensformen – und wäre zudem im Falle des Sammelns ein Ausdruck des immens gestiegenen Angebotes moderner Kunst und ein Ausdruck des Attraktivitätsverlusts von Aktien.

30-40jährige Neu-Berliner setzen selbst in solcher Salon-Seligkeit doch nur die nie gefährdete Bürgerlichkeit ihrer 68er-Eltern fort, die ihrerseits die ausgeprägte Bürgerlichkeit der frühen Bundesrepublik weitergetragen haben (seit Schwarz 1981 immer neu bestätigt, zuletzt Hettling et al. 2005). Bürgerlichkeit war längst das Übliche, seit die Gesellschaft des Kaiserreichs sich zu verbürgerlichen begonnen hatte (Nipperdey 1994). Bürger sind wir so viele wie nie in der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft” (Helmut Schelsky). Dass es in jener Gesellschaft fortdauernde Differenzen gibt, was man heute mit klugem Gesicht stets einwendet, hätte Schelsky nie bestritten. Aber die von ihm beschriebene Tendenz zum Abklingen von Spannungen und Unterschieden bestand in den 1950er und 1960er Jahren unbestreitbar.

In dieser „Mittelstandsgesellschaft” der Bundesrepublik ist die überwiegende Mehrheit zwar unselbständig, angestellt, aber in Konsumgestaltung, Lebensstil und sozialen Leitbildern als durchaus bürgerlich anzusprechen (Freyer 1959). In ihr unterschieden sich nach 1945 dennoch etwa die Akademiker von den anderen: indem sie Hausmusik machten oder in Politik und Öffentlichkeit mit Führungsanspruch präsent blieben (Siegrist 1994). Erster Weltkrieg, Revolution, Republik, Inflation, Nationalsozialismus und Krieg hatten zwar eine Krise des Bürgerlichen in Selbstgefühl und sozialem Status erzeugt, die aber doch offenbar überwunden wurde. Die Erfolgsgeschichte der Verbürgerlichung war dabei seit Nietzsche stets begleitet von Bürgertums-Kritik (Conti 1984), die in der Jugendbewegung, in Expressionismus, Nationalsozialismus und 68er-Bewegung hohe Wellen schlug, jenen Prozess aber doch nicht hinderte, ihn eher geistig er-frischte und belebte. Und die 68er haben Familie, Ordnung, Leistung und Karriere mit Leichtigkeit unter guten Rahmenbedingungen gelebt, sich dabei bloß geleistet, anders zu reden. Gegen Verfallsklagen wie Renaissancejubel sprechen im übrigen auch die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung, die keinerlei Verfall etwa der individuellen Wertschätzung von Leistung in der Bundesrepublik seit den 1960er Jahren feststellen konnte (Bolte 1993).

Diese fest gegründete Bürgerlichkeit scheint auch nicht grundsätzlich gefährdet durch etwaige Veränderungen der Lebenssituation einzelner ihrer Träger. Single-Dasein und Kinderlosigkeit oder prekäre Arbeitsbiographien und Geldeinbußen machen nicht aus einem Bürger einen Nicht-Bürger, sondern aus einem vielleicht glücklichen einen unglücklichen Bürger und aus einem vielleicht sorglosen einen verunsicherten Bürger, aus einem Bürger mit Arbeit einen immer wieder auch ohne Arbeit. Wenn man die Chance hatte, einen bürgerlich-geistigen Lebensstil zu erwerben, kann man ihn auch mit weniger Geld und in schwieriger Zeit aufrechterhalten.

Welche Differenzierungen sind nötig, welche bisher unterbliebenen Unterscheidungen? Die klassische Unterscheidung zwischen citoyen und bourgeois in der Bürgertumsdebatte hilft nicht mehr; der deutsche Bürger-Begriff meint und fordert seit langem beides. Wie steht es um die Unterscheidung von Bürgern und Kleinbürgern? Sind wir ein „Millionenheer von Kleinbürgern” (Prinz Asfa-Wossen Asserate), die nichts als die Arbeit und den gelegentlichen Urlaub im Kopf haben, nach 1945 „eine amorphe, fleißige Masse [..], die keinen Ehrgeiz hatte außer Volkswagen und Rimini” (Wolf Jobst Siedler)? Das sind maßlose Vereinfachungen. Es gibt diese Reduktion in den Köpfen, aber es gab und gibt dort auch Subtileres. Und das ganz Subtile war noch nie in der Mehrheit der gleichwohl bürgerlichen Köpfe. Auch die Abgrenzungsversuche jüngerer Autoren wie Alexander von Schönburg oder Christian Kracht kommen für unsere Frage nicht in Betracht: In der U-Bahn etwa, die von Schönburg so unangenehm findet, sind viele Bürger unterwegs.

Was folgt aus Paul Noltes wiederholter Wiederentdeckung der „Unterschichten”, deren Leitbild der Verbürgerlichung zerbröckelt sei (Nolte 2004)? Seit zwei Jahrzehnten sei die neue Massenkultur zu einer Klassenkultur der Unterschichten geworden, mit den Problemfeldern Ernährung, Gewaltvideos und latenter Gewalt, Massenmedien vom„Unterschichtenfernsehen” bis zu den Bohlen- und Effenberg-Büchern, elektronischen autistischen Dauerspielen, Unhöflichkeit, Schulscheitern und Bildungsmangel und Jogging-Hose am Sonntag. Die Gesellschaft sei vielfältig gespalten, zwischen RTL2 und Arte, Aldi und Edelitaliener, zwischen Marken und Automodellen „oben” und „unten”. Überall bestünden Unterschiede und Segmentierungen und Klassenprägungen, auch räumlich segregiert in Stadtteilen; überall sei Schelsky überholt und widerlegt (wenn er überhaupt jemals Recht gehabt habe). Dabei geht es hier, das sieht auch Nolte, nirgendwo zuerst um Geldmangel (der Unterschichten-Lebensstil ist teuer!), sondern um Mangel an kulturellen Ressourcen, um die Sozialisation in problematische Lebensformen, Verhaltensweisen und Konsummuster.

Das alles ist wohl wahr. Aber die Frage bleibt: Waren diejenigen früher geistiger, die heute viel RTL2 sehen? Neuere Studien belegen die Nivellierung des Medienkonsums: Ob wohlhabend, ob Akademiker oder ob beides nicht — alle sehen alles, jeder guckt überall mal rein; „Unterschichtenfernsehen” gibt es nicht (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 28. April 2005). Schon immer lebten viele beklagenswert dumpf und passiv und formlos ihr Leben. Hier waltet offenbar bei Nolte ein utopisches Moment; denn nicht aus allen Menschen werden „Bürgerliche”. Dass es stets so viele wie möglich werden, muss das Ziel jeder Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik sein.

Wieder innerhalb der Sozialgruppe der bürgerlich Lebenden sollte man mit einer größeren Spanne von Lebensformen und -inhalten rechnen als man das im bildungsbürgerlichen Deutschland oft zu tun bereit war. Es ist nicht so leicht, jemandem „Bildung” zu- oder abzusprechen. Das Bemühen jedenfalls, ihrer auf klassischem Wege habhaft zu werden, ist recht groß, selbst in Berlin: Jedes Konzert der Philharmoniker ist ausverkauft, jeder Lessing- und Goethe-Abend des Deutschen Theaters auch, die Lindenoper sehr gut ausgelastet, Kunst- und historische Ausstellungen sind Publikumsmagneten (der Verweis auf die „Event-Kultur” ist miesepetrig und hochnäsig). Daneben gibt es keinen Grund, denjenigen aus dem Phänomen „Bürger/bürgerlich” auszusortieren, der von solcher Hochkultur kaum noch etwas wahrnimmt und seine Zeit stattdessen der Science-Fiction-Literatur widmet oder den Platten der Berliner Elektro-Szene oder der Kunst des Kochens oder der Pflege des Gartens. Es macht keinen Sinn, hier zu eng und elitär zu sein. Auch der eher traditionelle Bildungsbürger hat immer neu zu begründen: Warum heute Schiller? Wenn wir darauf eine Antwort finden, könnte die übrigens geistig anspruchsvoller sein als die Antwort des Bürgertums im 19. Jahrhundert, das auf den nationalen Schiller fixiert war. Es macht auch keinen Sinn, an der künftigen Bürgerlichkeit der Abiturienten- und Studierendenmassen zu zweifeln. Verflachung und Nivellierung — Diagnosen, die hier hinzugehören scheinen — sind heute als dramatische Gegenwartsbeschreibung nicht mehr glaubwürdig. Sie werden seit Tocqueville und Mill und Treitschke beklagt; sie sind längst eingetreten — seit immer mehr Menschen Bürger werden. Dabei handelt es sich jedoch um eine Verflachung auf recht hohem Niveau. Und die herausragenden, bedeutenden Einzelnen sind ja nicht verschwunden. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist vielmehr die seit Georg Simmel oft wiederholte Beobachtung, dass es seelisch und geistig noch nie so anstrengend war, überhaupt zuleben, wie es das in der modernen Gesellschaft ist. Der Bürger ist also ein heroischer Bewältiger des Alltags.

Gefahr für die Bürgerlichkeit unserer Gesellschaft scheint in diesem Sinne grundsätzlich auszugehen von der Autonomiefeindlichkeit des modernen, des „beschädigten Lebens” (Theodor W. Adorno) in den „großen Superstrukturen” (Arnold Gehlen), dem der Bürger immer neu Freiheitspotentiale abzugewinnen sucht. Der Bürger ist in diesem Sinne der aktive Mensch, der immer neu darum kämpft, in den „sekundären Systemen” des „technischen Zeitalters” (Hans Freyer) nicht geistig unkenntlich zu werden.

Der „Bürger” als Projektion reform­po­li­ti­scher Appelle

Zumeist hat heute das Reden von „Bürgerlichkeit” politische Gründe. Der „eigenverantwortliche” und familiengründende, der gemeinschaftsorientierte und stiftende Bürger wird beschworen. Das hat wenig mit der Renaissance einer Lebensform zu tun (die nie tot war), sondern gilt als ökonomisch-sozialtechnische Notwendigkeit, die man als geistigen Appell verkleidet. Seit der letzten Jahrhundertwende und erneut nach 1945 in den Texten liberal-konservativer Autoren wie Wilhelm Röpke begleiten solche Bürger-Appelle die Welt der Massenzivilisation und des Sozialstaats. In der reformtrunkenen Publizistik heute sind sie allgegenwärtig, von Arnulf Barings „Bürger auf die Barrikaden” über Ulf Poschardts Anrufung einer dem Land heute fehlenden „aufgeklärten Souveränität und Liberalität eines selbstbewussten und ehrgeizigen Bürgertums” bis zu Paul Noltes neuer „Bürgergesellschaft”.

Nolte will die in den Unterschichten manifesten Defizite an Bürgerlichkeit im Namen einer sich als Leitkultur verstehenden bürgerlichen Kultur der bürgerlichen Mittelschichten mutig bekämpft sehen. Als bürgerlich gilt ein moralisches, verantwortungsbewusstes und gemeinwohlorientiertes Verhalten, das in den Mittelschichten, so Nolte, allerdings auch kaum vorhanden sei, die selbst hedonistisch und egoistisch der nachwachsenden Generation Werte und Verantwortung zunehmend schwerer vermitteln könnten. Die hier nötige Wende könne sich aber eine gegenwärtige „Wiederentdeckung” bürgerlich-konservativer Werte zunutze machen.

Gegen eine solche, bei Nolte immerhin niveauvolle, Appell-Kultur wird hier eine Lanze für die bürgerliche Gesundheit Deutschlands gebrochen. Wir brauchen nicht mehr Gemeingefühl; in existentieller Situation wird es sich reichlich bewähren (wovon dann alle überrascht sind wie bei der Elbe-Flut 2002). Was soll das überhaupt sein, die „Ego-Gesellschaft”? Jeder muss sich um sich selbst in seinem näheren Umfeld kümmern dürfen; dass aus diesem legitimen vielfachen pursuit of happiness eine Gesellschaft werde, dafür müssen zuerst ordnende Regeln sorgen. Auf Menschlichkeit und Moral im relevanten Nahraum darf man noch immer vertrauen.

Bürgerliche „Gesetzestreue”, etwa im Steuer- und Sozialbereich, braucht vernünftige Gesetze; vielfach sind Ordnungen unvernünftig geworden, nicht die Menschen schlecht. „Eigenverantwortung” wird geübt werden, sobald ihr ein Raum geschaffen ist. Und es finden sich in den Lebenskreisen der Bürger durchaus politische Aktivität, kulturelle Initiative und soziale Verantwortung: In einer kleinen westfälischen Stadt lädt der Kulturausschuss die andernorts überzeugende Shakespeare-Inszenierung in die Stadthalle, die Volkshochschule und der Mitgliederreiche Kunstverein richten Vernissagen und privat finanzierte, hochklassige Klavierabende aus, Orchester und Chöre der Schulen, der Kirchengemeinden und der Stadt haben keinerlei Nachwuchssorgen, die Kommunalpolitik gilt als Feld sinnvoller Mitgestaltung, ein eigener Verein gründet und trägt ein Frauenhaus, ein Schreinermeister fährt viermal ins nicht ganz nahe Dortmund, um Wagners Ring zu sehen.

So steht es um unser bürgerliches Leben. Dem oft plausiblen kulturkritischen Blick gilt der Bürger seit langem als das Unwahrscheinliche. Freuen wir uns, dass es ihn so oft gibt.

Literatur

Bolte, Karl Martin 1993: Wertewandel. Lebensführung. Arbeitswelt, München
Conti, Christoph 1984: Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen von 1890 bis heute, Ham-
burg
Fest, Joachim/Siedler, Wolf Jobst 2005: Verschwindet das Bürgertum?; in: Cicero. Magazin für politische Kultur, April, S. 74-83
Freyer, Hans 1959: Bürgertum, Art. im Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 2, Göttingen Hettling, Manfred 2000: Die persönliche Selbständigkeit. Der archimedische Punkt bürgerlicher Le-
bensführung; in: Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, hg, v. Man-
fred Hettling u. Stefan-Ludwig Hoffmann, Göttingen, S. 57-78
Hettling, Manfred/Ulrich, Bernd (Hg.) 2005: Bürgertum nach 1945, Hamburg
Nipperdey, Thomas 1994: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München
Nolte, Paul 2004: Generation Reform. Jenseits der blockierten Republik, München
Riedel, Manfred 1972: Bürger, Staatsbürger, Bürgertum; in: Geschichtliche Grundbegriffe, hg. v. Otto Brunner et al., Bd. 1, Stuttgart, S. 672-725
Schelsky, Helmut 1965: Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf/Köln Schwarz, Hans-Peter 1981: Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik 1949-1957, Stuttgart u.a. Siegrist, Hannes 1994: Der Wandel als Krise und Chance. Die westdeutschen Akademiker 1945-1965;
in: Wege zur Geschichte des Bürgertums, hg. v. Klaus Tenfelde u. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen,

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