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Respon­si­vität und Pluralismus - das Dilemma liberaler Demokratien

Aus: vorgänge Nr. 189, Heft1/2010, S. 13-27

I. Problem­dia­gnose (Anamnese)

Responsivität ist ein zentrales Ideal jeder liberalen Demokratie und Demokratietheorie und bezeichnet die Intensität, mit der die politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger in der Politik realisiert werden.[1] Es gilt, dass der Grad an Demokratie in Relation steht zu dem Anteil der Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger, die von der Politik umgesetzt werden, d.h. je größer jener Anteil, desto demokratischer die Demokratie und desto höher die Responsivität. Seit einigen Jahren scheint die Responsivität westlicher Demokratien jedoch kontinuierlich zu sinken, und so wird dieses Ideal zunehmend zum Prüfstein für die Zukunftsfähigkeit der liberalen Demokratie und Demokratietheorie. In diesem Aufsatz werden die Ursachen der liberalen Responsivitätskrise dargestellt und zwei Strategien diskutiert, mit denen die Politische Theorie auf die daraus resultierenden Herausforderungen reagieren kann.

In der liberalen Demokratietheorie wird das Ideal der Responsivität aus der irreduziblen Annahme abgeleitet, dass alle Menschen frei und gleich sind (vgl. Dahl 1989). Übersetzt in die Sphäre des Politischen folgt daraus, dass alle Bürger denselben Anspruch darauf haben, dass ihre Präferenzen im demokratischen Prozess Gehör finden und realisiert werden. In der politischen Sphäre existiert eben kein „superior knowledge“ (Saward 1994: 9), so dass die Unmöglichkeit von sachlich richtigen und eindeutigen (kollektiv bindenden) Entscheidungen politische Entscheidungen grundsätzlich kontingent erscheinen lässt und demokratische Politik als einzig legitime Form der gesellschaftlich verbindlichen Regelformulierung und -durchsetzung notwendig wird. Zu dieser Begründungsfigur gehört auch die auf John Stuart Mills Überlegungen in „Über die Freiheit“ zurückgehende Annahme, nach der die individuellen politischen Präferenzen unhintergehbar sind, da jede Bürgerin und jeder Bürger „the best judge of his own interests“ ist (Pitkin 1967: 204).[2] Ignoranz gegenüber den politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger mag (im positiven Fall) paternalistisch oder gemeinwohlorientiert begründet werden. Doch unabhängig von den Motiven nicht-responsiver politischer Akteure, konfligiert eine solche Haltung mit den zentralen Idealen und Prämissen des liberalen Modells von Demokratie. Das Ideal der Responsivität nimmt also unbestreitbar eine normativ herausgehobene Stellung ein und ist von ebensolcher realpolitischer Relevanz.

In den letzten Jahren sind wir jedoch Zeugen einer paradoxen Entwicklung geworden: Responsivität ist nicht mehr nur eine Quelle der normativen Attraktivität des liberalen Modells von Demokratie, sie ist zugleich auch eine zentrale Ursache der Krise liberaler Demokratien am Beginn des 21. Jahrhunderts, da die zeitgenössischen liberalen Demokratien in immer geringerem Maße responsiv sein können.[3] Entsprechend sinken in den westlichen Demokratien die Unterstützung, die Wertschätzung und das Vertrauen, das die Bürgerinnen und Bürger den politischen Akteuren und Institutionen entgegenbringen, und damit auch deren demokratische Legitimität (vgl. Kaina 2004). Um diese Entwicklung besser verstehen und ihre Konsequenzen bewerten zu können, werden wir im Folgenden die Ursachen der Responsivitätskrise liberaler Demokratien betrachten. Wir identifizieren hierbei drei zentrale Problembereiche.

I.a. Die nationalstaatliche Ebene – Handlungsfähigkeit der Politik

Eine essenzielle Voraussetzung von Responsivität ist die Handlungsfähigkeit der Politik. Das Gestaltungspotential des demokratischen Nationalstaates hat sich jedoch in den letzten Jahren zunehmend reduziert. Die Hauptursache besteht darin, dass der Nationalstaat heute nicht mehr die wichtigste Arena souveränen politischen Handelns darstellt, zugleich aber der primäre Artikulationsrahmen politischer Präferenzen ist. Das Auseinanderfallen von Rechtsautoren und Rechtsadressaten, von Entscheidungsbetroffenen und Entscheidungsberechtigten in vielen relevanten Politikfeldern ist dafür verantwortlich, dass politische Präferenzen – in funktionaler Perspektive – zunehmend falsch adressiert werden, oder dass richtig adressierte Präferenzen nicht mehr adäquat umgesetzt werden können. Durch Prozesse der De-und Supranationalisierung fallen Kompetenzattribution und Kompetenz auseinander (vgl. Leibfried/Zürn 2006).

Die Realisierung politischer Präferenzen ist zudem nicht kostenneutral, der Staat benötigt finanzielle Ressourcen, um sie verwirklichen zu können. Es bedarf nicht des Rekurses auf die aktuelle Wirtschaftskrise und deren finanzielle Konsequenzen, um zu verdeutlichen, dass die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten in Bezug auf ihre finanziellen Ressourcen in den letzten Jahren massiv gesunken ist. Gerade jene Präferenzen der Bürger, die sozialstaatliche Arrangements betreffen, besitzen daher immer geringere Chancen auf Realisierung.

I.b. Die individuelle Ebene – Pluralisierung politischer Präferenzen

Ein zweiter wichtiger Strang für die Erklärung der sinkenden Fähigkeit nationalstaatlicher Politik, responsiv zu handeln, besteht in den sich verändernden politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger. Es gehört zur Argumentation vieler liberaler Demokratietheoretikerinnen und -theoretiker, dass ein liberales demokratisches System mit der Implementation und effektiven Sicherung negativer Freiheitsrechte einen Prozess der Diversifizierung und Pluralisierung von Konzepten des „Guten Lebens“ unterstützt (vgl. Dahl 1989; Ackermann 1989). Die Pluralisierung von Lebenskonzepten und die Pluralisierung politischer Präferenzen als deren Folge geht mit dem Bedeutungsverlust traditioneller Milieus einher – u. a. des Arbeitermilieus und des katholischen Milieus -, die wiederum die soziokulturelle Verankerung für politische Orientierungen bereitstellen (und damit auch für politische Präferenzen), welche über Generationen hinweg relativ stabil waren. An die Stelle der sozio-ökonomischen Milieus sind sozio-kulturelle, so genannte Lebensstilmilieus, getreten, die zwar auch normative Orientierungsfunktion besitzen, jedoch individuell-voluntaristischer Natur und instabiler als die sozioökonomischen Milieus sind (vgl. Sinusstudie 2009; Schulze 1993) – und die zudem nicht systematisch mit umfassenden politischen Interessenprofilen korrespondieren. Die politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger einer politischen Gemeinschaft waren nie homogen – die Intensität und geringe Strukturiertheit ihrer Heterogenität eröffnen in den letzten Jahren jedoch ein Problem von neuer Qualität.

Verschärfend tritt eine zunehmende Ökonomisierung des gesellschaftlichen und politischen Denkens hinzu, in Folge derer die Individuen ihre politischen Wünsche ernster nehmen und mit einer höheren Realisierungserwartung derselben an die Politik herantreten (vgl. Schaal 2007).[4] Die Frustrationstoleranz in Bezug auf die Vernachlässigung der eigenen politischen Präferenzen zu Gunsten republikanisch orientierter Gemeinwohlinteressen schwindet.

Aus politischer Perspektive betrachtet stellt sich daher die Frage, wie Parteien mit diesem Problem-Portfolio umgehen können. Eine zentrale Aufgabe von Parteien besteht in der Aggregation politischer Interessen. Die skizzierte Heterogenität politischer Präferenzen führt jedoch dazu, dass Parteien diese Aufgabe sukzessive mit geringerem Erfolg erfüllen können. Dies zeigt sich prototypisch in der nachlassenden Bindungskraft von Volksparteien in vielen liberalen Demokratien, auch in Deutschland (vgl. Niedermayer 2002).

I.c. Das politische System – principal-agent-Herausforderungen

Schließlich muss nach Gründen seitens der politischen Elite und Funktionsträger dafür gesucht werden, dass das Ideal der Responsivität sukzessive schlechter realisiert wird. Ein Kernproblem jeder liberalen Demokratie besteht in der Tatsache, dass Flächendemokratien Repräsentation benötigen und damit die Delegation politischer Macht institutionalisiert wird. Alle Institutionen, deren Leitidee Delegation ist, besitzen jedoch ein principal-agent-Problem: Wie kann der principal – in der liberalen Demokratie also die souveränen Bürgerinnen und Bürger – sicherstellen, dass ihre Agenten – die Parlamentsmitglieder und die aus ihr hervorgehende Regierung[5]- wirklich das tun, wozu die Bürgerinnen und Bürger sie ermächtigt haben? Wie können sie sicher sein, dass die agents – wenn sie sich nicht responsiv verhalten – zumindest das beste Interesse der Bürgerinnen und Bürger als Richtschnur ihres Handelns nutzen? Arthur Lupia und Matthew McCubbins (2000) bezeichnen das Auseinanderfallen der Präferenzen der principals von den Handlungen der agents als „agency loss“. Kaare Strom (2000) diagnostiziert einen zunehmenden agency loss in den letzten Jahren in parlamentarischen Demokratien und findet hierfür zwei entscheidende Gründe: Die screening procedures, jene Maßnahmen also, mit denen die politischen Kandidaten auf ihre Tauglichkeit für politische Ämter in der Partei- und der massenmedialen Öffentlichkeit hin getestet wurden, verlieren zunehmend an Aussagekraft. Grundlegend dafür ist die Tatsache, dass vergangenes politisches Handeln im Angesicht komplexerer und neuer politischer Herausforderungen zukünftiges Handeln immer weniger erwartbar werden lässt. Andererseits sind monitoring und reporting activities, also das aktive Überprüfen des aktuellen Regierungshandelns durch die Bürgerinnen und Bürger bzw. der Berichtsleistung der Regierung, zunehmend schwerer, so dass das Handeln von agents für die principals geradezu unsichtbar wird – was zum moral hazard führen kann (vgl. Schaal 2008).

Zusammenfassend besteht eine der großen Herausforderungen zeitgenössischer liberaler Demokratien also in der Reaktion auf ihre sinkende Responsivität, die dazu führt, dass sich Bürgerinnen und Bürger enttäuscht, verdrossen und misstrauisch zunehmend von der Politik abwenden (vgl. Arzheimer 2002). Allerdings gerät die liberale Theoriebildung dabei in eine Zwickmühle: Eine ihre eigenen normativen Grundlagen ernst nehmende liberale Demokratie unterstützt (oder akzeptiert zumindest) die Pluralisierung und Diversifizierung politischer Präferenzen bei gleichzeitig konstanter Wertschätzung des liberalen Ideals der Responsivität. Doch diese Gleichzeitigkeit führt zu einer Entpolitisierung der Bürgerinnen und Bürger und des demokratischen Prozesses als Ganzem. Der Rückzug der Bürgerinnen und Bürger aus der Politik und die Entpolitisierung des Politischen bedeuten eine zunehmende (Rück-)Verlagerung ehemals politischer Entscheidungskompetenzen und Handlungsräume in den privaten Raum (vgl. u. a. Rancière 2002). Eine solche Entwicklung stellt selbst eine pluralismusorientierte liberale Demokratie mit normativer Prämierung negativer Freiheitsrechte vor ein Problem, da diese Prozesse die demokratische Legitimation langfristig in Frage stellen könnten. Auch die Stabilität liberaler Demokratien kann auf Dauer nicht garantiert werden, da ein kontinuierlicher Entzug spezifischer Unterstützung langfristig auch die systemtragende diffuse Unterstützung erodieren lässt.

Differenziert man drei Ebenen von Demokratie – Werte, Institutionen sowie die Performanz (vgl. Fuchs 1999) – so kristallisiert sich in (fast) allen etablierten westlichen Demokratien folgender Trend (vgl. Pickel/Pickel 2006): Die Akzeptanz der Idee von Demokratie befindet sich auf hohem Niveau (ca. 80 Prozent Zustimmung), jedoch mit leicht sinkender Tendenz. Das Vertrauen in die Institutionen und die Zufriedenheit mit der implementierten Demokratie sinkt rapide und liegt im Durchschnitt 20 bis 40 Prozent unter der Wertschätzung der Idee von Demokratie. Die Zustimmung zu der konkreten Politik befindet sich derzeit in fast allen westlichen Demokratien auf einem historisch sehr niedrigen Niveau, partiell zwischen 15 und 30 Prozent. Da anzunehmen ist, dass die schlechter werdenden Werte auf der Performanzebene sich mittelfristig auch negativ auf die Akzeptanz der Idee von Demokratie auswirken, müssen die liberale Demokratietheorie und erst recht die liberale Demokratie auf die sinkende Responsivität und die damit einhergehenden Prozesse der Entpolitisierung der Bürgerinnen und Bürger und De-Legitimierung des demokratischen Prozesses reagieren.

II. Auswege aus dem liberalen Dilemma (Thera­pie­an­sätze)

Wir identifizieren zwei grundlegende Strategien, mit denen die liberale Demokratie (-theorie) auf das Responsivitätsproblem in modernen politischen Gesellschaften reagieren kann: Einerseits die Akzeptanz der Entpolitisierung bei gleichzeitiger Implementierung legitimationserhöhender Verfahren, Prozeduren und Institutionen, andererseits die Strategie der Re-Politisierung der Bürgerinnen und Bürger sowie des demokratischen Prozesses.

II.a. Die Akzeptanz-Strategie

Die erste Strategie besteht darin, das Auseinanderdriften zwischen Responsivitätsansprüchen der Bürgerinnen und Bürger einerseits und politischer Handlungsfähigkeit andererseits grundsätzlich zu akzeptieren – durch eine Verlagerung von Entscheidungsinitiative und -kompetenz jedoch die Zufriedenheit und das Vertrauen der Bürger in die politischen Akteure und Institutionen sowie deren Legitimität zu stärken. Wir identifizieren zwei Formen dieser „Entpolitisierungs-Akzeptanz-Strategie“, die sowohl Diskussionen in der Politischen Theorie als auch die politische Praxis der letzten Jahre geprägt haben. Sie bieten Möglichkeiten, das Responsivitätsproblem zu adressieren, ohne die normativen Prämissen der liberalen Demokratietheorie grundlegend revidieren zu müssen. Dies ist einerseits eine stärkere Fokussierung auf democratic leadership, andererseits die Betonung expertenorientierter Elemente der liberalen Demokratie.

Sowohl eine Stärkung politischer Führungspersönlichkeiten als auch eine stärkere Integration von Expertinnen und Experten in den politischen Prozess können (zumindest theoretisch) Entpolitisierungsprozesse aufhalten und die Demokratiezufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger erhöhen (vgl. Ritzi/Schaal 2010). Sie haben dabei jedoch zur Konsequenz, dass demokratische Legitimationsprozesse eine stärkere Output- bzw. Outcome-Orientierung aufweisen, als es in partizipations- und damit inputorientierteren Demokratiemodellen der Fall ist. Der Politikwissenschaftler András Körösényi bezeichnet derartige Entwicklungen gar als Austausch der zentralen Ideale der zeitgenössischen Demokratietheorie und -praxis (vgl. Körösényi 2005). Das klassische demokratische Ideal des responsive government werde dabei abgelöst durch das Ideal des responsible government, eine Herrschaftsform, in der die Regierung Verantwortung für die Bürgerinnen und Bürger übernimmt, indem sie in den Augen derselben ‚gute‘ politische Entscheidungen fällt, die jedoch nicht an den Input des demokratischen Prozesses rückgekoppelt sein müssen.

Die Unterschiede zwischen democratic leadership und expertenorientierter Demokratie[6] liegen in der Relevanz von Charisma bzw. Kompetenz und der Vereinbarkeit der beiden Formen der Akzeptanz-Strategie mit starken parlamentarischen Entscheidungsgremien, die die Repräsentation verschiedener Interessenlagen sicherstellen sollen.

Obwohl die Stärkung politischer Führungspersonen das Risiko in sich birgt, dass v. a. gesellschaftliche Minderheiten nur noch wenig Gehör im politischen Prozess finden, haben demokratietheoretische Ansätze, die sich mit leadership beschäftigen, in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen.[7] Ein wichtiges Erklärungsmoment ist hierfür die Hoffnung, mit Hilfe demokratisch gewählter, starker Führungspersönlichkeiten v. a. die westlichen Demokratien aus der Handlungsunfähigkeit zu befreien, die aus Interessenskonflikten in pluralen, teilweise fragmentierten Gesellschaften resultiert. Wenn die Aggregation politischer Interessen mit Hilfe parteipolitischer Programme und einer geteilten, nationalen oder supranationalen Identität immer schlechter gelingt, tendieren Bürgerinnen und Bürger wie Politikerinnen und Politiker dazu, den Status Quo zu verteidigen, nur mehr kurzfristig-rationale Entscheidungen zu treffen und große Reformen zu verschieben (vgl. Schaal/Ritzi 2009a). Wie Reinhard Zintl (2008) aufzeigt, ist demokratisches Handeln zudem von zyklisch wiederkehrenden Entscheidungsmustern geprägt, die unabhängig von Sachfragen das politische Verhalten beeinflussen. Vor allem bei hohem Problemdruck kann die Überwindung der Zyklizität jedoch eine Erfolgsbedingung politischen Handelns sein. Demokratische Systeme und Regierungen, die von einer starken Führungspersönlichkeit geleitet werden, können diese Hürden im politischen Entscheidungsprozess v. a. in Vielparteien-Systemen mit einer größeren Wahrscheinlichkeit überwinden als schwache Regierungsführer, die zu konsensorientierten Handlungen gezwungen sind. Sofern die Entscheidung zu positiven Resultaten führt, kann sie ex post die Interessenskonflikte zwischen den Bürgerinnen und Bürgern überbrücken und das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler in das politische System stärken.

Dieser Vertrauensaufbau, der neben der politischen Entscheidungsqualität wesentlich auf dem Charisma der Führungspersönlichkeiten beruht, muss jedoch regelmäßig glücken, da leadership democracies nur dann Legitimität besitzen und stabil sein können, wenn die politischen Führungspersönlichkeiten auf eine vergleichsweise konstante Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger, die dann eben nur noch sehr bedingt die „judges of their own interests“ sind, zurückgreifen können. Eine solche Unterstützung ist in Deutschland jedoch derzeit nicht gegeben: Mehr als 60 Prozent der Befragten sprachen sich 2006 gegen einen starken politischen Führer aus.[8] Angesichts der immer schlechteren Reputation von Politikerinnen und Politikern bei den Bürgerinnen und Bürgern ist hierbei mittelfristig wohl auch keine Änderung zu erwarten.

Auch aus normativer Perspektive erscheinen leadership democracies als äußerst problematische Demokratieformen. Politische Führungspersönlichkeiten können zwar pragmatisch handeln, aber ihre starke Fokussierung auf outcomes und outputs erfüllt das demokratische Ideal der Selbstregierung der Bürgerinnen und Bürger nur unzureichend. Zudem erfordert die Logik der Orientierung politischen Handelns starker Führungspersönlichkeiten an den zu erwartenden Wiederwahlaussichten eine Fokussierung auf die Interessen der Mehrheit – was nur sehr bedingt als Umschreibung von Gemeinwohl taugt (vgl. Offe 2002).

Ein anderes Bild zeigt sich – zumindest für den deutschen Fall – in Bezug auf die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger zu einer Entwicklung in Richtung einer expertenorientierten Demokratie. Mit 64 Prozent sprachen sich im Jahr 2006 mehr als die Hälfte der im Rahmen des World Values Survey befragten Bürgerinnen und Bürger dafür aus, dass „Experten Entscheidungen treffen sollten“. In den letzten 13 Jahren ist der Anteil der Befürworter dabei relativ konstant geblieben. Anstelle auf charismatische und selbstlose Führungspersönlichkeiten scheinen die Deutschen also auf Fachwissen zu vertrauen. Die institutionalisierte Integration von Expertinnen und Experten in den demokratischen Prozess scheint vor diesem Hintergrund die technokratische Interpretation eines republikanischen Verständnisses von Gemeinwohl zu sein, wobei Gemeinwohl nicht (mehr) politisch (als das für uns Richtige) verstanden wird, sondern (wieder) in einem objektiv richtigen Sinne.

Ähnlich wie bei der bundesdeutschen Bevölkerung, scheint auch in der liberalen politischen Theorie eine Tendenz zu bestehen, die Heranziehung von Expertinnen und Experten als affirmative Überwindungsstrategie der Entpolitisierung zu betrachten. Die Suche nach sachlich ‚richtigen‘ Entscheidungen mag dabei im Konflikt mit dem kontingenten Charakter manches politischen Problems stehen (vgl. Greven 2009) – und besitzt damit normative Implikationen, die denen der democratic leadership-Diskussionen ähneln, der institutionalisierte Rückgriff auf Expertenvoten kann jedoch auch eine attraktive Möglichkeit sein, um Interessenskonflikte zu überwinden und in Konstellationen sich widersprechender Präferenzen individualisierter Bürgerinnen und Bürger akzeptable Entscheidungen zu treffen. Expertinnen und Experten können dabei natürlich nicht als Repräsentanten der Bürgerinnen und Bürger betrachtet werden,[9] ihr Einfluss kann jedoch in fast beliebigen Konstellationen mit parlamentarischen Gremien verbunden werden. Entsprechend greifen die geladenen Fachleute (im Gegensatz zu politischen Führungspersönlichkeiten) in der heutigen demokratischen Praxis wesentlich häufiger beratend und ratgebend in den politischen Prozess ein als entscheidend, und eine Erweiterung ihrer Mitspracherechte steht nicht zwingend im Widerspruch zu parlamentarischer Macht bzw. Kontrolle.

Expertenorientierte Demokratieformen erscheinen vor diesem Hintergrund also zwar ebenfalls nicht als unproblematisch, aber im Vergleich zu leader democracies als die theoretisch wie praktisch attraktivere Strategie, um auf das liberale Dilemma, das aus gleichzeitiger Responsivitäts- und Pluralismusorientierung resultiert, zu reagieren. Beide Ansätze können das eigentliche Problem der sinkenden Responsivität moderner Demokratien jedoch nicht lösen, sondern lediglich Akzeptanz für die sinkende Verwirklichung der Präferenzen und Umsetzung der Interessen der Bürgerinnen und Bürger generieren. Im Folgenden soll nun eine zweite Strategie betrachtet werden, die eine Problemlösung durch (Re-)Politisierung anstrebt.

II.b. Die Re-Politisierungs-/Fragmentierungs-Strategie

Die demokratietheoretischen Konsequenzen der gesellschaftlichen Pluralisierung und der damit einhergehenden Fragmentierung werden auch jenseits der liberalen Responsivitätsproblematik in der Politikwissenschaft seit einigen Jahren intensiv diskutiert. Vor allem in feministischen (vgl. Phillips 1993, 1995; Young 1990, 2000; Holland-Cunz 1998) und multikulturalistischen (vgl. Kymlicka 1995; Taylor 1993, 2002) Arbeiten zur Demokratietheorie wird bereits seit den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass ‚einfache‘ Repräsentationssysteme den Anforderungen pluralistischer Gesellschaften zunehmend weniger gerecht werden, da die Ansprüche verschiedener gesellschaftlicher Teilgruppen ausgesprochen ungleich gewichtig in diese einfließen – was einen normativ nicht legitimierbaren Bias in der politischen Entscheidungsfindung zu Gunsten großer und v. a. traditionell einflussreicher Gruppen zur Folge hat.

Seit den 1990er Jahren treten die Vorschläge deliberativer Demokratietheoretikerinnen und Demokratietheoretiker hinzu, politische Präferenzen nicht als vorpolitisch und unhintergehbar zu setzen (wie in der liberalen Demokratietheorie üblich), sondern den Prozess der Präferenzgenese selbst als Basis demokratischer Legitimation zu verstehen (vgl. grundlegend Manin 1987). Hieraus resultiert ein anderes Verständnis des demokratischen Prozesses sowie der Bedeutung von Präferenzen. Entsprechend ändert sich auch die Wahrnehmung des Bedrohungspotentials, das aus der steigenden Pluralität resultiert. Trotz aller Verschiedenheit der genannten Demokratietheorien, eint sie der Versuch, die Vielfältigkeit moderner Gesellschaften nicht als Problem zu diskutieren, sondern im demokratischen Prozess produktiv nutzbar zu machen – aus diesem Grund werden sie hier zu einer Strategieform zusammengefasst. Die Fragmentierung dient dieser Strategie als Grundlage einer Re-Politisierung der Bürgerinnen und Bürger – was wiederum auf zwei Arten geschehen kann.

Die erste ist der Vorschlag gruppenspezifischer Repräsentationsformen, die über die sinkende Repräsentationsfähigkeit der Parteien angesichts der gesellschaftlichen Pluralisierung begründet wird. Auch wenn sich als Reaktion auf Diversifikations-Prozesse eine Fragmentierung der Parteienlandschaft in modernen Demokratien beobachten lässt,[10] kann die parteipolitische Organisationsform nach Ansicht von Anhängerinnen und Anhängern der Gruppenrepräsentationsmodelle allein nicht mehr eine gerechte Bevölkerungsrepräsentation gewährleisten.[11] Gruppen sollen in Parlamenten und anderen repräsentativen Entscheidungsorganen daher als zweite Repräsentationsdimension eingeführt werden. Diese Vorgehensweise wird bislang zwar nicht in erster Linie von Theoretikerinnen und Theoretikern aus liberalen Kontexten verfolgt, sie kann der liberalen Demokratietheorie jedoch dazu dienen, den Zwiespalt zwischen Pluralität, Responsivität und politischer Handlungsfähigkeit zu überwinden: Mit Hilfe einer Re-Politisierung der fragmentierten Gesellschaft können der Responsivitätsverlust begrenzt und die Akzeptanz der Bürger(gruppen) gegenüber weniger responsiver Politik erhöht werden. Einen vergleichsweise detailliert ausgearbeiteten Vorschlag zur (Re-)Politisierung pluralistischer Gesellschaften mittels Gruppenrepräsentation hat Iris Marion Young (1989, 1990) vorgelegt. Sie fordert eine Modifikation politischer Repräsentationssysteme, die bestimmten gesellschaftlichen Gruppen mittels Quoten ein verbessertes Mitspracherecht sichert und auch gruppenspezifische Vetorechte vorsieht (so sollen beispielsweise Frauen in Bezug auf Fragen zur Abtreibung ein Vetorecht im Parlament erhalten).[12] Die Gruppen werden zudem durch finanzielle Mittel darin unterstützt, sich zu organisieren und politische Positionen zu entwickeln.

Gruppenrepräsentanz kann dabei nicht nur zu einer gerechteren Gesellschaft führen (wenngleich dies Youngs primäres Anliegen ist), sondern sie trägt auch zu einer Stabilisierung von Demokratien bei. Durch die verbesserte Integration bislang unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen sollen erstens qualitativ bessere politische Entscheidungen(und ergo eine erhöhte Responsivität) möglich werden, und sich zweitens die Überzeugung der Bürgerinnen und Bürger festigen, dass sie in einer gerechten Gesellschaft und in einem guten demokratischen System leben. Diese Überzeugung wiederum erhöht die Kompromissbereitschaft und Gemeinwohlorientierung – trotz aller Einstellungs- und Interessenunterschiede.

Youngs Plädoyer für eine gruppenspezifische (Re-)Politisierung kann als gutes Mittel zur Repräsentativitätserhöhung und Steigerung der Demokratiezufriedenheit gesehen werden, das das Faktum der Pluralität und die Supranationalisierung nicht antastet – dafür jedoch die Gleichheit der Bürger stärker output- als inputorientiert betrachtet. Die demokratische Wahl würde zwar weiterhin gemäß der Regel „one man one vote“ erfolgen, die Struktur des Wahlergebnisses wäre jedoch ein Stück weit vorgegeben. Dies wird nicht von allen (liberalen) Theoretikerinnen und Theoretikern akzeptiert. Zudem reagiert der gruppenspezifische Ansatz nur bedingt auf eine der anfangs beschriebenen Ursachen des liberalen Responsivitätsdilemmas: Die Pluralisierung wird auf der Ebene der Gruppe, aber nicht des (auch politisch vorwiegend egoistisch handelnden) Individuums theoretisch konzeptionalisiert – und kann somit nur eine Dimension der Fragmentierung abdecken.

Dieser Problematik entgeht die zweite Form der Fragmentierungsstrategie, die maßgeblich von deliberativen Überlegungen beeinflusst ist. Dabei soll an dieser Stelle keine grundlegende Rekonstruktion des Verhältnisses der deliberativen Demokratietheorie zur Responsivität erfolgen[13] – daraus resultierende deliberative settings in der so genannten ‚starken Form‘ (vgl. Chambers 2009) erfordern einen Austausch zentraler demokratischer Leitideen und können folglich nicht in ein liberales Demokratiemodell implementiert werden. In diesem Aufsatz diskutieren wir stattdessen Auswege aus dem Responsivitätsverständnis ausgehend von einem liberalen Standpunkt – wofür ein Blick auf die ‚schwachen Formen‘ (so genannte democratic deliberations) lohnenswert ist.

In der schwachen Form werden deliberative Prozeduren, Prozesse und Institutionen in das Modell der liberalen Demokratie implementiert, ohne die zentralen normativen liberalen Ideale auszutauschen. Die zentrale Motivation einer solchen Vorgehensweise besteht in der Überzeugung, dass die Bereitschaft zur politischen Partizipation nicht aus dem Wunsch nach der instrumentellen Durchsetzung vorpolitischer Präferenzen hervorgeht, sondern durch die Beteiligungsstrukturen selbst moderiert wird. Eine deliberative Beteiligungsstruktur fungiert in dieser Perspektive als eine enabling structure politischer Partizipation, sie motiviert politische Beteiligung und verschiebt zugleich die normative Gewichtung von einer eher instrumentellen hin zu einer intrinsischen Motivation zur Partizipation.

Deliberative settings können auf unterschiedlichen Ebenen (Staatenbund, Bund, Land, Kommune) und in unterschiedlichen Phasen des demokratischen Prozesses installiert werden. Auch ist nicht a priori festgelegt, ob sie ausschließlich konsultativen Charakter besitzen oder darüber hinaus – in welcher konkreten Ausgestaltung auch immer – bindend für spätere Entscheidungsebenen sein sollen. Heute erscheint diese Option auch weniger utopisch als noch vor zehn Jahren, hat sich die deliberative Demokratietheorie doch inzwischen zu einer „working theory“ (vgl. Chambers 2005) entwickelt. Entsprechend wurden deliberative Entscheidungsverfahren in den letzten zehn Jahren überall auf der Welt mit Erfolg implementiert (vgl. Gastil/Levine 2005). Denkbar sind deliberative Prozeduren, die entscheidungsrelevant sind. In diese Kategorie gehören u. a. die Planungszelle (vgl. Dienel 1997) und unterschiedliche Formen von Town Hall Meetings. Charakteristisch für diese Verfahren ist, dass Bürgerinnen und Bürger in einem institutionell klar definierten Rahmen miteinander – häufig unter beratender Einbeziehung der Expertise von Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern – deliberieren. Das Besondere besteht in der Verortung der deliberativ aufgearbeiteten politischen Entscheidungen: Sie sind hierarchisch auf einer kommunalen/lokalen Ebene und/oder in einem sachlich eng begrenzten Feld verortet.

Deliberative Verfahren können auch in konsultativer Absicht implementiert werden. Hierzu ist institutionelle Fantasie angebracht. Denkbar ist – in Anlehnung an einen Vorschlag von Hubertus Buchstein (2009) – die Einführung einer per Losentscheid zufällig besetzten deliberativen Konsultationskammer auf Bundes-, Landes- oder supranationaler Ebene, deren Aufgabe in der kritischen Sicht aller Gesetzentwürfe vor ihrer Ratifizierung durch das Parlament liegt. Motiviert wird eine solche deliberative Konsultationskammer durch die Hoffnung, dass im Zuge eines deliberativen Prozesses der Beratungen über einen Gesetzentwurf durch Bürger erstens eine kritische (zivilgesellschaftliche) Öffentlichkeit adressiert werden kann, und zweitens inhaltliche Empfehlungen ausgesprochen werden, die Gesetze und Gesetzesinitiativen verbessern. In eine ähnliche Richtung zielt auch das von James Fishkin (1995) forcierte Projekt der „deliberative polls“. Hier deliberieren zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger über ein Sachthema, zu dem sie im Vorfeld des Treffens fundiertes und ausgewogenes Informationsmaterial erhalten haben. Dabei besteht die Hoffnung, dass eine aufgeklärte (Mini-)Öffentlichkeit geschaffen wird, in der Bürgerinnen und Bürger zu aufgeklärten politischen Präferenzen kommen. Diese wiederum können für Regierungshandeln informativer sein als konventionelle Meinungsumfragen.

Welchen Beitrag kann democratic deliberation zur Lösung des Dilemmas von Responsivität und Pluralismus leisten? Hierzu ist es hilfreich, die unterschiedlichen Problemursachen zu differenzieren. Die deliberative settings werden der Pluralisierung politischer Präferenzen insofern gerecht, als Deliberation der Verarbeitung möglichst vielfältiger Argumente und Standpunkte dienen soll und zudem angenommen wird, dass die epistemologische Qualität der Ergebnisse mit zunehmender Vielfalt der vorgebrachten Argumente steigt (vgl. Manin 1997; Sunstein 1991). Die Legitimität des demokratischen Prozesses resultiert entsprechend aus einem inklusiven Prozess, in dessen Verlauf die politischen Präferenzen der Bürgerinnen und Bürger sich einerseits erst formieren, andererseits aber durch den ‚zwanglosen Zwang des besseren Arguments‘ und die Notwendigkeit zur Begründung der je eigenen Präferenz gleichzeitig ‚gereinigt‘ werden. Darüber hinaus zeigen empirische Deliberationsstudien (vgl. Schaal/Ritzi 2009b), dass Deliberation dann besonders erfolgreich ist, wenn die am Diskurs Beteiligten heterogene Präferenzen besitzen. Pluralität stellt aus dieser Perspektive also keine Herausforderung, sondern eine Bedingung eines erfolgreichen deliberativen Prozesses dar.

Zur Lösung des Responsivitätsdilemmas kann democratic deliberation in einem strikten Sinne nur einen geringen Beitrag leisten, da das Kriterium der Responsivität in Bezug auf vorpolitische Präferenzen normativ nur eingeschränkt akzeptiert wird. Da democratic deliberation jedoch in ein dominant liberales Institutionen- und Wertsetting implementiert wird, ist diese Einschränkung rein theoretischer Natur. Praktisch kann democratic deliberation in Abhängigkeit von ihrer konkreten Institutionalisierung einen differenzierten Beitrag zur Lösung des Reponsivitätsdilemmas leisten. Wie Lupia/McCubbins (2000) gezeigt haben, tritt agency loss in principal-agent-Beziehungen dann nicht auf, wenn der principal um die Handlungen des agent weiß (information criteria). Eine wichtige Lösungsstrategie besteht daher in einer neutralen und glaubwürdigen Monitoring-Institution. Eine deliberative Konsultationskammer erfüllt diese Anforderungen und kann einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der principal-agent-Problematik leisten.

Das Auseinanderfallen von Entscheidungsberechtigten und Entscheidungsbetroffenen kann democratic deliberation ebenfalls zumindest partiell überwinden, da solche Verfahren auch jenseits des Nationalstaates implementiert werden können (vgl. Nanz/Steffek 2005). Ob die zunehmende Ökonomisierung der gesellschaftlichen und politischen Sphäre durch Deliberationsangebote eingehegt werden kann, ist jedoch zweifelhaft.

III. Pluralismus und Respon­si­vi­tät? (Rekon­va­les­zenz)

Die Implementierung deliberativer Verfahren im Kontext liberaler Demokratien ist eine viel versprechende Strategie, um die Re-Politisierung der Bürgerinnen und Bürger sowie des demokratischen Prozesses anzustoßen. Erstens, weil die begründete Hoffnung besteht, dass die Intensität der politischen Partizipation im Rahmen von deliberative settings steigt; zweitens, weil die Sachkompetenz der Bürgerinnen und Bürger durch die Inklusion in deliberative Beratungs- und Entscheidungsprozesse anerkannt wird; drittens, weil die Kontingenz des Politischen in deliberativen Verfahren symbolisch zur Darstellung gebracht wird, indem die Standpunkte und Argumente aller Beteiligten in der Öffentlichkeit artikuliert werden und viertens, weil das Ideal der Responsivität durch die Integration des Gedankens der Präferenzformung im politischen Prozess relativiert wird. Aus liberaler Perspektive erscheint die Integration von democratic deliberation in dominant liberal inspirierte Institutionensettings attraktiv, weil sie den Bürgerinnen und Bürgern faktisch wie auch symbolisch die Kompetenz zuspricht, den politischen Kurs des Gemeinwesens inhaltlich mitzubestimmen und damit das liberale Ideal, wonach jeder Bürger „the best judge of his own interests“ sei, revitalisiert. Liberale Demokratien und Demokratietheorien können somit in der Integration deliberativer Momente und Partizipationsformen bei gleichzeitiger Beibehaltung ihrer normativen Grundlagen eine Möglichkeit finden, um Responsivität trotz pluralistischer Interessenskonstellationen zu erzielen.

Re-Politisierend – und zwar gleichsam als Top-Down-Prozess – wirkt auch die Modifikation des Repräsentationsverständnisses in Richtung Gruppenrepräsentation. Es existieren überzeugende Argumente dafür, nicht mehr ausschließlich an Individuen gebundene Interessen zu repräsentieren, sondern Gruppeninteressen ernst zu nehmen. Die funktionalen und normativen Konsequenzen einer entsprechenden Strategie sind jedoch gravierend und überschreiten jene der democratic deliberation deutlich. In normativer Perspektive wird u. a. der methodologische Individualismus als Grundlage liberaler Theoriebildung so nachhaltig in Frage gestellt, dass zentrale demokratische Ideale – wie u. a. das „one man one vote“-Prinzip – nur noch eingeschränkte Geltung besitzen. Empirisch würde sich die Parteienstruktur pluralisieren und die Konfliktintensität parlamentarischer Arbeit mit großer Wahrscheinlichkeit erhöhen. Angesichts dieser normativen und realpolitischen Kosten ist es unwahrscheinlich, dass Gruppenrepräsentation, trotz einiger theoretisch überzeugender Argumente, auf absehbare Zeit eingeführt wird.

Der Modus Vivendi besteht in der Ausdehnung des Expertenwesens in der liberalen Demokratie. Normativ unterminiert diese Strategie jedoch das liberale Ideal des „best judge of his own interests“. Es ist daher eine geradezu tragisch zu nennende Ironie, dass die liberale Demokratie aufgrund der ihr inhärenten Prozesse der Pluralisierung von Konzeptionen des „Guten Lebens“ nicht nur ihre eigene Entpolitisierung forciert, sondern auch die Autonomie-und Kompetenzselbstwahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger so nachhaltig erodieren lässt, dass für sie die Ausweitung expertokratischer Elemente normativ wie funktional wünschenswert erscheint. Die Erfahrungen des letzten Jahrzehnts zeigen jedoch, dass die sinkende Akzeptanz der politischen Institutionen und die rapide sinkende Zufriedenheit mit den Outputs und Outcomes des politischen Systems trotz Ausweitung der Beratungstätigkeit durch Expertinnen und Experten erfolg(t)en. Eine Stärkung des democratic leaderships erscheint uns schließlich trotz seiner Renaissance in Theorie und Praxis normativ nicht wünschenswert.

Pluralismus und Reponsivität sind unter den Bedingungen liberaler Demokratien der Gegenwart zunehmend schwerer gleichzeitig zu optimieren. Wir plädieren für die normativ anspruchsvolle und zugleich realitätskompatible Lösung, deliberative Verfahren in ein ansonsten liberal demokratisch inspiriertes Institutionensetting zu implementieren. Doch ist auch diese Strategie nicht unproblematisch, existiert doch ein ambivalentes und theoretisch noch nicht hinreichend ausgearbeitetes Verhältnis von Liberalismus und democratic deliberation. Um nur ein paar Schlaglichter zu setzen: Welche Relevanz besitzt das Ideal der Responsivität in deliberativen Verfahren? Welche Kommunikationsmodi (arguing oder bargaining) sind empirisch erwartbar und normativ wünschenswert? Können deliberative Verfahren in liberalen Kontexten die in sie gesetzten Erwartungen – u. a. höhere Legitimität, bessere Entscheidungen, bessere Inklusion der Bürgerinnen und Bürger – überhaupt erfüllen? Oder tendieren deliberative Verfahren, die auf arguing basieren, dazu, in liberalen Settings von strategischen Akteuren, die bargaining betreiben, ausgebeutet zu werden? Der Erfolg der skizzierten Re-Politisierungsstrategie ist in der politischen Wirklichkeit deshalb auch davon abhängig, dass diese Fragen – und viele andere, die hier nicht angesprochen werden können – in der politischen Theorie konzeptionell aufgegriffen und empirisch analysiert werden. Die von uns vorgeschlagene Implementation von democratic deliberation markiert daher weniger eine Lösung als den Beginn einer theoretischen wie empirischen Diskussion über das Verhältnis von Liberalismus, Deliberation, Responsivität und Pluralismus.

[1] Held (2006) differenziert zwei Spielarten des Liberalismus, deren normative Leitideen deutlich variieren. Die hier vertretene Position ist ein Modell, das sich am Mainstream-Verständnis des Liberalismus orientiert.

[2] Für eine vergleichende Analyse verschiedener liberaler Interpretationen dieses Axioms vgl. Goodin (1990).

[3] Vgl. pars pro toto die Krisendiagnosen von Buchstein/Schmalz-Bruns (1994), Blühdorn (2008) u. v.a.

[4] Die zunehmende Orientierung an Kosten-Nutzen-Kalkülen und die Zurückdrängung republikanisch inspirierter Orientierungen am Gemeinwohl sind in der soziologischen Zeitdiagnose fast unbestritten. Vgl. für neuere Diagnosen Crouch (2009), Maurer/Schimank (Hrsg.) (2008).

[5] An dieser Stelle wird nur das principal-agent-Problem parlamentarischer Demokratien, nicht präsidentieller Demokratien diskutiert. Vgl. StrØm (2000) sowie Lupia, McCubbins (2000).

[6] Die Bezeichnung „Expertokratie“ wird an dieser Stelle bewusst vermieden, da diese Strategie nicht in erster Linie darauf zielt, die Herrschaft (d. h. in diesem Kontext Entscheidungskompetenz) von demokratisch gewählten Repräsentantinnen und Repräsentanten auf Expertinnen und Experten zu verlagern.

[7] Vgl. das Schwerpunktheft 3/2010 der Österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft (ÖZP); Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 2-3/2010.

[8] World Values Survey (Ergebnisse der Befragungen aus den Jahren 2005/2006).

[9] Die Repräsentationsproblematik ist ein wichtiger Grund, weshalb viele liberale Theoretikerinnen und Theoretiker wie Anne Phillips einen zunehmenden Einfluss von Expertinnen und Experten auf die demokratische Entscheidungsfindung ablehnen. Phillips warnt in diesem Kontext vor „even further capitulation to the experts“ (Phillips 1995: 191).

[10] Parteien entstehen in der klassischen Konzeption von Lipset/Rokkan (1967) entlang der gesellschaftlichen Hauptspannungslinien (cleavages). Die These, wonach die europäischen Parteiensysteme „frozen party systems“ seien, kann als empirisch widerlegt angesehen werden. Die cleavages haben sich in den letzten Jahren quantitativ erhöht, qualitativ jedoch zumeist an Schärfe verloren. Entsprechend steigt die Zahl der Parteien in den Parlamenten (in Abhängigkeit von der Ausgestaltung des Wahlrechts), während ihre Größe sinkt.

[11] Vgl. grundlegend für die Diskussion des Repräsentationskonzeptes Pitkin (1967) und Manin (1997).

[12] Young hält die Vertretung einer Gruppe immer dann für angezeigt, wenn die Geschichte und die soziale Situation einer Gruppe dazu führen, dass diese eine besondere Perspektive auf strittige politische Fragen einnimmt, wenn ihre Mitglieder von politischen Fragen in besonderer Weise betroffen sind und wenn ihre Wahrnehmungen und Interessen ohne eine besondere Vertretung wenig Aussicht hätten, in politischen Entscheidungen berücksichtigt zu werden (Young 1990: 42ff.). Daraus folgt, dass eine relativ große Zahl von Gruppen von den Quotierungen profitieren soll: „In the United States today at least the following groups are oppressed in one or more of these ways: women, blacks, Native Americans, Chicanos, Puerto Ricans and other Spanish-speaking Americans, Asian Americans, gay men, lesbians, working-class people, poor people, old people, and mentally and physically disabled people.“ (Young 1989: 261).

[13] Responsivität spielt im Kontext der deliberativen Theorie ohnehin eine untergeordnete Rolle, da politische Präferenzen hier nicht als vorpolitisch existent und unhintergehbar betrachtet werden (vgl. Manin 1997; Sunstein 1991).

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