Liberalismus als Lebensform
Aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 28-35
Jede politische Ordnung, so sagt man, stützt sich auf vorpolitische Grundlagen, entscheidet nicht selbst über ihr Gelingen, sondern ist in ihren äußerlichen Befriedungs- und Koordinationsleistungen von sozio-moralischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen abhängig. Diese Voraussetzungen haben ethosbildenden Charakter, sie prägen Verhaltensprofile und Sinnmuster aus; sie sind die motivationalen Ressourcen der politischen Einheit und der sozialen Kohärenz; sie greifen durch die Ordnungen des Interesses und des Zwangsrechts hindurch und ermöglichen den Zusammenhalt, der durch die äußeren Koordinationssysteme allein nicht gewährleistet werden kann. Wenn ich diese soziologische These in die Sprache der Ethik übersetze, dann lautet sie: die Wirksamkeit politischer Ordnung ist abhängig von einer gemeinsamen Vorstellung des Guten, die die motivationalen Grundlage des Zusammenlebens bereitstellt und den für die soziale Einheit erforderlichen Gemeinsinn stiftet. Die klassische Politik hat das immer gewusst. Dass die besten Gesetze und Einrichtungen ohne tugendhafte Bürger wertlos sind und daher eine gute Politik über die Pflege der Gesetze die Erziehung der Bürger, oder wie Platon sagen würde, die Bildung ihrer Seelen, nicht vernachlässigen darf, ist ein republikanischer Gemeinplatz.
Diese Bindung der politischen Ordnung an vorpolitische Voraussetzungen wirft dann keine Probleme auf, wenn die internen Strukturen der Systeme der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik die moralische Reproduktion der Gesellschaft nicht behindern. Wenn jedoch die politische Ordnung so geartet ist, dass sie ihre eigenen soziokulturellen Grundlagen zerstört und damit die moralische Regeneration der Gesellschaft unterbindet, wird sich das verhängnisvoll für sie auswirken. Sollten die Kritiker des Liberalismus Recht haben, dann würde genau das auf die liberale Ordnung zutreffen. Von Anbeginn, so sagen die Kritiker, habe die liberale Ordnung die moralischen Vorräte der Lebenswelt geplündert. Und wenn die traditionellen Ressourcen der Solidarität und moralischen Selbstbindung dann versiegen werden und die Üblichkeiten des Respekts und der Rücksichtnahme verschwinden, dann, so prophezeien sie, werde die liberale Gesellschaft dem zentrifugalen Druck des wachsenden Individualismus nicht länger standhalten können; sie werde zerbersten und dorthin zurückkehren, woher sie ihrem eigenen Gründungsmythos zufolge gekommen ist, in den Naturzustand der Gesetzlosigkeit und des Krieges aller gegen alle. Der liberalen Gesellschaft bleibt in den Augen ihrer besorgten Kritiker nur ein Weg, dieses Schicksal abzuwenden: Um das ökonomische Kalkül und die Dynamik bedenkenloser Selbstverwirklichung zugleich zu zügeln, muss sie sich wieder des Beistands der Traditionsmächte versichern und die lebensweltlichen Bindungen stärken; muss sie Religion und Metaphysik rehabilitieren.
Die kommunitaristischen Wünschelrutengänger richten ihren Blick fest in die Vergangenheit und man hat gelegentlich den Eindruck, dass die Gegenwart zu einer Begegnungsstätte für Wiedergänger wird. Man erhofft eine Wiederentdeckung des Politischen, die Rückkehr der Tugend, die Wiedergeburt des Bürgers, die Wiedergewinnung von Gemeinsinn. Sicherlich ist es vernünftig, mit den noch vorhandenen sozialen Bindekräften hauszuhalten und pfleglich mit den noch verbliebenen Solidaritätsressourcen umzugehen, aber das Rad der Modernisierung lässt sich nicht zurückdrehen: die Religion hat ihre kulturelle Dominanz verloren, die Traditionsmilieus sind sittlich ausgebleicht, die Allgemeinheit hat die Sinnverwaltung längst privatisiert, und das Gute ist fragmentarisiert und pluralisiert worden.
Wenn der Liberalismus nach den Integrationsleistungen eines vorpolitischen Ethos verlangt, wenn die Demokratie, ja die ganze Gesellschaft einer neuen Bürgerlichkeit bedarf, dann muss die liberale Ordnung sich selbst damit versorgen. Da sie sich dabei nur selbst voraussetzen kann, ist ethische Autarkie ihr Schicksal. Sie muss sich selbst als ein gemeinschaftliches Gutes, als kollektiv sinnstiftendes Projekt neu erfinden. Mit dieser Einsicht ist der Liberalismus freilich nur dort angelangt, wo das neuzeitliche Subjekt schon immer war: von allen vorgegebenen Verbindlichkeitsquellen abgeschnitten und aus allen teleologischen Gefügen herausgebrochen, gehalten, sich selbst als Endzweck auszurufen. In Kants Moralphilosophie hat diese neuzeittypische Strategie des Sich-selbst-zum-obersten-Zweck-Ausrufens ihren begrifflich radikalsten Ausdruck gefunden. Und es ist kein Zufall, dass auch die Idee einer allein vernunftbegründeten politischen Integration im Umkreis des Kantianischen Denkens entstanden ist. Man verbindet heute den Ausdruck des Verfassungspatriotismus mit der Diskursethik Habermasscher Prägung. Aber der Verfassungspatriotismus ist keine diskursethische Erfindung, sondern eine Erfindung des Kantianismus. Der Begriff selbst stammt von Dolf Sternberger, einem Aristoteliker.
Nicht zuletzt darum glaubten die Kantianer, die in der Vernunft begründeten Verfassungsprinzipien als Hort patriotischer Gefühle, als integrationspolitischen Fokus der Gesamtgesellschaft betrachten zu dürfen, weil die Vernunftprinzipien selbst sich aufgrund ihrer Allgemeinheit, Formalität und Negativität gegenüber allen individuellen Vorstellungen von einem glücklichen und sinnvollen Leben neutral verhalten. Gerade die Ermöglichung individueller agathologischer Souveränität sollte vernünftige Individuen dazu bringen, die Vernunft als verbindendes Vaterland und die Rechtsverfassung selbst als ein Gutes anzusehen und für ihr politisches Leben, für ihre Bürgerexistenz motivational fruchtbar zu machen. Es ist ersichtlich, dass die dem liberalen Rechtsstaat obliegende ethische Neutralität kein friedenstiftendes Klugheitsarrangement, kein modus vivendi ist, sondern in der normativen Grammatik des Liberalismus selbst unmittelbar verwurzelt ist: die ethische Souveränität der Individuen, das Recht, einer eigenen Konzeption des Guten zu folgen, ist die ethische Implikation des menschenrechtlichen Egalitarismus. Und es ist nicht überraschend, dass der Liberalismus gerade als Neutralitätsphilosophie, als Erfinder eines vernünftigen Neutralismus seine beispiellose Karriere begonnen hat.
Die erste Neutralitätsformel des Liberalismus lautete: Neutralität gegenüber widerstreitenden Konfessionen; und diese Neutralität gegenüber widerstreitenden Konfessionen verlangte einen Staat, der weder die eine noch die andere Konfession zur Grundlage seines Handelns machte, sondern eine religionsfreie, religionsuninteressierte Politik betrieb, die Religion aus der Öffentlichkeit entfernte und zur Privatsache erklärte. Als Gegenleistung für diese – angesichts der Wahrheitsorientierung religiöser Überzeugungen durchaus zumutungsvolle – Privatisierung der Sinnversorgung bot er eine allseitige Garantie gewaltfreier Koexistenz an.
Die zweite Neutralitätsformel lautete: Neutralität gegenüber unterschiedlichen Glücksvorstellungen. Zur Vermeidung des eudämonistischen Despotismus des Wohlfahrtsstaats des 18. Jahrhunderts haben Kant und Humboldt den Staat zur Neutralität gegenüber den unterschiedlichen Formen individueller Glückssuche verpflichtet und seine Wirksamkeit auf den Schutz des gleichen subjektiven Rechtes aller, innerhalb der allgemeinen Gesetze ihre privaten Vorstellungen von einem glücklichen Leben zu realisieren, eingegrenzt, ihn also als Rechtsstaat auf die Sicherung der Koexistenz privater Glückssucher eingeschränkt. Epistemologischer Grund dieses politischen Anti- Paternalismus ist die Nicht-Universalisierbarkeit des Glücks. Tolstoi behauptet zwar im berühmten ersten Satz seines Romans Anna Karenina, dass alle glücklichen Familien einander ähneln, jede unglückliche Familie aber auf ihre eigene Art unglücklich sei, doch trifft das nur auf das Erscheinungsbild zu, nicht auf die begriffliche Grundlage. Hinsichtlich der Begriffe von Glück und Unglück gilt das genaue Gegenteil: die Glücksvorstellungen der Individuen sind sehr unterschiedlich, wohingegen sich ihre Vorstellungen vom Unglück beträchtlich ähneln. Da es aber keine objektive Glücksvorstellung gibt, muss sich staatliches Handeln auf Rechtsverwirklichung beschränken. Denn das Recht ist allgemein, seine Regeln sind aufgrund ihrer Formalität allgemeiner Zustimmung fähig. Die Sorge des traditionellen Staates um Glück und Seelenheil fällt jetzt als agathologische Souveränität an die Privatleute zurück.
Die dritte Neutralitätsformel lautet: Neutralität gegenüber den unterschiedlichen individuellen Konzeptionen eines guten Lebens. Diese dritte Runde im liberalen Neutralitätsdiskurs ist durch die Kommunitaristen angezettelt worden, die den Begriff des guten Lebens in die Diskussion zurückgebracht haben. Aber ob wir aristotelisch vom guten Leben reden oder kantisch von der Glückseligkeit, in beiden Fällen stoßen wir auf den unleugbaren, modernitätstypischen Sachverhalt des ethischen Pluralismus. Daher ist auch die Antwort des zeitgenössischen Liberalismus für die kommunitaristischen Freunde des Guten nicht anders als die, die schon Kant seiner Zeit gegeben hat. Wenn Prinzipien Anspruch auf allgemeine Zustimmung erheben wollen, allgemein anerkennungsfähig sein wollen, dann müssen sie ohne Berufung auf Vorstellungen vom Guten begründet werden. Und die realpolitische Entsprechung der ethischen Neutralität der Prinzipienbegründung ist die Pflicht des Staates zur ethischen Unparteilichkeit. So ist also der liberalen Ordnung im Laufe ihrer Bemühung um zuerst religiöse, dann eudämonistische und schließlich ethische Neutralität das Gute abhanden gekommen, dessen gemeinschaftsbildende Kraft gerade sie so dringend zu benötigen scheint. Es ist also kein Wunder, dass die integrationspolitischen Herausforderungen an den Liberalismus wachsen, und um so mehr wachsen, je moderner die Moderne wird, je mehr die kulturelle Homogenität unter dem Pluralismusdruck verschwindet. In einer multiethnischen Gesellschaft der vielen Kulturen, Religionen und Geschichten fallen alle Instanzen aus, die traditionellerweise die Last der sozialen Kohärenz und der politischen Integration getragen haben. Weder kann man sich auf die Gemeinsamkeit der Nation noch auf die Gemeinsamkeit der Geschichte berufen. Denn die Migrationsgesellschaften der Gegenwart und Zukunft vereinigen Gruppen mit je eigenen Geschichten. Sie haben darum keine gemeinsame Vergangenheit, folglich auch keine geteilte politische Mythologie und Symbolik. Bestenfalls haben Migrationsgesellschaften, multikulturalistische Gesellschaften eine gemeinsame Zukunft. Damit sie diese aber haben können, bedürfen sie eines Gemeinsamkeitsfundaments, das sich aus kulturell neutralen Materialien zusammensetzt, eben den universalistischen Prinzipien der vernunftrechtlichen und menschenrechtlichen Verfassung. Dieses Gemeinsamkeitsfundament muss verteidigt werden, nach innen wie nach außen. Denn der Wert, den der Liberalismus der Neutralität beimisst, darf nicht Anlass sein, den Liberalismus selbst für moralisch neutral zu halten. Der Liberalismus, der in den Bann seiner eigenen ethischen Neutralität gerät und sich nicht getraut, seine eigene Sache zu vertreten, hat sich nicht verstanden. Nicht minder wird der Liberalismus von den Bürgern verkannt, die ihn lediglich wegen seiner Annehmlichkeit schätzen. Diese Instrumentalisierung der liberalen Ordnung hat ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln in der vorkantischen Vertragstheorie, die den Staat ausschließlich als Klugheitsarrangement betrachtet. Mit dem Kantischen Vernunftrecht lässt sich der Liberalismus jedoch aus dem Bann dieser verkürzenden Utilitätsperspektive befreien. Das Vernunftrecht erblickt in der institutionalisierten und rechtsförmigen Freiheit einen Wert an sich, ein um seiner selbst willen schätzenswertes Gut. Der Liberalismus ist eine auch um seiner normativen Exzellenz willen verteidigenswerte Lebensform.
Die Selbstbehauptung der liberalen Ordnung gegen Anfechtungen aller Art, gegen politischen Verschleiß und Verbindlichkeitserosion, gegen ökonomistische Instrumentalisierung und fundamentalistische Aggressivität ist zugleich rechtliche und ethische Pflicht.
Man kann die Sache mit dem Liberalismus und dem Guten aber auch anders betrachten. Der Schwierigkeit des Liberalismus liegt nicht darin, dass ihm das Gute abhanden gekommen ist und er sich selbst zum Zweck ausrufen muss; die Schwierigkeit liegt darin, dass er auf drei unterschiedlichen Ebenen das Gute mit dem Rechten ausbalancieren muss und dabei unterschiedliche Vorzugsordnungen zu beachten hat. Bislang war von der untersten Ebene die Rede, auf der allgemein anerkennungsfähige Koordinations- und Verteilungsregeln für die Verträglichkeit der divergierenden Individualvorstellungen von einem guten, gelingenden Lebens sorgen. Aber der Liberalismus kennt nicht nur die Pluralität der individuellen Konzeptionen gelingenden Lebens, zu denen der Staat in Anerkennung des Gleichheitsprinzips auf strikte Äquidistanz zu gehen hat.
Es gibt doch auch die Ziele, Projekte und Programme der Politik und die sie begleitenden und abwägenden Selbstverständigungsdiskurse der demokratischen Öffentlichkeit. Der Prozess der demokratischen Deliberation dient ja nicht nur der Initiierung gesellschaftlicher Lernprozesse und der Legitimation politischer Entscheidungen, er dient vor allem der kollektiven Erarbeitung eines widerruflichen gemeinsamen Guten.
Hier ist freilich vor jeder diskursethischen Idealisierung zu warnen. Keinesfalls führen die ethischen Diskurse pluralistischer Gesellschaft zu einer konsensualen Auszeichnung einer allgemein anerkannten Gut-Konzeption. Andererseits ist es aber auch nicht so, dass die Unerreichbarkeit des Konsenses Irrationalität indiziert. Rationalität und verbleibende Meinungsverschiedenheit sind durchaus kompatibel. Der Grund dieser Kompatibilität und damit der ausbleibenden Einigkeit liegt in der Komplexität der Gut-Konzeptionen: Gut-Konzeptionen sind kulturell kodierte Privatverfassungen, in denen sich Sinnformative, Praxismuster, Verpflichtungsplateaus, Identitätsmodelle und Handlungsformen verknüpfen: das lebensweltliche Ethik-Dickicht ist schwieriger zugänglich als des prinzipienlogische Firmament der universalistischen Moral. Aber das weist Rationalität nicht ab, all das macht nur die Erwartung unvernünftig, irgendeine dieser Gut-Konzeptionen könnte unbeanstandet als kollektives Ziel politisch-gesellschaftlicher Lebensgestaltung dienen. Vernünftigkeit zeigt sich nicht erst dann, wenn Einmütigkeit sich einstellt. Vernünftigkeit zeigt sich auch im Pluralitätsmanagement. Die Konsensobsession mancher zeitgenössischer Philosophen ist ein Vernunftatavismus, eine Erinnerung an alte metaphysische glorreiche Vergangenheit. Moderne Vernünftigkeit ist differenzkompatibel und artikuliert sich als reflexive Reaktion auf vernünftige Meinungsverschiedenheit.
Die Qualität der ethisch-kulturellen Selbstverständigung der Gesellschaft ist abhängig von der ethischen Kompetenz der Bürger. Mit dieser Bedingung ist nun sogar eine weitere, eine dritte Ebene des Guten eingeführt. Denn weder ist das Ausmaß noch die Güte der demokratischen Partizipation durch ein entgegenkommendes rechtliches Rahmenwerk, durch die vermehrte Aufnahme plebiszitärer Verfassungselemente garantiert. Das muss allen diskursethischen und zivilgesellschaftlichen Enthusiasten immer wieder entgegengehalten werden. Es ist demokratische Romantik, zu glauben, dass die Qualität der bürgerlichen Kultur allein ein Teilhabeproblem wäre, diese daher jetzt wegen erzwungener politischer Passivität wie stranguliert am Boden läge, jedoch dann, mit der mutigen Verstärkung der partizipatorischen Elemente, jäh aufblühen würde. Die Qualität ethischer Partizipation ist allein abhängig von der ethischen Kompetenz der Bürger, und diese ist nicht durch verfassungsrechtliche Prozeduren, sondern allein durch Erziehung zu gewinnen.
Das Thema der ethisch-politischen Erziehung ist fester Bestandteil der klassischen Politik gewesen, in der modernen politischen Philosophie wird dieser Problembereich jedoch ausgeklammert. Das hat zwei Gründe: zum einen – das gilt für die frühe neuzeitliche politische Philosophie von Hobbes bis Kant – glaubte man eben mit dem Motivationsfundus des aufgeklärten Eigeninteresses auskommen zu können. Zum anderen – das gilt für die gegenwärtige politische Philosophie – scheute man Erziehungsfragen aufgrund der Neutralitätspflicht des Staates; ein Staat, der sich als Moderator und Pluralismusmanager versteht, kann nicht selbst Wertorientierungen vermitteln und muss derartiges den einschlägigen gesellschaftlichen Agenturen überlassen, der Familie und der Kirche. Freilich ließ die Ausgrenzung der Erziehung die Frage unbeantwortet, woher denn die ethisch kompetenten Bürger kommen sollen, die die deliberativ-demokratische Selbstorganisation der Gesellschaft tragen können.
Aber zurück zu der These von der dreifachen Gestalt des Guten in der liberalen Ordnung. Auf der untersten Ebene gilt ohne jeden Zweifel das liberale Credo von dem Vorrang des Rechten vor dem Guten. Innerhalb einer durch ethischen Pluralismus und Fragmentierung des Guten charakterisierten modernen Gesellschaft kann eine menschenrechtlich qualifizierte Koexistenzsicherung nur auf der Grundlage eines ethisch strikt neutralen Rechts gelingen. Für die oberste Ebene des Guten gilt jedoch die Vorgängigkeit des Guten vor dem Recht. Und zwar darum genießt das Gute hier einen Vorrang vor dem Rechten, weil die Gerechtigkeitsvorstellungen des Liberalismus ja nicht zwischen den Sternen hängen, sondern Ausdruck bestimmter Formen menschlichen Zusammenlebens sind; und diese wiederum sind Spiegelbilder vorausgesetzter Idealvorstellungen menschlicher Lebensführung und politischer Existenz. Wir begründen die Gerechtigkeitsvorstellungen des Liberalismus in der Regel durch vertragstheoretische Argumente, das besagt, dass für uns die Vorzugswürdigkeit bestimmter Gerechtigkeitsarrangements in ihrer allgemeinen rationalen Anerkennungsfähigkeit liegt. Bei derartigen Begründungsszenarien machen wir aber in reichem Maße von Vernunftkonzeptionen und Personenidealen Gebrauch, die durch diese Begründungsszenarien selbst gar nicht mehr eingeholt werden können, sie aber ihrerseits richtungsweisend strukturieren. Nichts vermag uns daher daran zu hindern, die Begründung über das Vertragsmodell hinauszutreiben und in den Voraussetzungen selbst zu verankern, dadurch würde sich freilich der Status des ganzen Arguments verändern. Es wäre jetzt ein perfektionistisches Argument, das Rechtsstrukturen, Ordnungsmodelle und integrationspolitische Programme daraufhin überprüfen würde, inwieweit sie der Entwicklung des Guten, der Idealvorstellung liberaler Bürgerlichkeit dienlich sind und dem liberalen Menschen, der diese Eigenschaften liberaler Bürgerlichkeit in hohem Maße verkörpert, ein gedeihliches Entwicklungsklima bieten.
Von hier aus ist es nur ein kleiner Argumentationsschritt zu einer tugendethischen Neuvermessung des Liberalismus. Denn Tugenden sind zweckdienliche Tauglichkeiten und Tüchtigkeiten. Liberale Tugenden wären solche Fertigkeiten, Verhaltensdispositionen und Einstellungsmuster, die sich aufgrund unserer Erfahrung und Menschenkenntnis als nützlich für die Herausbildung, biographische Stabilisierung und politische Artikulation liberaler Bürgerlichkeit erweisen. Dabei ist zu beachten, dass es kein zeitlos gültiges Tugendrepertoire der politischen Existenzform gibt. Der liberale Bürger kann schon darum nicht sonderlich viel vom republikanischen Bürger der aristotelischen Tradition lernen, weil das Leben in der Moderne weitaus riskanter ist als das Leben in einer sozial homogenen, stark wertintegrierten, von den Zerdehnungskräften des Individualismus wie von den Entfremdungswirkungen des Universalismus gleichermaßen verschonten Traditionswelt. Der liberale Bürger benötigt modernitätsspezifische Tugenden, reflexive Tugenden, in denen sich die Besonderheit des Lebens in der Moderne ausdrückt, er muss komplexitätsfähig sein und den Toleranzbedarf des Pluralismus mit der Fähigkeit eines selbstbewussten Vertretens liberaler Eigenart verknüpfen, er muss Ungewissheit ertragen und den Verführungen des Einfachen widerstehen können und er muss in hohem Maße kooperationsfähig sein und zu einer gemeinsamen Erarbeitung politischer Zielvorstellungen und ethischer Selbstverständigung in der Lage sein; und er darf die Bereitschaft, diese komplizierteste Lebensform, die in der Weltgeschichte bislang entwickelt worden ist, zu verteidigen, nicht einem neutralistischen Quietismus opfern.
Von diesem Gedanken ist es nicht weit zur Erziehung. Denn Tugenden müssen gelernt werden; Bürger fallen nicht vom Himmel; und eine liberale Gesellschaft sollte die Ausbildung liberaler Bürgerlichkeit nicht dem Zufall überlassen. Diese Argumentationslinie hat den Vorzug, die funktionalistische Schieflage zu vermeiden, in die ein Großteil der Liberalismuskritik gerät. Selbst wenn es stimmen sollte, dass die liberale Gesellschaft ihren Integrationsbedarf bislang aus noch sprudelnden ethischen Quellen längst verblichener Traditionswelten gedeckt hat, hilft uns das ja nicht weiter. Traditionen sind wahrheitsdurchwirkt und können daher nicht künstlich wiederbelebt werden; diejenigen, die wieder Religion und Metaphysik wegen ihrer willkommenen integrativen Wirkungen einführen wollen, verachten beides, die Deutungssysteme der Tradition und die liberale Gesellschaft der Gegenwart. Der Liberalismus ist zweifellos ein überaus fragiles Projekt der politischen Moderne, aber es ist illusionär, es durch manipulativ eingesetzte Traditionsimitate instrumentalistisch stabilisieren zu können.
Der Liberalismus ist eine anspruchsvolle Ordnung, die der Loyalität der Bürger, ihrer affektiven Bejahung und aktiven Mitarbeit bedarf. Gehen dem Liberalismus die Bürger aus, wird er unbekömmlich, die politische Welt verödet, die Kultur der Distanz verschwindet, und das Recht wird feige. Der Liberalismus muss sich also selbst als ein Gut begreifen und nicht zögern, in ethischer Parteilichkeit und aus politischem Selbstinteresse durch couragierte politische Erziehung für seinen Fortbestand zu sorgen.
Viele meinen, dass die zunehmende Fragilität des Liberalismus in der Moderne ihre Ursache darin hat, dass der Liberalismus auf das gesellschaftliche Konfliktszenario der zeitgenössischen multikulturalistischen und multiethnischen Gesellschaften nicht vorbereitet ist. Die ordnungspolitische Phantasie des Liberalismus habe sich vordringlich am Konflikttyp der Verteilungskonflikte geschult. Verteilungskonflikte sind die Hauptkonflikte marktwirtschaftlicher Gesellschaften. Individuen, Interessengruppen und Regionen versuchen bei der Verteilung des Sozialprodukts so viel wie möglich für sich abzuzweigen. Verteilungskonflikte sind darum grundsätzlich ohne existentielle Dringlichkeit; es sind pleonektische Konflikte, Konflikte des Mehr- oder- Weniger. Sie sind darum grundsätzlich lösbar, denn die Ansprüche der Konfliktpartner sind prinzipiell verhandelbar. Konflikte dieser Art erlauben konsentische Lösungen; jeder der Konfliktpartner geht von vornherein mit einer Kompromisserwartung in die Verhandlungen.
Der charakteristische Konflikttyp, der in multikulturalistischen und multiethnischen Gesellschaften angetroffen wird, ist jedoch von anderer Art. Die Konflikte, die zwischen rivialisierenden ethnischen, religiösen, kulturellen und linguistischen Gruppen ausbrechen, sind Konflikte von existentieller Dringlichkeit, von identitätspolitischer Brisanz. Es sind Entweder-Oder-Konflikte, die von ihrer Anlage her konsentische Kompromisslösungen ausschließen. Über die Höhe von Steuerbelastungen und die Marge von Lohnsteigerungen kann man verhandeln, über identitätsbildende Zugehörigkeiten, gemeinsamkeitsschaffende Kollektivpraktiken, Sinnsysteme, Menschenbilder und Ansichten richtiger Lebensführung kann man nicht verhandeln. Wo wäre hier der Kompromiss? Hier kann die Gerechtigkeit – also die politische Tugend der gesellschaftlichen Friedenssicherung, der zivilgesellschaftlichen Konfliktprophylaxe – sich nicht als Verteilungsgerechtigkeit betätigen. Hier muss eine politische und gesamtgesellschaftliche Kunst der Konflikthegung entwickelt werden, die allem Differenten ein Betätigungsrecht gibt, soweit es mit den universalistischen Normen der Basisverfassung vereinbar ist und das liberale Ethos nicht schwächt. Sollte hingegen das kulturelle Physiognomie der Differenz so weit von dem Ethos des Liberalismus abweichen, dass der liberale Gesellschaftsvertrag der Bürger gefährdet ist, müssen die Herkunftsprägungen zurücktreten, notfalls mit den Mitteln des Strafrechts zurückgedrängt werden.