Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Zur Ideen­ge­schichte des Libera­lismus in der Bundes­re­pu­blik Deutschland

Aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 4-12

Zur Bilanz des 20. Jahrhunderts zählt die Einsicht, dass den Kampf der Ideologien nur eine überlebt hat: der Liberalismus. Zwar ist die Emphase verflogen, mit der Francis Fukuyama noch 1989 eine weltumspannende Siegesgeschichte des kapitalistisch-liberalen Westens als Ende der Geschichte visionierte, aber ernstzunehmende ideelle Alternativen haben sich – zumindest in der atlantischen Welt – seitdem nicht mehr angeboten. Das Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts (des sozialistischen sowieso!) ist vielfach beschworen. Außer vereinzelten Rückzugsgefechten auf der Linken scheint ein, wenn auch verschwommener, liberaler Konsens zu herrschen. Die Prinzipien des Rechtsstaates, die gehegte Marktwirtschaft sowie die Menschen- und Bürgerrechte sind als Leitlinien demokratischer Selbstorganisation unangefochten, sie sind uns selbstverständlich geworden, und liberale Ideen finden sich in unendlich verschiedenen Variationen, ohne dass sie auf ihren Ursprung zurückgeführt werden müssten. So gilt auch für die Bundesrepublik: Der Liberalismus ist gleichzeitig überall und nirgends, da seine Kernelemente in unterschiedliche politische und theoretische Strömungen diffundiert sind, sich eine „reine Lehre“ aber schwerlich ausmachen lässt.

Dass politische Begriffe nie unschuldig und objektivierbar, sondern immer auch Kampfbegriffe polemischer Natur sind, zeigen die oftmals entgegengesetzten Konnotationen des Wortes „liberal“ zu Genüge. Es muss gar nicht die von links mitgeführte Verunglimpfung der „Scheißliberalen“ aufgerufen werden, um daran zu erinnern, dass mit dem Liberalismus stets eine Haltung der Unentschiedenheit, des „anything-goes“ und der Beliebigkeit assoziiert worden ist. Darüber hinaus ziehen prononciert wirtschaftsliberale und anti-etatistische Bestrebungen mit vorhersehbarer Regelmäßigkeit den Vorwurf der sozialen Kälte auf sich. Die Rechtfertigung neuer, vorgeblicher Sachzwänge der Globalisierung wird als Ideologie des neoliberalen Kapitalismus identifiziert. Demgegenüber gilt eine Liberalisierung der Gesellschaft, weiterhin verstanden im Sinne einer Modernisierung und einer Emanzipation aus vorrationalen Zwängen der Tradition, als Freiheitsgewinn und konterkariert somit das negative Image eines Liberalismus, der unter Dauerverdacht steht, die sozial Benachteiligten einem gesellschaftlichen Kampf ums Dasein auszuliefern.

Eine solche Liste kolloquialer Gepflogenheiten und Widersprüchlichkeiten ließe sich fortsetzen, wenn man davon absähe, mit dem Liberalismus noch eine politische Theorie zu verbinden. Gleichwohl bleibt mit Blick auf die Bundesrepublik das Problem, dass sich bei allem Bemühen, die Meriten einer gesellschaftlichen und politischen Liberalisierung einzuheimsen, kaum jemand berufen fühlte, die Sache des Liberalismus auszubuchstabieren. Zumindest sind in der deutschen Ideengeschichte die Bekenntnisse zum politischen Liberalismus rar gesät, und sogar die FDP als dezidiert liberale Partei hat sich immer schwer getan, eine überzeugende intellektuelle Linie bzw. eine geistige Begründung für ihre politische Programmatik zu finden. Als noch schwieriger erwies sich die Aufgabe, ein wie auch immer geartetes Pantheon liberalen Denkens einzurichten, denn es mangelt evidentermaßen an Leitfiguren, die das Zeug zur geistesgeschichtlichen Repräsentanz des Liberalismus besäßen. Die parteinahe Stiftung der FDP löst sich mittlerweile klammheimlich von ihrem Namenspatron, dem sozialliberalen Nationalisten Friedrich Naumann, findet aber keinen personalen Ersatz. Naumanns weit überlegener Zeitgenosse Max Weber – zweifelsohne der Gigant unter den Klassikern des politischen und sozialwissenschaftlichen Denkens – erweist sich ebenfalls als etwas sperrig für eine liberale Vereinnahmung.

Doch auch wenn man nicht unbedingt die defizitäre und problematische liberale Ideengeschichte innerhalb des deutschen Sonderweges aufsucht (der bekanntlich 1945 endete), ist der Liberalismus in der Bundesrepublik – trotz aller Liberalisierung – schwer zu orten. Sicherlich lassen sich die formativen Jahre der Bundesrepublik treffend als nachholende Aneignung liberaler westlicher Traditionen beschreiben, wie Jürgen Habermas dies getan hat. Demokratie, Pluralismus, Parlamentarismus, kritische öffentliche Debatte – kurz: die geistigen Prinzipien des liberalen Verfassungsstaates, die Carl Schmitt noch in den 1920er Jahren als überholt und strukturdysfunktional verabschiedet hatte, galt es umfassend zu rehabilitieren und in ihrer Geltung zu festigen.[1] Aus dieser gemeinsamen Basis, die alle Demokraten teilen, lässt sich jedoch noch kein konziser Begriff des Liberalismus generieren.

Für die Sondergeschichte des Liberalismus in Deutschland gilt darüber hinaus, dass dieser seit 1848 mit dem Stigma der Niederlage behaftet war. Die Ziele Einheit und Freiheit konnten Liberale hierzulande nicht verwirklichen, und eine bürgerliche Revolution blieb aus. Die nationalliberale Gravitation, die seit dem Arrangement mit der monarchischen Obrigkeit spätestens seit der Gründung des Deutschen Reiches in der Politik bestimmend wurde, bedeutete eine schwere Hypothek. Noch die Zustimmung der restliberalen Deutschen Staatspartei (die ihren Etatismus schon im Namen führte) zum Ermächtigungsgesetz zeigte das Dilemma nomineller Liberaler in Deutschland auf: den Verrat liberaler Prinzipien zugunsten vermeintlicher machtstaatlicher Verantwortung. Insofern war der deutsche Liberalismus nach 1945 doppelt kompromittiert: Zum einen hatte er aus „realpolitischen“ Erwägungen, wie es seit Ludwig von Rochau hieß, seine Ideale verraten und war nie wirklich zur Entfaltung gekommen, zum anderen lag in der „machtgeschützten Innerlichkeit“ (Thomas Mann) des deutschen Liberalismus ein Hemmnis für eine aktive bürgerschaftliche Gesellschaftspolitik, die eine demokratische politische Kultur hätte befördern können.

Ordoli­be­ra­lismus als „deutscher Weg“

Vor dem Hintergrund dieser Problemgeschichte lässt sich auch eine Denkrichtung verstehen, die in der Bundesrepublik einflussreich wurde und eine bis heute spürbare ökonomische Schlagseite des Liberalismus verursachte: der Ordoliberalismus.[2] Wie Michel Foucault herausgearbeitet hat, sahen sich die Ordoliberalen vor der Herausforderung, eine neue Form für den Kapitalismus zu finden und den Liberalismus aus der Krise zu führen. Im freien Markt erkannten ordoliberale Vordenker wie Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke oder Walter Eucken nicht mehr das Allheilmittel der invisible hand; sie strebten nach einer gesellschaftspolitischen Herstellung von Wettbewerbsregeln und wandten sich vom Ideal des laissezfaire ab, hin zu einem „positiven Liberalismus“ permanenter staatlicher Intervention. Foucault markiert diesen denkerischen Neuentwurf als Hervorbringung eines neuen Legitimitätsbegriffs. Der Staat gründet seine Legitimität fortan „auf die garantierte Ausübung einer wirtschaftlichen Freiheit“, oder, wie es pointiert heißt: „Die Wirtschaft erzeugt Legitimität für den Staat, der ihr Garant ist.“[3]

Dahinter stand die selbstkritische liberale Einsicht in die Herstellungsbedürftigkeit des Marktes und seine rechtsstaatliche Einhegung. Der Markt stand zwar weiterhin im Zentrum dieses neoliberalen Denkens, den Glauben an seine Autonomie oder sein natürliches Prinzip hatte man allerdings verloren. Der Markt war ein hochartifizielles Gebilde, das nur unter gerechten Konkurrenzbedingungen gleiche Entfaltungschancen für die Individuen bot und daraus eine spezifische Dynamik entfesselte, um Wachstum und Fortschritt zu sichern.

Foucault versteht in seiner absichtsvollen Umdeutung den Liberalismus nicht als Ideensystem oder gar als politische Philosophie der Freiheit. Wenn er in seinen Vorlesungen am Collège de France im Wintersemester 1978/79 Liberalismus als „ein Wort“ begreift, „das aus Deutschland zu uns kommt“, so möchte er damit keineswegs das Lob fortgeschrittener gesellschaftlicher Liberalisierung in der Bundesrepublik anstimmen oder die Erträge deutscher politischer Philosophie würdigen. Er begreift den Liberalismus aus der Perspektive der politischen Ökonomie als rationale Regierungspraxis, die eher nach ihren Wirkungen als nach normativen Gründen zu beurteilen ist, und kann den Ordoliberalismus umstandslos in sein Konzept der Gouvernementalität integrieren. In dieser zugespitzten Lesart wird man ihm nicht in letzter Konsequenz folgen, denn das Konzept eines „politisch-moralischen Rahmens“ (Röpke) unterschlägt er. Der Staat ist für die Ordoliberalen eben nicht lediglich ein Instrument geplanter Invervention, sondern durchaus Träger einer regulativen Idee.

Das erklärte Ziel der Ordoliberalen besteht darin, die moderne Massengesellschaft, deren Atomisierungs- und Nivellierungstendenzen zur ethischen Entwurzelung der Individuen beigetragen hatten, durch eine neue soziale Form abzulösen. Dabei ging es dem Ordoliberalismus darum, sich von verbreiteten Denkmustern geschichtsteleologischer Zwangsläufigkeiten zu verabschieden und die politische Verantwortlichkeit des Menschen, auch für die Einrichtungen des ökonomischen Lebens, zu unterstreichen. Die Ordoliberalen wollten zeigen, dass sich eine neue Form für den Kapitalismus finden lasse, um der ihm inhärenten Dynamik in einer gerechten Gesellschaftsordnung ein stabiles Gehäuse zu geben. Sie wandten sich nicht nur gegen den Marxismus, sondern auch gegen jene Theoretiker, die unaufhaltsame Bürokratisierungs- und Rationalisierungstendenzen für den Motor aller Entwicklungen hielten. Sie sahen die Aufgabe der Politik darin, einen „dritten Weg“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus zu finden.[4]

Die ordoliberale Theorie stellte den Staat in den Dienst der Gesellschaft und ihrer ökonomischen Bedürfnisse. Der handlungsfähige Staat, den sie entwarf, verzichtete auf andere Staatszwecke, als für das Wohl und die freie Entfaltung seiner Bürger unter rechtsstaatlichen Bedingungen zu sorgen. Weder spielte nationale Selbstbehauptung oder außenpolitische Machtentfaltung noch das Ideal der Volkssouveränität irgendeine Rolle in ihren Überlegungen. In scharfer Abgrenzung zur obrigkeitsstaatlichen Tradition beschreiben die Ordoliberalen Staatsaufgaben, die sich nicht an der Nation und deren bloßer Lebenserhaltung orientieren, sondern am einzelnen Bürger. Sie gehen fest davon aus, dass die Gesellschaft durch den Staat gestaltbar ist. Allerdings beruht diese staatliche Politik nicht unbedingt auf demokratischer Legitimität, sondern vielmehr auf der Einsicht von kompetenten Verwaltungseliten, die die Stellschrauben der Staatsmaschine justieren.

Dieser „deutsche Weg“ unterschied sich merklich von radikalliberalen Ökonomen wie Ludwig Mises oder Friedrich August von Hayek, mit denen durch die legendäreMont Pèlerin Society anfangs enge Kontakte bestanden hatten. Überdies fanden sich die Ordoliberalen, deren Ideen durch Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack praktische Relevanz erlangten, in den Gründungsmythos der Sozialen Marktwirtschaft eingewebt. Sie teilten eine Schwäche ihrer marktliberalen Kontrahenten, denn obwohl sie die blinden Flecken des klassischen Liberalismus mit Blick auf die soziale Frage erkannt hatten, ignorierten sie alle demokratietheoretischen Fragen, die mit bürgerlicher Selbstorganisation und Partizipation zu tun hatten. Es ist deshalb nicht weiter verwunderlich, dass die politische Ökonomie des Ordoliberalismus in ihrem Glauben an Planung und social engineering wenig anschlussfähig blieb für eine politische Theorie des Liberalismus.

Ralf Dahrendorfs liberale Agenda

Die Suche nach dem prototypischen liberalen Denker der Bundesrepublik führt schnell zum Soziologen und öffentlichen Intellektuellen Ralf Dahrendorf, der sich in kluger Weise und gewissermaßen als einziger prononciert zum Liberalismus bekannte. Die Ordoliberalen, deren „Soziale Marktwirtschaft“ er für ein Zufallsprodukt hielt, spielten für sein Denken kaum eine Rolle, auch weil er ihre Einsichten „wenig eindrucksvoll“ fand.[5] In ihren christlich geprägten Sittlichkeitsvorstellungen samt kulturpessimistischen Untertönen konnte er noch keine politische Theorie entdecken.

Dahrendorfs liberaler Entwurf weist über den Kontext der deutschen Ideengeschichte hinaus. Wenn seine Selbstverortung im Liberalismus auch nicht bedeutet, dass es außer Dahrendorf keine Liberalen in Westdeutschland gegeben habe, so zeigt seine einsame liberale Positionierung doch an, wie mühsam ein Bekenntnis zum Liberalismus gewesen ist: Zwar wird man bis in die 1960er Jahre von einem geteilten liberalen Konsens unter „Demokratiewissenschaftlern“ wie Theodor Eschenburg, Dolf Sternberger, Arnold Bergstraesser oder Ernst Fraenkel (um die Doyens der Politologie zu nennen) ausgehen können, und auch eine jüngere Intellektuellengeneration, vertreten durch Wilhelm Hennis, Kurt Sontheimer, Karl-Dietrich Bracher, Hermann Lübbe oder Jürgen Habermas, identifizierte sich mit den Werten der liberalen Demokratie. Eine offensive begriffspolitische und konzeptionelle Aneignung des Liberalismus lässt sich allerdings nur beim anglophilen Dahrendorf ausmachen. Sein intellektueller Weg zeigt beispielhaft, wo die Angriffsziele eines politischen Liberalismus in Deutschland lagen. Schon in seinem bahnbrechenden Werk Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1965) intoniert Dahrendorf die Grundthemen seiner liberalen Agenda: die Wendung gegen eine hegelianisch verbrämte Staatsvergottung, das Plädoyer für die Austragung gesellschaftlicher Konflikte, die Ermöglichung von Aufstiegschancen unabhängig von sozialer Herkunft, die Pflege öffentlicher Tugenden in einer selbstbewussten Bürgergesellschaft.

Dahrendorfs entschieden liberale Standortbestimmung bricht aus dem Kleinklein der deutschen Geistesgeschichte aus. Er sucht die politische Orientierung bei den europäischen Cold War Liberals seiner Vatergeneration, denen er später als Erasmier ein Denkmal setzen wird, da sie den Versuchungen der Unfreiheit im totalitären Zeitalter zu widerstehen in der Lage waren: Karl Popper, Hayek, Raymond Aron, Isaiah Berlin.[6] Mit seinem vom klassischen Liberalismus geprägten Freiheitsdenken geriet Dahrendorf zwischen die Diskursfronten der späten 1960er und 1970er Jahre. Der antiinstitutionelle Impuls seines Homo Sociologicus, der „die ärgerliche Tatsache der Gesellschaft“ und die Determination des Menschen durch soziale Rollenerwartung thematisierte, verunsicherte die liberalkonservativen Tendenzwendler (an deren Kongress Dahrendorf 1974 immerhin mitwirkte).[7] Seine Betonung der Notwendigkeit von Herrschaft sowie sein unbedingtes Festhalten an meritokratischen Prinzipien und dem Kapitalismus irritierten die wohlfahrtsstaatsgewissen Sozialdemokraten ebenso wie eine politische Linke, die von Herrschaftsfreiheit träumte.

Dahrendorf hat sich bisweilen selbst als Radikalliberalen bezeichnet, und der von ihm emphatisch gebrauchte Freiheitsbegriff unterstreicht sein Bemühen, den Liberalismus als Ganzes zu repräsentieren – nicht nur theoretisch, sondern auch parteipolitisch. Dass sein Weg in die politische Praxis an den eigenen Ansprüchen scheiterte, ist selbstredend kein Argument gegen die Stichhaltigkeit grundsätzlicher theoretischer Positionen. Der Soziologe hatte übersehen, dass intellektuelle Brillanz und rhetorischer Schliff für eine Parteikarriere nicht ausreichen. Als junger Shooting Star einer sich modernisierenden, für sozialliberale Optionen öffnenden FDP machte er zwar eine steile Karriere, kam aber nicht an den gewieften Taktikern der Macht Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher vorbei. Trotzdem blickt man von heute fasziniert auf eine Epoche, als ein junger Universitätsprofessor sowie der Herausgeber des größten Nachrichtenmagazins binnen kurzer Zeit parteipolitischen Einfluss erlangten und im Bundestag oder auf Parteitagen richtungsweisende Reden hielten. Das schien damals einzig in einer liberalen Partei möglich, die dann allerdings sukzessive ihren intellektuellen Appeal einbüßte und die Fähigkeit verlor die verschiedenen Appendix-Liberalismen in einer gewissen Gleichrangigkeit nebeneinander existieren zu lassen. Zu sehr dominierte spätestens seit den 1980er Jahren der marktliberale Lambsdorff-Flügel die programmatischen Debatten, so dass wenig Raum für sozialliberale, bürgerrechtlich orientierte, republikanische und liberalkonservative Strömungen blieb.

Ralf Dahrendorf eignet sich als exemplarischer liberaler Theoretiker so gut, weil er diese Einheit in Vielheit pflegte. Sein windungsreicher intellektueller Weg lässt sich als ein Lernprozess beschreiben, der zeigt, dass es für die Sache der Freiheit weder einfache Lösungen noch Denkverbote geben kann. Dahrendorfs Beharren auf gesellschaftliche Konfliktfähigkeit und der Produktivität des Meinungs- und Interessenstreits rechtfertigt am ehesten das Prädikat „radikalliberal“. Dahrendorfs Denken hat zweifellos einige Wandlungen durchgemacht, wenn der Theoretiker in der Substanz auch stets wieder erkennbar ist. Er selbst hat eingeräumt, dass seine frühe Soziologie die Stabilisierungsfunktion von Institutionen unterschätzt hat. Mit dem späterhin eingeführten Kunstbegriff der Ligatur hat er diesen Mangel zu beheben versucht: Dahrendorfs Ligaturen liegen bei genauerem Hinsehen erstaunlich nahe an Arnold Gehlens sehr weit gefasstem Institutionenverständnis; darin zeigt sich eine liberalkonservative Wende des älteren Dahrendorf: „Der einzelne wird kraft seiner sozialen Positionen und Rollen in Bindungen oder Ligaturen hineingestellt“, und diese Ligaturen „stiften Bezüge und damit Fundamente des Handelns“.[8] Dahrendorfs „Theorie eines aktiven Liberalismus“ verlangt keine tabula rasa der Befreiung aus bestehenden sozialen Verhältnissen, sondern eine schrittweise Erweiterung von Lebenschancen der Bürger. Im Begriff der Lebenschancen ist das aufgehoben, was der angelsächsische Liberalismus seit John Rawls unter Gerechtigkeit verhandelt. Mit diesem Konzept der Lebenschancen – „von sozialen Strukturen bereitgestellte Möglichkeiten individueller Entfaltung“ – bietet sich ein bislang wenig genutztes Instrument, soziale Fragen von liberaler Seite heraufzunehmen.

Weil sich der späte Dahrendorf vor allem als Zeitdiagnostiker und in hohem Maße situativer Denker präsentiert hat, ist er aus der Sicht der politischen Philosophie zu Unrecht als vermeintliches theoretisches Leichtgewicht abgetan worden. Spätestens seit Richard Rorty darf man mit Fug und Recht darauf verweisen, dass liberales Denken nicht unbedingt Letztbegründungen braucht und dass liberaler Common sense sich im Urteil und im argumentativen Zusammenhang zeigt anstatt in der Beantwortung transzendentaler Fragen.[9] Dieser Pragmatismus bedeutet kein simples Arrangement mit dem Status quo und kein Verzicht auf reformerische Verbesserung, sondern eine Entlastung von allzu ausufernden vorpolitischen Diskussionen, die in der Philosophie sehr wohl ihren Ort haben, die politische Theorie aber hemmen, wenn man in ihnen verharrt.

Mitunter beschleicht einen das Gefühl, dass der parteipolitische Liberalismus und die ihm nahen Kreise das Plädoyer für einen solchen Pragmatismus falsch verstanden haben und bei einer vulgarisierten Form Hayekscher Ökonomie stehen geblieben sind. Dahrendorf hat sich schon in den 1970er Jahren von Hayek gelöst und eine Reduktion des Liberalismus auf eine Ideologie des freien Marktes immer wieder kritisiert. Er sah eine Gefahr darin, die Stabilität politischer Ordnung einseitig auf ökonomisches Wachstum zu gründen. Es ist deshalb durchaus berechtigt, im Sinne von Herfried Münkler den republikanischen Gehalt von Dahrendorfs Liberalismus zu betonen, der schon früh für die Pflege öffentlicher Tugenden plädierte und keineswegs in das alleinige Lob der negativen Freiheit einstimmte, wie er es im Denken des bewunderten Isaiah Berlin vorfand.[10]

Libera­lismus nach Dahrendorf

Dahrendorfs sozialliberale Verantwortung, sein unbedingtes Festhalten an Poppers Idee der offenen Gesellschaft, sein weltbürgerlicher Kantianismus, aber auch seine – besonders im Alter zunehmende – politische Skepsis zählen zu den wesentlichen liberalen Tugenden, von denen keine privilegiert werden sollte, sondern die sich gegenseitig ergänzen und ausbalancieren. Dahrendorfs skeptische Sorge um die geistigen Grundlagen liberaler Demokratien und die Reproduktionsbedingungen der benötigten öffentlichen Tugenden bietet für gegenwärtige Debatten genügend Anlass. Mehr und mehr wuchs sein Unbehagen darüber, dass sich Marktwirtschaft und Demokratie als kalte Projekte präsentierten. Während der frühe Dahrendorf daran die relative Unempfindlichkeit gegenüber ideologischen Übererwartungen schätzte, befürchtete der späte Dahrendorf zusehends ein Abgleiten weiter Teile der Bürgerschaft in politische Apathie.[11] Es scheint drei unterschiedliche liberale Antworten auf von Dahrendorf skizzierte Problem zu geben, wie die Bestandsbedingungen der liberalen Demokratie zu sichern sind – und zu verschiedenen Zeiten hätte Dahrendorf selbst jede der drei Antworten für zustimmungsfähig gehalten.

In liberalkonservativer Manier ließe sich erstens die so genannte Böckenförde-Doktrin anführen, nach welcher „der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“.[12] Entlastend ist daran, dass der Staat selbst auch die Frage nach den letzten Zwecken delegiert und sich vom Anspruch befreit, Glücks- und Sinnerwartungen der Bürger erfüllen zu müssen. Diese Bereiche bleiben den Privatbürgern und insbesondere ihren Glaubensvorstellungen überlassen. Es bleibt aber eine anspruchsvolle staatliche Aufgabe, den vorpolitischen Raum so zu schützen und zu pflegen, dass der Sockel der soziomoralisch zuträglichen Voraussetzungen stabil bleibt. Die Rolle der Religion, der Bildung und allgemein der Traditionspflege steht deshalb im Fokus liberalkonservativer Aufmerksamkeit und verlangt nach immer neuer liberaler Referenzialisierung.

Die Antwort des republikanischen Liberalismus, wie sie prominent Herfried Münkler vertritt, setzt zweitens auf eine Reevaluation von Bürgertugend und Gemeinwohlorientierung. Münkler markiert, im Rückgriff auf den klassischen Republikanismus und in Bezug auf Michael Walzers kommunitaristische Kritik am Liberalismus, das „Defizit des liberalen Modells, auf die sozio-moralischen Voraussetzungen seines Funktionierens zu reflektieren“.[13] Die Förderung von Partizipation im doppelten Sinn von Teilhabe und Einmischung stellt Münkler einem Irrweg des Liberalismus gegenüber, der „in die McKinsey-Gesellschaft der Kunden und Anbieter“ führte.

In etwas anderer Nuancierung hat drittens Wolfgang Kersting jüngsthin eine Verteidigung des Liberalismus vorgenommen. Seine eher puristische Position betont die ethische Autarkie als Schicksal des liberalen Staates und sieht den Liberalismus dazu verurteilt, „sich selbst zu organisieren und sich aus sich selbst zu reproduzieren“. Anstatt vergeblich darauf zu hoffen, dass der liberale vom republikanischen Bürger lerne oder dass „kommunitaristische Wünschelrutengänger“ eine Vorstellung des Guten fänden, sollte man allein auf die Vernunft und die Einsichtsfähigkeit des Einzelnen setzen bzw. wehrhaft für die Sache des Liberalismus eintreten.[14]

Dieser knappe Seitenblick auf die politische Philosophie verdeutlicht, dass die Debatten um den Liberalismus auch jenseits der Krise eines turbokapitalistischen globalen Finanzmarktversagens geführt werden und geführt werden müssen. Dabei ist es auch notwendig, liberale Kerntheoreme und Einsichten auf neue Problemlagen anzuwenden, die lange Zeit im Schatten einer nationalökonomischen Fixierung lagen und auf die ein normativ enthaltsamer Marktliberalismus keine Antworten weiß. Wie lässt sich beispielsweise auf die Gerechtigkeit von Lebenschancen in einer Migrationsgesellschaft reflektieren, wenn unterschiedliche Herkunftskulturen, Traditionen und Glaubensüberzeugungen in einen wertegeleiteten Dialog treten und Bildung als Bürgerrecht bewahrt werden soll? Und welche Aussichten hätte eine liberale Politik, ökologische Krisen zu bewältigen, wenn die Gesichtspunkte des Marktes alleiniger Maßstab blieben? Es ist an der Zeit, dass der Liberalismus, der in Deutschland stets fern davon war, eine reine Lehre zu repräsentieren und dessen Staatsnähe lange Zeit das Ziel einer selbstbewussten Bürgergesellschaft verstellt hat, mittlerweile aus der Beschränkung eines – zumindest nominell und parteipolitisch dominierenden – Marktliberalismus befreit werden sollte, um einen liberalen Staatsbegriff und eine zivilgesellschaftliche Öffnung gleichermaßen zu konzeptualisieren. Nicht allein aus begriffspolitischen Gründen ist es ratsam, eine vorschnelle Identifizierung kapitalistischer Marktdoktrinäre mit der Sache des Liberalismus zu verhindern. Der Liberalismus – dazu genügt ein kleiner Schwenk in seine Ideengeschichte – ist zu sehr allgemeine Grundlage allen westlichen Denkens und Handelns, als dass seine einseitige Vereinnahmung durch jene zuzulassen wäre, die ihn in die geistige Einöde führen würden. Liberalismus geht nicht auf im Mantra von „Steuern senken“ und „Leistung muss sich wieder lohnen“. Deshalb ist eine normative Wiedergewinnung des Liberalismusbegriffs von theoretischer und praktischer Warte nicht nur zu begrüßen, sondern unbedingt notwendig.

[1] Siehe Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus (1923), Berlin 1996, 8. Aufl.

[2] Vgl. zum Folgenden ausführlicher Jens Hacke, Die Bundesrepublik als Idee. Zur Legitimationsbedürftigkeit politischer Ordnung, Hamburg 2009, S. 53-60.

[3] Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt/M. 2006, S. 122-124.

[4] Vgl. Matthias Bohlender, Die historische Wette des Liberalismus. Die Geburt der Sozialen Marktwirtschaft, in: Ästhetik & Kommunikation 36 (2005), Heft 129/130, S. 121-129.

[5] Vgl. Ralf Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa, Stuttgart 1990, S. 88ff.

[6] Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006.

[7] Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, Köln/Opladen 1958.

[8] Ralf Dahrendorf, Lebenschancen. Anläufe zur sozialen und politischen Theorie, Frankfurt/M. 1979, S. 50.

[9] Vgl. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt/M. 1992.

[10] Vgl. den Vortrag von Herfried Münkler „Der Liberalismus und die Frage nach den soziomoralischen Grundlagen des Gemeinwesens“ anlässlich der Tagung „Freiheit und Konflikt. Das Werk und die Wirkung von Lord Ralf Dahrendorf“ in der Bucerius Law School, Hamburg, am 30. November 2009 (erscheint in: Mittelweg 36, Heft 2/2010).

[11] Vgl. etwa Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch, München 2002.

[12] Nochmals in Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München 2007, hier S. 71.

[13] Herfried Münkler, Zivilgesellschaft und Bürgertugend. Bedürfen demokratisch verfasste Gemeinwesen einer sozio-moralischen Fundierung?, Berlin 1994, S. 22.

[14] Wolfgang Kersting, Verteidigung des Liberalismus, Hamburg 2009.

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