Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Editorial

Aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 1-3

Der Liberalismus genießt in Deutschland einen ziemlich schlechten Ruf. Das liegt vordergründig an dem politischen Personal, das in seinem Namen agiert. Wer sich heute ein Bild vom Liberalismus machen will, der hat Guido Westerwelle vor Auge und wer von den Liberalen spricht, denkt zuförderst an die FDP. Deren performative Schwäche und geringe Akzeptanz schlägt zwangsläufig auf die politische Philosophie, die diese für sich reklamieren, zurück. Dabei wären durchaus Zweifel angebracht, ob diese Vereinnahmung berechtigt ist. Schon ein Blick durch die soziologische Brille dürfte erkennen lassen, dass der klassische Typus des Bürgers, der citoyen, sich häufiger in anderen Parteien finden lässt, wohingegen in der FDP mehr der Wirtschaftsbürger den Ton angibt, der sich eher von Interessen denn von Tugenden leiten lässt.

Er steht dabei im Einklang mit der Schwundform des Liberalismus, welche die politische Agenda in den letzten zwanzig Jahren beherrscht und weitaus nachhaltiger zu dessen schlechten Ruf beigetragen hat als das Personal. Neoliberalismus, das ist die Reduktion des Liberalismus auf den Primat kurzfristiger ökonomischer Verwertungsinteressen vor den Belangen der Gesellschaft, des Staates und der künftigen Generationen. Spätestens mit der Finanzkrise ist die ideologische Prägung dieses Ansatzes offenbar geworden. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, den Liberalismus als normatives Muster des gesellschaftlichen Zusammenlebens zu rekonstruieren. Eine solche kritische Rekonstruktion wird zudem dadurch nahegelegt, dass die soziale Gerechtigkeit als ordnendes Prinzip des Sozialstaates gleichfalls unter Legitimationsdruck geraten ist. Schließlich sprechen auch die Konflikte, die sich aus dem Zusammenleben in einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft ergeben, dafür, zu erkunden, wie eine liberale Ordnung beschaffen sein muss, diese einzuhegen. Das sind genug Gründe, für einen besseren Ruf des Liberalismus zu sorgen, und diese Ausgabe der vorgänge will einen Beitrag dazu leisten.

Jens Hacke folgt in seinem Beitrag den Spuren, die der Liberalismus in der Ideengeschichte der Bundesrepublik Deutschland hinterlassen hat. Sie sind tiefer, als es die Vorgeschichte und die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt. Der Ordoliberalismus lieferte die Grundlage der sozialen Marktwirtschaft, Ralf Dahrendorf war der entschiedene Verfechter einer liberalen Gesellschaftsordnung, in der dem Staat eine aktive Rolle zufiel. Viele seiner liberalen Grundpositionen wurden von anderen Intellektuellen geteilt, ohne dass diese es explizit machten.

Claudia Ritzi und Gary S. Schaal gehen der wachsenden Schwierigkeit liberaler Demokratien nach, sich responsiv ihrer Legitimation zu vergewissern, und prüfen als zwei Auswege aus diesem Dilemma zum einen die Möglichkeit, die Entpolitisierung zu akzeptieren und die Legitimation durch die Implementierung von Verfahren und Institutionen zu erhöhen, zum anderen die Strategie einer Re-Politisierung der Bürgerinnen und Bürger sowie des demokratischen Prozesses. Sie halten die Implementierung deliberativer Verfahren für eine viel versprechende, wenngleich nicht unproblematische Strategie.

Wolfgang Kersting erkennt eine Qualität des liberalen Modells gesellschaftlicher Ordnung in seiner Neutralität gegenüber den Vorstellungen des guten Lebens und des Glücks. Dass es damit auch neutral ist gegenüber den gesellschaftlichen Ressourcen, auf denen es basiert, ist ein Dilemma, dem weder mit kommunitaristischer Gemeinschaftsorientierung noch mit deliberativen Verfahren begegnet werden kann, sondern nur mit einer Ethisierung des liberalen Modells, mit einer entsprechenden demokratischen Bildung und Erziehung.

Karsten Fischer sieht das Verhältnis von Religion und Politik dadurch geprägt, dass erstere als individuelle Privatansichten zu behandeln und zu begrenzen ist und im Gegenzug frei von jeglicher politischer Einflussnahme bleibt. Darin liegt eine Selbstbeschränkung des demokratischen Staates, die darauf angewiesen ist, dass die Religion, entgegen dem ihr immanenten Absolutheitsanspruch, ebenfalls eine entsprechende Haltung ausbildet.

Christoph Butterwegge rekapituliert die öffentliche und wissenschaftliche Auseinandersetzung über die Folgen der Finanzkrise und hält es für verfehlt, von einem Ende des Neoliberalismus zu sprechen. Dieser erweise sich vielmehr als anpassungsfähig. Die anhaltende Krise wirke zudem als Drohkulisse gegenüber möglichem Protest und unterminiere einen Politikwechsel.

Dieter Rulff untersucht, inwieweit die Belange der Nachkommenden im liberaldemokratischen Modell Berücksichtigung finden können. Er erkennt in der Generationengerechtigkeit einen starken Begriff, hinter dem sich jedoch ein schwaches, weil in sich widersprüchliches normatives Modell verbirgt, das kaum tauglich ist, politisch handlungsanleitend zu wirken. Mit der liberalen Demokratie kompatibler ist ein Ansatz, der auf die gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnisse zurückgreift.

Wolfgang Fach entwirft im Licht liberaler Theoreme eine Typologie des Liberalen, die zwischen Biedermeier und Brandstifter changiert.

Theo Schiller lässt die Blütezeit des sozialen Liberalismus in den sechziger und beginnenden siebziger Jahren Revue passieren.

Jürgen Dittberner stellt das derzeitige Personal und Programm der FDP auf den Prüfstand und beurteilt die Chancen, aus der marktliberalen Verengung herauszufinden, eher skeptisch.

In seinem Essay plädiert Johann-Albrecht Haupt dafür, das Grundgesetz endlich beim Wort zu nehmen und die bereits in der Weimarer Verfassung festgelegte endgültige Regelung der Staatsleistungen an die Kirchen ins Werk zu setzen, statt jährlich 450 Millionen Euro zu überweisen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten.

Markus Holzinger analysiert die Rückwirkung asymmetrischer Konflikte auf den demokratischen Rechtsstaat. Dieser neigt dazu, um die Symmetrie wieder herzustellen, sich auf das Niveau des Gegners zu begeben und dabei eigene Grundsätze zu verletzen.

Dieter Deiseroth zieht nach sechzig Jahren Grundgesetz eine Bilanz der Verwirklichung des dort festgelegten Friedensgebotes. Sie fällt nicht besonders gut aus.

Rezensionen der Bücher von Armin Laschet zur Integrationspolitik und von Wolfgang Engler zur Geschichte der Lüge, geschrieben von Peter Fischer und Gerd Pflaumer, sowie Besprechungen neuer Bücher zur Friedenspolitik von Ulrich Finckh und Herbert Mandelartz schließen diese Ausgabe der vorgänge ab, zu der ich Ihnen wie immer eine anregende Lektüre wünsche.

Ihr

Dieter Rulff

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