Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Der kurze Sommer des sozialen Libera­lismus

Ein Rückblick auf die Freiburger Thesen;

aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 69-77

Sozialer Liberalismus in Deutschland? Aus heutiger Sicht klingt das wie aus einer anderen Welt – man muss die Erinnerung kräftig anstrengen und rund vier Jahrzehnte bis Anfang der 1970er Jahre zurückgehen, um fündig zu werden. Man tut auch gut daran, von vornherein zwischen Programmatik und praktizierter Politik eines sozialen Liberalismus zu unterscheiden. Im Folgenden wird daher im Ergebnis mehr von Programmen als von Praxis die Rede sein. Immerhin findet sich eine solche historische Spur sozialliberaler Reformansätze in der Geschichte der FDP der frühen 1970er Jahre.

Die sozial-liberale Reformzeit der FDP lag zwischen dem Freiburger Parteitag 1968 und dem Kieler Parteitag von 1977. In dieser Zeit wurden neue Ideen entwickelt und in die Programmatik der Partei aufgenommen, etwas davon auch in die praktische Politik. Den Höhepunkt dieser Entwicklung markierten zweifellos die Freiburger Thesen von 1971, doch war das Themenspektrum breiter. Gleichzeitig blieben aber auch die traditionellen Werte und Interessen, vor allem die wirtschaftspolitische Interessenvertretung für Selbständige wie für Großunternehmen, für Programmaussagen und Praxis wirksam.

Die Reformoffenheit der FDP entwickelte sich in einem komplexen historischen Umfeld. Im Hintergrund stand die Enttäuschung über die Kanzlerschaft Ludwig Erhards, an die man große Erwartungen geknüpft hatte. Dies führte zusammen mit den konkreten wirtschafts- und finanzpolitischen Problemen zum Koalitionsbruch im Herbst 1966. Für die neue Oppositionsrolle gegenüber der Großen Koalition von 1966-69 war man gleichwohl unvorbereitet und etwas orientierungslos, befand sich gar in einer „Identitätskrise“ (D. Koerfer). Gleichzeitig präsentierte die Studentenbewegung und die „außerparlamentarische Opposition“ insgesamt irritierende Fragestellungen, auf die die einzige Oppositionspartei zu reagieren versuchte, allerdings von ihrem traditionellen Liberalismusverständnis aus besonders wenig Antworten bieten konnte. Auf der wahlpolitischen Ebene kam hinzu, dass sich im Verlauf der 60er Jahre die sozialstrukturellen und sozio-kulturellen Bedingungen für den bisherigen konservativen Koalitionspartner CDU/CSU verschlechterten, während umgekehrt die Sozialdemokraten zum strukturellen Gewinner der gesellschaftlichen Modernisierungsprozesse mit ihrer Zunahme abhängiger Beschäftigung und den Aufstiegschancen einer wachsenden Angestelltenschicht wurden. Diese Verschiebungen in den Wählerstrukturen versuchte auch die FDP zu nutzen, zumal der Eintritt der SPD in die Große Koalition gerade jüngere Wähler enttäuscht hatte. Alle diese Faktoren hatten starken Einfluss auf die weitere Entwicklung zu der gemeinsamen Regierungsbildung 1969 mit der von Willy Brandt geführten SPD. Der Eintritt in diese „sozial-liberale“ Koalition brachte schließlich die doppelte Aufgabe mit sich, einerseits den Zusammenhalt der Regierung zu stabilisieren und gleichzeitig das eigene Parteiprofil zu stärken. Dabei ist festzuhalten, dass keineswegs nur innen- und gesellschaftspolitische Themen diese Entwicklungen der Wahl-, Partei- und Regierungspolitik bestimmten. Die gesamte historische Dynamik lässt sich vielmehr nur verstehen, wenn man die übergreifende Bedeutung der Deutschland- und Ostpolitik einbezieht, die für die Bildung der Regierung Brandt/Scheel konstitutiv war und die Konflikte bis zur vorgezogenen Bundestagswahl 1972 mit ihrer fulminanten Bestätigung der Koalition und in den folgenden Jahren prägte.

Diese Rahmenbedingungen ermöglichten insgesamt eine neue Offenheit, in der die FDP auch einen gesellschaftspolitischen Modernisierungsprozess zugunsten einer „sozial erfüllte Freiheit“ in Gang setzte (vgl. die ausgezeichnete Analyse bei Hans Vorländer 1986). Das brachte neue Themen nach vorn – und neue Personen. Am meisten Aufsehen erregten die prominenten Intellektuellen, wie die Professoren Ralf Dahrendorf, Werner Maihofer, Ulrich Klug und andere. Nicht übersehen werden dürfen die Personen der mittleren Altersgruppe innerhalb der Partei, die stark an Einfluss gewinnen und Spielraum schaffen konnten, so Hildegard Hamm-Brücher, Hans Friderichs, Hans-Dietrich Genscher, Martin Bangemann, Burkhard Hirsch, in Kooperation mit Hans-Wolfgang Rubin, Walter Scheel oder Wolfgang Mischnick. Hinzu kam bald die Generation der Jungdemokraten mit Gerhart Baum, Heiner Bremer, Friedrich Hölscher, Wolfgang Lüder, Ingrid Matthäus-Maier, Andreas von Schoeler und Helga Schuchardt, von denen einige durch das unerwartet gute Wahlergebnis 1972 in den Bundestag einziehen konnten (kurzzeitig auch Rudolf Augstein). Von Karl-Hermann Flach, dem Rückkehrer in die FDP-Politik, wird noch die Rede sein.

Von dem Spektrum der neuen Themen seien nur die wichtigsten erwähnt. Ein erstes Themenfeld umfasste verfassungspolitische Positionen wie die Kritik an der geplanten Notstandsgesetzgebung (1966 bis 1968), Vorschläge zur Bürgerbeteiligung und wichtige rechtspolitische Reformen. Dazu gehört insbesondere die Durchsetzung eines modernen Strafrechts, wie es von einer Professorengruppe für ein „alternatives Strafrecht“ mit Schwerpunkt auf Entideologisierung und Entmoralisierung des Strafrechts, Betonung der Prävention und des Resozialisierungsgedankens konzipiert und propagiert wurde. Mehrere Juristen aus diesem Kreis traten Ende der 60er Jahre in die FDP ein, so Jürgen Baumann, Ulrich Klug und Werner Maihofer. Einen zweiten Komplex mit breiterer gesellschaftspolitischer Bedeutung markierte die Bildungspolitik, die vor allem von Hildegard Hamm-Brücher thematisiert wurde. Sie hatte seit Mitte der 1960er Jahre das gegliederte deutsche Bildungssystem kritisiert und sich für flexiblere Bildungswege und durchlässige neue Schulformen wie die Gesamtschule eingesetzt. Bereits im Bayerischen Landtag, dann als Staatssekretärin im SPD-regierten Hessen und schließlich im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft verfocht sie hartnäckig freien und gleichen Zugang zu Bildungschancen. In einer allgemeineren Perspektive propagierte auch der Soziologe Ralf Dahrendorf mit dem Prinzip „Bildung ist Bürgerrecht“ freien Zugang zu Bildungschancen und thematisierte damit die Bildungsdimension exemplarisch für eine gesellschaftspolitische Öffnungsstrategie in Deutschland. Diesen Ansatz zu sozialem Aufstieg und der Gleichheit von Lebenschancen brachte er auch in das übergreifende Konzept einer dynamisierten „offenen Gesellschaft“ mit Wettbewerb und Konfliktfähigkeit ein, das er der erstarrten deutschen Gesellschaft mit ihren segmentierten Traditionseliten kritisch gegenüberstellte. Mit seinem FDP-Beitritt 1967 wollte er zu neuer Gestaltungsfähigkeit der Politik und zur „Erneuerung der Demokratie“ beitragen.

Für die Gesellschaftspolitik kam die entscheidende Rolle Karl-Hermann Flach zu, der als Wahlkampfplaner bis 1961, dann als Journalist der Frankfurter Rundschau und schließlich ab Oktober 1971 als Generalsekretär der FDP die Entwicklung liberaler Ideen mit politischer Strategie zu vermitteln verstand. 1972 zog er auch in den Bundestag ein und wurde neben seinem Parteiamt stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion.

Karl-Hermann Flach konzentrierte seine liberalen Reformideen vor allem auf die Gesellschaftspolitik. Nachdem er 1963 in dem Buch „Erhards schwerer Weg“ im Grunde schon ein Parteiprogramm formuliert hatte, legte er mit seiner Streitschrift „Noch eine Chance für die Liberalen“ von 1971 die Grundlagen für ein liberales Reformprogramm in einer Zeit, als das gesellschaftliche Klima zwischen revolutionärer Kapitalismuskritik und gesellschaftlicher Erstarrung polarisiert war. Damit gab er entscheidende Impulse für die Programmkommission, in der er mit Maihofer, Bangemann, Graf Lambsdorff, Lüder und anderen die Freiburger Thesen von 1971 vorbereitete.

Flach ging von vier Grundproblemen aus:

  1. „Die Konzentration des Kapitals und das weitere Wachsen wirtschaftlicher Mammutgebilde, die hierarchisch organisiert sind und von oben nach unten gesteuert werden.
  2. Die noch nicht volle Annäherung der Startchancen in einem System, das sich als Leistungsgesellschaft begreift und nur dann nicht verlogen ist, wenn wirklich jeder nach seiner Leistung und nicht aufgrund seiner Startvorteile oder Startbehinderungen bewertet wird.
  3. Die Frage ‚Klassenkampf oder Partnerschaft‘, wobei die Anhänger der Partnerschaft über ihre Schatten springen müssen, wenn sie nicht das Gegenteil erreichen wollen.
  4. Das Erkennen der Grenzen des Systems der industriellen Gesellschaft dort, wo es sich selbst aufzufressen beginnt, beispielsweise bei der zunehmenden Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung durch den technischen Fortschritt oder der drohenden Selbstaufhebung des Individualverkehrs in den Ballungszentren“ (Rede am 17. 5. 1972 in Düsseldorf).

Diese Grundprobleme reflektieren die zentralen Themen des Freiburger Programms, die Werner Maihofer, der Vorsitzende der Kommission, so zusammenfasste: Menschenwürde durch Selbstbestimmung, Fortschritt durch Vernunft, Demokratisierung der Gesellschaft und Reform des Kapitalismus. Die Thesen selbst umfassen die Eigentumsordnung und die überbetriebliche Vermögensbildung, die betriebliche Mitbestimmung und Unternehmensmitbestimmung sowie die Umweltpolitik.

Die Eigentumsordnung sollte nicht unabänderlich vorgegeben sein, sondern Kontrolle wirtschaftlicher Macht und einen Abbau sozialer Ungleichheit ermöglichen. Die Nachlassabgabe sollte die aus dem Erbrecht resultierenden gravierenden Ungleichheiten der Startchancen begrenzen. Arbeitnehmer sollten nicht Herrschaftsobjekt, sondern mitbestimmende Wirtschaftssubjekte sein. Und die Umweltpolitik sollte die Selbstaufhebung der industriellen Gesellschaft verhindern. Insgesamt ging es diesem Programm darum, gegenüber übermächtig erscheinenden Kräften der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung die politische Gestaltungskraft aufzurufen, um die grundlegenden liberalen Werte, die Freiheit der Persönlichkeit und die Würde des Menschen durch Reformfähigkeit Geltung zu verschaffen und sie in Wirklichkeit zu übersetzen.

Sicherlich hatte dieses Programm auch die Funktion, die damalige Reformkoalition zu stützen und handlungsfähig zu machen. Aber sein Inhalt war unbequem, und Flachs Grundprobleme waren keineswegs koalitionsgebunden. Ihnen würde eine Position nicht gerecht, die nur systemische Funktionsnotwendigkeiten vollstrecken möchte und den Gestaltungsauftrag der Politik vergisst. Gestaltungsfähigkeit ist auch der Sinn der Demokratie, die man ja nicht bräuchte, wenn man die gesellschaftlichen Zustände nicht im Interessen möglichst aller und unter Mitwirkung möglichst vieler nach Werten ordnen und entwickeln möchte. Die liberale Reformpolitik Flachs und des damaligen Aufbruchs der FDP war historisch auch ein Angebot an die Beteiligungsbereitschaft einer großen Zahl von Bürgerinnen und Bürgern, gerade auch in der jungen Generation, die einen Ausweg aus der Sprachlosigkeit der eskalierenden Gewalt und aus der Alternativlosigkeit technokratischer Wachstumsmechanik suchten. Wenn man sich die heutigen Wucherungen autokratischer Machtstrukturen vor Augen führt, dann gewinnt das damalige Angebot einer demokratisch aktivierten liberalen Reformpolitik eine sehr aktuelle Bedeutung.

Sicher: Vieles ist in diesen fast vier Jahrzehnten geschehen: Gesellschaftliche Strukturveränderungen, Verschiebungen im Parteiensystem, die deutsche Vereinigung, die Vertiefung Europas und damit die Entstehung eines neuen Modells der Doppelstaatlichkeit, große Globalisierungsprozesse, die Gefährdung des Weltklimas. Die Grundprobleme Karl-Hermann Flachs sind damit keineswegs überholt, sondern nur noch dringlicher geworden.

Kernpunkte des sozialen Libera­lismus

Auch wenn Programme wie das für die Bundestagswahl 1969 erste Öffnungssignale in der Deutschlandpolitik und im Bereich von Rechtstaatlichkeit und Bürgerbeteiligung setzten, markierten die Freiburger Thesen von 1971 zweifellos den Höhepunkt sozialliberaler Reformprogrammatik. Für den gesellschaftspolitisch ebenfalls zentralen Bereich der Bildungspolitik dürfen die Stuttgarter Leitlinien einer liberalen Bildungspolitik von 1972 nicht übersehen werden. Es folgen u. a. Programme zur Medienpolitik (1973) und zum Verhältnis von Kirchen und Staat (1974). Den Abgesang auf den Reformzyklus bilden die von einer Wirtschaftskommission und einer Perspektivkommission vorbereiteten Kieler Thesen von 1977, bei denen wieder die Wirtschaftsnähe dominierte und gesellschaftspolitische Ziele weitgehend zurücktraten. Davor und danach nahmen Programmpapiere zu einzelnen Politikbereichen zwar zahlenmäßig zu, sozialliberale Reformen spielten jedoch keine prägnante Rolle mehr (zur Gesamtentwicklung Vorländer 1986).

Die Freiburger Thesen von 1971 entwarfen eine explizit sozialliberal benannte liberale Gesellschaftspolitik mit den Zielen Vernünftigkeit und Offenheit der Gesellschaft, Demokratisierung der Gesellschaft und Reform des Kapitalismus, verortet in einer historischen Perspektive, die von der früheren Demokratisierung des Staates ausging und bis zur Demokratisierung der Gesellschaft als Aufgabe reichte. Aktuell bezog sie sich auf gesellschaftliche Konfliktstrukturen der Gegenwart, insbesondere auf die Kernstrukturen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in ihrer aktuellen Dynamik und in ihrer kontroversen Wahrnehmung durch die studentischen Protestbewegungen. Das sozialliberale Programm zielte gleichzeitig auf die Reform des Kapitalismus und darauf, die Reformfähigkeit des Kapitalismus zu demonstrieren. Es wurden Strukturen der sozialen Ungleichheit angegriffen und Konzepte dafür vorgelegt, wie eine gerechtere Verteilung und Chancengleichheit erreicht und die Reproduktion der Ungleichheit eingedämmt werden könnten. Diese Reformkonzeption ging grundsätzlich vom Privateigentum aus und stellte die Prinzipien der Marktwirtschaft und des Wettbewerbs nicht in Frage. Sie richtete sich vielmehr dagegen, dass die Akkumulationsprozesse des Kapitalismus der Chancengleichheit entgegenstanden und die Grundsätze der Marktfreiheit und der Leistungsgerechtigkeit der Selbstdestruktion aussetzen. Die Konkretisierung galt in den drei ersten Teilen der Eigentumsordnung, der Vermögensbildung und der wirtschaftlichen Mitbestimmung. Der vierte Teil behandelte – oft übersehen – die Umweltpolitik. Der erste Teil „Eigentumsordnung“ ging von einigen allgemeinen Prinzipien aus und konkretisierte dann Vorschläge zur Reform des „Bodeneigentums“, insbesondere die Einführung einer Steuer auf den Wertzuwachs von Bodeneigentum. Der zweite Teil „Vermögensbildung“ entwickelte ein Konzept überbetrieblicher Vermögensbeteiligung sowie das Modell einer Nachlassabgabe, deren Ertrag ebenfalls der überbetrieblichen Vermögensbildung zugeführt werden sollte.

Im Rückblick mag es eher überraschend erscheinen, dass die Frage des Wertzuwachses beim Bodeneigentum so prominent behandelt wurde. Darin kommen die Folgeprobleme der enormen Urbanisierungs- und Agglomerationsprozesse zum Ausdruck, die sich bis Ende der 1960er Jahre aufgebaut hatten. Steigende Bauland- und Mietpreisen gingen mit massiven Vermögenszuwächsen bei bebauten und unbebauten Grundstücken einher, während Grund- und Vermögensbesteuerung stagnierten und Raumordnungs- und Städtebauprobleme riesigen Ausmaßes zu bewältigen waren. Dieser Problemkomplex reflektierte also die sozialen Folgen gravierender Deformationen der Bodenmärkte, in denen durch Bodenspekulation „ungerechtfertigte“ Substanzgewinne erzielt werden konnten.

Der zweite Konkretisierungsbereich der überbetrieblichen Vermögensbildung rückte deutlich näher an Kernstrukturen kapitalistischer Verfügungsmacht heran, nämlich an das Eigentum am Produktivvermögen. Die Konzentration des Zuwachses an Produktivvermögen in den Händen weniger Kapitalbesitzer wurde als gesellschaftspolitisch gefährlich, sozial ungerecht und mit dem liberalen Prinzip gleicher Lebenschancen nicht vereinbar charakterisiert. Demgegenüber sollte liberale Vermögenspolitik auf eine gleichmäßigere Vermögensverteilung zielen, nicht durch einmalige Korrekturen, sondern durch „die ständige Beteiligung breiter Schichten insbesondere am Zuwachs des Produktivvermögens“ (zweiter Teil, Vorbemerkung). Dafür werden private und öffentliche Unternehmen von einer bestimmten Wertschöpfung an verpflichtet, Beteiligungsrechte an ihrem Vermögenszuwachs einzuräumen (These 1). Entsprechende Kapitalanteile oder andere Vermögensformen sollten als Zertifikate durch eine Clearingstelle gesammelt, in begrenzte Anlagegesellschaften aufgeteilt und allen Staatsbürgern als Berechtigten zur Verfügung stehen. Unternehmenskapital sollte somit funktionell erhalten, aber gesellschaftlich breit gestreut werden. Festzuhalten ist, dass bei diesem System keineswegs nur die Arbeitnehmer eines bestimmten Unternehmens in den Genuss von Umverteilungszertifikaten gekommen wären, sondern alle Bürgerinnen und Bürger.

Als zweites Kernelement für breitere Vermögensstreuung war eine neue Nachlassabgabe geplant, die die Erbschaftssteuer ersetzen sollte (zweiter Teil, zweiter Abschnitt). Der von Karl-Hermann Flach oft betonte Grundgedanke war, dass durch Vererbung insbesondere die großen Vermögen auf leistungslose Weise weitergegeben, damit Vermögensungleichheit festgeschrieben und Chancengleichheit strukturell blockiert werde. Die Erbschaftssteuer bedeutet in diesem Vorgang nur eine geringe Belastung, trägt nichts zur Vermögensverteilung bei und kann zudem die Vermögenssubstanz von Unternehmen gefährden. Die Nachlassabgabe wird demgegenüber nicht an den Staat abgeführt, sondern bei nachgelassenem Unternehmensvermögen in Zertifikatanteilen in das neue System der überbetrieblichen Vermögensbildung transferiert. Festgelegt wurden hohe Freigrenzen, um nur größere akkumulierte Vermögen der Umverteilung von Todes wegen zu unterwerfen. Dieses Modell der Nachlassabgabe hätte vermutlich deutliche höhere Vermögenswerte in die überbetriebliche Vermögensbildung eingebracht als das aus Gewinnen zu speisende Umverteilungsmodell. Diese verteilungsbezogenen Reformen zielten nicht auf kurzfristige Korrekturen in der Einkommensverteilung, sondern auf längerfristige Verschiebungen in den Vermögensgrundlagen marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftens. Dieses Modell hätte durchaus weitere Unternehmenskonzentration zugelassen, jedoch gleichzeitig Vermögensdezentralisierung erlaubt. Freilich hätte damit auch die Macht des Managements zunehmen können, die sich ja von konzentriertem Privatvermögen wie vom Streubesitz an Kapitalgesellschaften durchaus abkoppeln kann. Immerhin hätten breite Bevölkerungskreise ein eigentümerisches Verhältnis zum Produktionsvermögen entwickeln können.

Die dritte Konkretisierung der Freiburger Thesen bildete die Mitbestimmung in der doppelten Form der betrieblichen und der Unternehmensmitbestimmung. Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer wurden konsequent aus der individuellen Selbstbestimmung hergeleitet und auf Humanisierung der Arbeitswelt und ein Höchstmaß an Selbstverwirklichung im Arbeitsprozess ausgerichtet. Zwischen den einzelnen Arbeitnehmern und dem gewählten Betriebsrat treten Gruppensprecher für die Arbeitsbereiche als vermittelnde Organe. Auch für die Unternehmensebene wird gemäß den Grundsätzen der Menschenwürde und der Demokratisierung der Gesellschaft postuliert: „Selbstbestimmung der Arbeitnehmer verlangt Mitbestimmung bei der Fremdbestimmung durch die Arbeitgeber“ (zweiter Abschnitt, Vorbemerkung). Die Konkretisierung erfolgt in einem funktional gedachten Modell von drei Faktoren Kapital, Disposition und Arbeit, die jeweils im Aufsichtsrat von Kapitalgesellschaften repräsentiert sein sollten. Die leitenden Angestellten sollten als quasi neutraler Faktor ‚Disposition‘ zwischen die traditionellen Interessen von Kapital und Arbeit treten. Nach heftigem Streit über die Relation von Aufsichtsratssitzen kam ein unterparitätisches Modell von 6:4:2 zustande, das dem Faktor Arbeit 4 und der Disposition 2 Anteile zuwies.

Misslungene Umsetzung

Als nach der Bundestagswahl 1972 der Vorsitzende der Freiburger Programmkommission Werner Maihofer als Minister für besondere Aufgaben in die Bundesregierung berufen wurde, erhielt er die Federführung für die Koordinierung dieser Reformprojekte. Erste Konzepte insbesondere zur überbetrieblichen Vermögensbildung wurden jedoch durch starken Widerstand der Großunternehmen und aus der FDP selbst blockiert. Damit fehlte auch der Nachlassabgabe, die an die Stelle der Erbschaftssteuer treten sollte, der institutionelle Rahmen der Umsetzung. Für die zentralen Forderungen nach einer Bodenwertzuwachs-Steuer und einer Nachlassabgabe spielten die Zuständigkeiten des Finanzministeriums und des Wirtschaftsministeriums freilich eine entscheidende Rolle. Über Kabinettsberatungen zur überbetrieblichen Vermögensbildung im Januar 2004 kam dieser Reformansatz nicht hinaus. Die Regierungsumbildung 1974 mit dem Kanzlerwechsel von Willy Brandt zu Helmut Schmidt beendete weitere Umsetzungsversuche dadurch, dass Maihofer zum Innenminister ernannt wurde und andere Aufgaben zu schultern hatte. Die Ölkrise von 1973/74 verschlechterte zudem die wirtschaftlichen Bedingungen für Reformvorhaben dieser Art drastisch, zumal der Koalitionspartner SPD und die Gewerkschaften an diesen Ansätzen wenig interessiert waren.
Das andere wirtschaftliche Reformthema war die Unternehmensmitbestimmung, für die seit 1972 der von der FDP gestellte Wirtschaftsminister Hans Friderichs zuständig war. Hier wurde über mehrere Jahre ein Machtkampf mit den Gewerkschaften und der SPD ausgetragen, in dem die FDP nicht als Reformpartei hervortrat, sondern die Bremserrolle gegenüber der Ausweitung der paritätischen Mitbestimmung einnahm und sich im Mitbestimmungskompromiss von 1976 u. a. mit der Begrenzung der externen Gewerkschaftsvertreter durchsetzte. Die spezifischen Reformansätze der Freiburger Thesen verkürzten sich darauf, einen leitenden Angestellten im Aufsichtsrat der Unternehmen zu verankern.
Einen etwas anderen Verlauf nahm die Umsetzung der Freiburger Programmforderungen zur Umweltpolitik. Hier lag die Zuständigkeit beim Innenministerium, das von 1969 bis 1974 von Hans-Dietrich Genscher geleitet wurde. Er und sein Staatssekretär Hartkopf sorgten bereits dafür, dass der Umweltschutz mit zentralen Forderungen in das Freiburger Programm aufgenommen wurde. Wesentliche Ziele dieses neuen Politikfeldes waren damit zwischen Partei und Ministerium gut verknüpft. Mit der neuen Abteilung des Ministeriums konnte bereits im September 1971 das neue Aktionsprogramm der Bundesregierung zum Umweltschutz verabschiedet werden, das das Vorsorge- und das Verursacherprinzip festlegte (1976 durch das Kooperationsprinzip ergänzt). Außerdem wurden die Zuständigkeiten des Bundes erweitert und rasch durch eine Reihe grundlegender Gesetze zum Benzin-Blei-Problem, zum Immissionsschutz, zur Abfallbeseitigung, zur Abwasserabgabe und weiteren Materien ausgefüllt. Auch wurde das Umweltbundesamt in Berlin errichtet. Trotz Verlangsamung durch die Öl- und Wirtschaftskrise 1974 konnte dieser Durchbruch in der Umweltpolitik nicht mehr zurückgedreht werden. Für die nun zunehmenden Konflikte um die Atomenergie hatte das Freiburger Programm der FDP allerdings noch keine Festlegungen getroffen. Mit ihrem definitiven Festhalten an der Kernenergiepolitik blockierte die FDP die Kooperation mit der neuen Umweltschutzbewegung und bereitete damit letztlich der Parteibildung der Grünen den Weg. Das sozialliberale Programm der Freiburger Thesen blieb im Ergebnis unrealisiert. Es erscheint paradox, dass es während der ersten SPD-FDP-Regierungszeit 1969/72 auf einem FDP-Parteitag beschlossen werden konnte, obwohl die innerparteiliche Basis prekär war, während nach dem Wahlerfolg 1972 mit einer deutlich günstiger zusammen-gesetzten Bundestagsfraktion die Ziele nicht mehr ernsthaft verfolgt wurden. Dass Karl-Hermann Flach im August 1973 mit nur 43 Jahren verstarb, wird dazu nur einen Teil beigetragen haben. Wesentlich stärker wirkten sich offenbar die veränderten Rahmenbedingungen aus.
Den Wendepunkt sozialliberaler Reformpolitik brachte die Ölkrise 1973/74 und der zeitlich damit zusammenfallende Kanzlerwechsel 1974 von Brandt zu Schmidt. Beschäftigung und Wirtschaftswachstum erhielten nun eindeutige Priorität vor Umverteilungsfragen, nicht nur in der FDP, sondern in der ganzen Regierung. Überhaupt erhielt kurzfristiges Krisenmanagement den Vorrang, freilich verbunden mit notwendigen weltwirtschaftlichen Stabilisierungsbemühungen. Den drei großen Ansätzen zum strukturellen Umbau der Vermögensgrundlagen der kapitalistischen Marktwirtschaft im Freiburger Programm war damit der Boden entzogen. Da sie auf einen langfristigen Reformprozess angelegt waren, konnten sie als Programm auch nur in geringem Maße Wählerinteressen mobilisieren. Für die FDP als Partei brachte allerdings der Inhalt und der Symbolgehalt des Freiburger Sozialliberalismus zusammen mit der Deutschland- und Ostpolitik eine beträchtliche Zunahme, Verjüngung und soziale Umstrukturierung der Mitgliedschaft, die in den 1970er Jahren noch anhielt und erst nach dem Koalitionswechsel 1982 abbrach. Wahlpolitisch erwies sich die versuchte Modernisierung in Richtung des „neuen Mittelstands“ der wachsenden Angestelltenschicht allerdings als nur begrenzt erfolgreich. Im Vergleich zu den früheren selbständigen Stammwählern ließ sich in diesen neuen Wählerschichten nur eine relativ volatile Motivation von „Wechselwählern“ erreichen, die auch thematisch eher kurzfristig aktiviert werden musste. Zu stabileren Einstellungspotentialen dürfte die in den Ländern durchaus praxisrelevante liberale Politik für ein offenes Bildungssystem gerade in den Kreisen der Bildungsaufsteiger eher beigetragen haben als die vermögenspolitischen Konzepte. Der Mitbestimmungsansatz, der die „funktionalen“ leitenden Angestellten heraushob, implizierte hingegen eine elitäre Verengung, die zwischen Unternehmernähe und dem Anspruch auf Machtkontrolle eher widersprüchlich blieb.
Der Freiburger Sozialliberalismus konnte zwar das Ziel einer Reform des Kapitalismus symbolisieren, aber mangels Umsetzung gelang es in keiner Weise, die Reformfähigkeit des Kapitalismus zu demonstrieren. Ein vergleichbarer Ansatz ist in Deutschland seitdem auch nicht mehr unternommen worden. Die ohnehin disparaten Potentiale für eine solche Perspektive drifteten bereits seit den frühen 1970er Jahren noch stärker auseinander. Die antikapitalistischen Strömungen der Studentenbewegung hatten sich oft in allerlei links-dogmatischen Parteigruppen verfangen. Individualistische Tendenzen folgten teils technisch-ökonomischen Orientierungen, teils bildeten sich neue Lebensstile und auch neue soziale Bewegungen aus. Der Wertewandel zum Postmaterialismus inspirierte zwar Abstand zum kapitalistischen Wachstumssystem, brachte jedoch keine starken Motive für Systemreformen hervor. Aus ihm speiste sich vielmehr die Entwicklung der Umweltschutzbewegung, die ihr Engagement gegen die industriellen Produktionsfolgen richtete und nur geringen Bezug zu strukturellen (Um)Verteilungsmechanismen zeigte. Nicht zuletzt im Streit um die Atomenergie bündelten sich die Umweltfragen zu einer neuen Konfliktlinie, an der sich große Protestbewegungen und schließlich die GRÜNEN als Partei ausbilden konnten.
Sozialer Liberalismus wurde seinerzeit als „sozial erfüllte Freiheit“ definiert. Es ging um mehr als die klassischen Freiheitsrechte gegenüber dem Staat, mindestens um Chancengleichheit der sozialen Startbedingungen durch Bildung und berufliche Fähigkeiten. Zentral bleibt die Frage, wie die Freiheit von Individuen und Gruppen gegenüber gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Machtballungen verteidigt werden soll. Wer solche Machtballungen ignoriert oder sie durch den „Markt“ für erledigt halten will, bleibt ein ideologischer Träumer, gerade unter Bedingungen der Globalisierung. Machtballungen jeder Art müssen zerlegt, an soziale Regeln gebunden und demokratischer Machtkontrolle unterworfen werden. Das gilt für Wirtschaftskonzerne und Banken ebenso wie für Medien- und Informationsmonopole und Überwachungszentren im Internet-Zeitalter. In diesem umfassenden Sinne ist sozialer Liberalismus heute noch dringlicher als vor vier Jahrzehnten, als er in Deutschland eine kurze ideelle Blüte erlebte.

Literatur

Karl-Hermann Flach/Werner Maihofer/Walter Scheel: Die Freiburger Thesen der Liberalen, Reinbek b. Hamburg: Rororo aktuell 1972.

Günter Verheugen (Hrsg.): Das Programm der Liberalen. Zehn Jahre Programmarbeit der F.D.P., Baden-Baden: Nomos, 2. Aufl. 1980.

Ralf Dahrendorf: Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, München: Piper 1968.

Karl-Hermann Flach: Noch eine Chance für die Liberalen oder Die Zukunft der Freiheit. Eine Streitschrift, Frankfurt/M.: S. Fischer 1971.

Theo Schiller: Wird die FDP eine Partei? In: W.-D. Narr (Hrsg.): Auf dem Weg zum Einparteienstaat, Opladen: Westdeutscher Verlag 1977, S. 122-148.

Hans Vorländer: Der Soziale Liberalismus der F.D.P. Verlauf, Profil und Scheitern eines sozio-politischen Modernisierungsprozesses, in: K. Holl/G. Trautmann/H. Vorländer (Hg.): Sozialer Liberalismus, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1986, S. 190-226.

Hans Vorländer (Hrsg.): Verfall oder Renaissance des Liberalismus? Beiträge zum deutschen und internationalen Liberalismus, München: Olzog 1987 (mit mehreren Beiträgen des Herausgebers).

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