Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Bewahrung und Beschrän­kung

Paradoxien liberaler Religionspolitik;

aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 36-42

Der liberale Verfassungsstaat ist eine historisch singuläre und evolutionär unwahrscheinliche Selbstbegrenzung der Politik, mit der das Ringen um Macht und deren Ausübung Regeln unterworfen wird. Seine Ausbildung ist eng verknüpft mit den religionspolitischen Konflikten des frühneuzeitlichen Europa, zu deren Lösung der Liberalismus gewissermaßen eine Neuerfindung der Unterscheidung zwischen Religion und Politik geleistet hat.

Für lange Zeit, in allen frühen Hochkulturen, war diese Differenz unbekannt, und es gab kein dezidiert politisches Verständnis des Problems der Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen.[1] Da gleichsam eine Korrespondenz zwischen irdischem Geschehen und transzendenter Seinsordnung postuliert wurde, wie unterschiedlich die dahinter stehenden Göttervorstellungen auch waren, war kein Raum dafür, Politik als eigengesetzlichen, menschlichen Handlungsbereich zu verstehen. Wie Christian Meier gezeigt hat, wurde dieser Schritt im antiken Griechenland vollzogen, als in den Poleis das Politische erstmals als ausschließlich den Entscheidungen freier Bürger unterworfene Angelegenheit verstanden wird, also unter Verzicht auf jegliche, fortan als unpolitisch verstandene, transzendente Bezugnahme. Erst damit ist es möglich, das Problem der Herrschaft konsequent von der Freiheit her zu denken, und zwar als umfassende Freiheit, deren einzige Begrenzungen durch die politische Entscheidung der Bürgerschaft, mithin durch Selbstgesetzgebung, durch Autonomie gezogen werden.

Der mit dieser Entstehung des Politischen bei den Griechen[2] verbundene, erste Säkularisierungsschub, Politik als eigengesetzlichen, menschlichen Handlungsbereich unter Bedingungen der Freiheit zu verstehen, geriet indes mit dem spätantiken Siegeszug des Christentums für rund anderthalbtausend Jahre wieder in Vergessenheit. Die mittelalterliche Annihilierung des altgriechischen Politik- und Freiheitsverständnisses verdankt sich freilich nicht nur der Idee des Gottesgnadentums weltlicher Herrschaft und der Orientierung an Paulus‘ Feststellung im Römerbrief (13,1), wo Obrigkeit sei, sei sie von Gott eingesetzt, und tyrannische Obrigkeit sei ein Anzeichen für die Sündhaftigkeit der Untertanen. Unter den Bedingungen der mittelalterlichen politischen Theologie gab es im buchstäblichen Sinne überhaupt kein Politikverständnis, was sich daran zeigt, dass sich bis zum Einsetzen der scholastischen Aristotelesrezeption in den mittelalterlichen Quellen nicht einmal der Begriff Politik finden lässt.

Die für den Liberalismus ausschlaggebende, neuzeitliche Ausdifferenzierung von Politik und Religion verdankt sich indes keiner ideengeschichtlichen Einsicht, sondern den erbitterten Bürgerkriegen, zu denen die von der Reformation im 16. Jahrhundert induzierte Kirchenspaltung Anlass gegeben hatte. Diese Bürgerkriege waren zwar mitnichten stets originär religiös motiviert, hatten die konfessionelle Differenzierung jedoch gleichsam zum Brandbeschleuniger. Für die Hugenottenkriege gilt dies ebenso wie für den Achtzigjährigen Krieg zwischen Spanien und den Niederlanden und für den Dreißigjährigen Krieg, der als bis dahin schlimmster aller Kriege in das kollektive Gedächtnis Europas eingegangen ist. Seine Beendigung durch den Westfälischen Frieden von 1648 ist gleichbedeutend mit der Herausbildung des institutionellen Territorialstaates der Neuzeit, der sich durch die Erringung von vier Schlüsselmonopolen auszeichnet: Er ist souverän im Sinne seines Gewaltmonopols, seines Rechtsetzungsmonopols, seines Steuermonopols und seiner Neutralität gegenüber religiösen Wahrheits- und Geltungsansprüchen. Hiermit wird die Religion aus ihrer politisch zentralen Rolle entlassen und mit dem Rang einer privaten Weltanschauung versehen, deren sozialverträgliche Ausübung vom Staat zu gewährleisten ist.[3]

In diesem Sinne ist Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation[4] zu begreifen, und hieran zeigt sich, dass das Souveränitätskonzept in seiner Genese implizit antiklerikal ist und insoweit jene auf den ersten Blick verwunderliche Allianz zwischen Absolutismus und Liberalismus ausmacht, die sich in dem „präliberalen“ Zug des zwischen privater fides und öffentlicher confessio unterscheidenden, religionspolitischen Ansatzes bei Hobbes findet und schon die Souveränitätslehre Jean Bodins kennzeichnet.[5] Diese Allianz besteht darin, Religion zur Privatsache zu deklarieren, um sie in ihrer politischen Brisanz zu relativieren. Seine absolutistische Grenzenlosigkeit soll es dem Staat ermöglichen, rivalisierende Sekten zu hegen. Diese Konzeption bleibt freilich paradox, insofern bereits Bodin realisiert, dass begrenzte Souveränität stärker ist als unbegrenzte. So überwindet er „seinen eigenen Vorbehalt gegen Selbstbindung, indem er unveräußerbare konstitutionelle Verpflichtungen und institutionelle Beschränkungen als Garanten königlicher Freiheit versteht; sie sind Strategien, mit denen der Souverän seine Autorität am effektivsten durchsetzen kann.“[6]

Mit dieser Lösung ist das Einfallstor für den liberalen Konstitutionalismus geschaffen, der durch Reformulierung der vertragstheoretischen Argumentation deren absolutistische Frühform hinter sich lässt. Überwunden wird Bodins Souveränitätsparadox nämlich nun durch die Idee der Rechtsstaatlichkeit, mit der eine neue Differenzierungsidee verbunden ist. Und zwar wird nun zwischen der Rechtspflicht und der Kontrolle ihrer Erfüllung unterschieden. Damit wird das Souveränitätsdenken zur neuen, demokratischen Idee der Volkssouveränität erweitert. Denn die Herrschenden – wie man unter demokratischen Bedingungen nun im Plural formulieren muss – sind eine so große, ständig einander ablösende Vielzahl, dass sie sich intern differenzieren lassen und eine Verteilung der Staatsgewalt auf verschiedene Gewalten ermöglichen, wie Locke und vor allem Montesquieu argumentieren, der – immer mit Blick auf sein großes Vorbild: die konstitutionelle Monarchie in England – den entscheidenden rechtsstaatlichen Schritt über Locke hinaus geht. Wäre allein schon die Differenzierung der Staatsgewalt in Legislative und Exekutive für die frühmodernen Souveränitätstheoretiker Bodin und Hobbes undenkbar gewesen, so fügt Montesquieu nun gar noch eine unabhängige Judikative hinzu, deren Gewalt sich auf politische Entscheidungen erstreckt, die fortan appellabel sind, das heißt gerichtlich überprüft werden können. Politik und Recht sind damit als gleichrangige Funktionssysteme der modernen Gesellschaft unterschieden, wodurch das Prinzip princeps legibus solutus est beendet ist. Gesetzgebung ist und bleibt hernach, wie in der klassischen Souveränitätskonzeption, ein Akt höchster politischer Gewalt, doch ist nun auch umgekehrt die Politik an das Recht gebunden.

Rekapituliert man demnach die religionspolitische Entwicklung der europäischen Neuzeit, so erweist sich der neuerdings erhobene Vorwurf, das Säkularisierungstheorem sei ein Mythos,[7] seinerseits als Mythos. Als real-wie ideenhistorischer Kern der Säkularisierung zeigt sich vielmehr die demokratische Brisanz religiöser Wahrheits- und Geltungsansprüche, die, konsequent verfolgt, nicht nur einen demokratischen Vorbehalt, sondern auch einander ausschließen. Insoweit war es fürchterlich, aber folgerichtig, dass das konfessionelle Aufbrechen der alteuropäischen Glaubenseinheit erbitterte Religionskriege nach sich zog, in deren Folge der institutionelle Territorialstaat in Erscheinung trat und religiöse Konflikte auf sich gelenkt hat. Denn die nunmehr staatlich organisierte Politik beansprucht, religiöse Geltungsansprüche unter den Vorbehalt ihrer öffentlichen Unbedenklichkeit zu stellen. Auch hierfür steht Thomas Hobbes‘ Formel, der Staat müsse Frieden und öffentliche Sicherheit dadurch garantieren, dass er jedem Bürger das im damaligen England den kleinsten gemeinsamen Nenner aller christlichen Denominationen darstellende, öffentliche Bekenntnis that Jesus is the Christ abverlangt, während der private Glaube der Gedankenfreiheit überlassen bleibe. Diese „negative politische Theologie“[8] ist dann in den liberalen Gesellschaftsvertragslehren von John Locke bis hin zu John Rawls immer weiterentwickelt worden, indem auch das öffentliche Bekenntnis dem privaten und also für freiheitliche Politik unverfügbaren Bereich überantwortet wurde. Auf Hobbes‘ Unterscheidung Bezug nehmend, kann man mithin sagen, dass dem sich seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert sukzessive ausdifferenzierenden, liberal-demokratischen Verfassungsstaat jene Religionen willkommen sind, die sich auf privaten Glauben konzentrieren. Im Wortsinne suspekt sind ihm hingegen jene, die ein öffentliches Bekenntnis fordern, das mit seiner, aus Gründen des sozialen Friedens in der Öffentlichkeit auch von seinen Bürger(inne)n erwarteten, weltanschaulichen Neutralität kollidiert.

Der liberale Staat der westlichen Moderne okkupiert damit gleichsam religiöse Konflikte und verwandelt sie in die Rechtsfrage legitimer Freiheitsausübung und ihrer Grenze an der Freiheit Andersdenkender. Vorher hatten diese Konflikte die Politik bloß mittelbar betroffen – dies aber in Gestalt religiös angeheizter Bürgerkriege umso heftiger. Nunmehr wird der liberale Staat als langfristiges Produkt dieser Zustände gerade dadurch selber zur Konfliktpartei, dass er weltanschauliche Neutralität reklamiert und durchzusetzen hat. Der liberaldemokratische Verfassungsstaat ist also nicht nur im Sinne des berühmten Böckenförde-Theorems eine Säkularisierungsfolge, sondern auch ein Erbe der religiösen Bürgerkriege Alteuropas, der stets in Gefahr schwebt, von Gruppen mit umfassenden religiösen Geltungsansprüchen zum direkten Gegner erkoren und mit der gleichen Inbrunst bekämpft zu werden, die vordem Andersgläubigen gegolten hatte.

Daran wird deutlich, welch dauerhafte Provokation für religiöse Überzeugungen darin liegt, überhaupt zwischen Politik und Religion zu unterscheiden. Denn hiermit werden beide von einer neutralen Position aus als unterschiedliche Formen sozialen Handelns beobachtet. Und so wird dem Religiösen sein traditioneller Vorrang abgesprochen, der sozialen Sinn, metaphysische Mission, wissenschaftliche Wahrheit und politische Praxis gleichermaßen umfasste. Das ist eine Zumutung zumal für monotheistische Offenbarungsreligionen, denn „eine Wahrheit des Heils lässt es nicht zu, dass man sich nur bedingungsweise auf sie einließe. Sie ist unbedingt, und sie ist total, indem sie das Ganze des menschlichen Lebens betrifft und umgreift.“[9]

Unter den Bedingungen der liberalen Moderne sind Politik und Religion also geradezu schicksalhaft ineinander verstrickt und einander Nemesis. Denn es ist zwar schlechthin kennzeichnend für funktionale Gesellschaftsdifferenzierung, dass sich jedes funktionale Teilsystem für die Gesamtgesellschaft hält, und in diesem Größenwahn sind Religion und Politik besonders eng verbunden. Die Funktion von Politik ist das „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“ mittels ihres Mediums Macht.[10]

Und Religion garantiert mittels ihres Mediums Glauben die „Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare“.[11]

Werden diese Funktionen entgegen der Logik funktionaler Differenzierung gleichsam kurzgeschlossen, haben wir es mit jenen religionspolitischen Pathologien zu tun, deren antimodernistische Gefährlichkeit seit ziemlich genau einem Jahrhundert zu beobachten ist: Auf der einen Seite der Extreme beanspruchen totalitäre Politische Religionen eine quasi-religiöse Sinngebung kollektiv bindenden Entscheidens; der demokratische Volkswillen aber muss keinen „Sinn“ haben – er ist kein Mittel, sondern selber Zweck, darin liegt seine Freiheit. Das andere Extrem bildet jedweder Fundamentalismus mit seinem Anspruch, dass das kollektiv bindende Entscheiden der Politik religiösem Sinn gehorchen solle.

Demnach wäre es vollkommen verfehlt, diesen Säkularisierungsprozess für eine reine Verlustanzeige religiöser Bedeutung zu halten; in diesem Missverständnis treffen sich – les extrèmes ses touchent! – radikale Religionsfeinde und Kritiker der Säkularisierungstheorie, die jene missverstehen oder ihren Vertretern Religionsfeindschaft bewusst unterstellen. Schließlich droht der moderne Staat nicht nur mit der Nutzung seines Gewaltmonopols, sondern gleichzeitig mit der Autonomie der Politik gegenüber religiösen Geltungsansprüchen steigt auch die Autonomie der Religion gegenüber politischen Interventionen.[12] Zugespitzt kann man dies so formulieren, dass religiöse Überzeugungen als individuelle Privatansichten zu behandeln und zu begrenzen sind, gerade deshalb aber auch völlig frei von jeglicher politischer Einflussnahme zu bleiben haben. Im liberalen Staat profitieren Religionen davon, dass die Machtfrage im politischen System behandelt und rechtlich begrenzt wird. Auf diese Weise genießen sie rechtsstaatlichen Schutz vor politischer Verfolgung und den Prätentionen totalitärer politischer Religionen und bleiben frei von Versuch(ung)en, das eigene Medium des Glaubens mit dem politischen Medium Macht kurzzuschließen oder zu verwechseln.

Mit der Bewahrung religiöser Freiheitsrechte korrespondiert also eine (Selbst-)Beschränkung politischer Eingriffsmacht: Der Rechtsstaat betont den individual pursuit of happiness im Sinne der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und die funktionale Künstlichkeit des Staates als eines durch Vertragsschluss entstandenen und in keiner Weise ideologisch oder moralisch zu überhöhenden Gebildes, um mit dieser liberalen Konzentration auf „formale Garantien und Verfahren“ sich der repressiven Züge prätendierter substantieller „Emanzipations-“ , „Gerechtigkeits-“ oder „Demokratisierungsprojekte“ zu erwehren.[13]

Dem frühneuzeitlichen absolutistischen Souverän entsprechend, benötigt also nun auch der demokratische Volkssouverän das Paradox einer Begrenzung seines Gestaltungsvermögens um dessen Praktizierbarkeit willen. Diese Begrenzung leistet die Verfassung: Wie Odysseus den Sirenengesang nur ohne die Reue tödlichen Schiffbruchs genießen konnte, weil er sich selbst an den Mast binden ließ, bedarf auch das Experiment demokratischer Freiheit einer Sicherungsmaßnahme, die darin besteht, dass die Demokratie selber sowie zentrale moralische Normen durch das Institut verfassungsrechtlicher Unverfügbarkeit der demokratischen Disposition entzogen werden.[14] Der liberale Verfassungsstaat wendet sich gegen transzendente Begründungen sozialer Ordnung und politischer Herrschaft und versteht diese als keineswegs unverfügbarer göttlicher Bestimmung unterliegend, sondern vielmehr aus dem Willen der Herrschaftsunterworfenen resultierend und dementsprechend disponibel. Dies spiegelt sich in der politischen Verabschiedung aller Gesetze bis hin zur Verfassung durch demokratisch gewählte Repräsentanten des Volkes als dem Souverän. Dieses Verständnis und seine prinzipiellen institutionellen Ausprägungen werden jedoch als unverfügbar verabsolutiert, just um jedwede Reprise religiöser Unverfügbarkeitspostulate hinsichtlich politisch-sozialer Belange auszuschließen. Aus dem politischen Willensakt der Verfassungsgebung, in dem die Gestaltbarkeit aller immanenten Ordnung faktisch wie symbolisch aufscheint, resultiert demnach paradoxerweise eine Unverfügbarkeit zweiter Ordnung.

Man kann folglich sagen, dieses konstitutionalistische Unverfügbarkeitsparadox habe „eine freiheitliche, aber nicht unbedingt eine demokratische Tradition“,[15] weil es der demokratischen Willensbildung grundlegende Normen entzieht.[16] Infolge dieser Funktion jeder Verfassung, dem demokratischen Prozess bestimmte Entscheidungen zu entziehen und der politischen Gemeinschaft solchermaßen die Hände zu binden, kann man den Begriff konstitutionelle Demokratie gar als Oxymoron kennzeichnen.[17] Der logische und normative Vorzug des im konstitutionalistischen Unverfügbarkeitsparadox liegenden Autopaternalismus besteht jedoch darin, dass niemand freiwillig zustimmen kann, sein Recht auf freiwillige Zustimmung aufzugeben, so dass Freiwilligkeit um der Freiwilligkeit willen verfassungsrechtlich begrenzt werden muß.[18]

Wenn mit der Bewahrung religiöser Freiheitsrechte im vorstehend erläuterten Sinne eine politische (Selbst-) Beschränkung korrespondiert, ist es nahe liegender weise suboptimal, das Drohpotential staatlicher Machtinstanzen einsetzen zu müssen. Folglich ist die Bewahrung der einzigartigen Kulturleistung liberal-konstitutionalistischer Selbstbeschränkung darauf angewiesen, dass sich eine entsprechende Haltung auch auf religiöser Seite ausbildet.

Eine solche religiöse Liberalität besteht in der freiwilligen Bereitschaft von Glaubensgemeinschaften, konkurrierende religiöse Überzeugungen zu tolerieren und den Vorrang demokratischer politischer Entscheidungen gegenüber weltanschaulichen Geltungsansprüchen zu akzeptieren. Hierzu kommt es darauf an, „dass die Frommen ihr Gottesgesetz religiös-sittlich deuten und gerade im diskursiven Wahrheitsstreit der Religionen erkennen, dass nur autonomes staatliches Recht das freie, rechtsfriedliche Zusammenleben der Streitenden dauerhaft zu sichern vermag.“[19] Denn Ernst-Wolfgang Böckenfördes berühmte Vermutung, dass „auch der säkularisierte, westliche Staat letztlich aus jenen inneren Antrieben und Bindungskräften leben muss, die der religiöse Glaube seiner Bürger vermittelt“, bedeutet gerade nicht, „dass er zum christlichen Staat rückgebildet wird“, sondern dass Christen – und Muslime, wie man Böckenfördes Feststellung heute ergänzen muss – „diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist.“[20]

Die Bedingung eines gedeihlichen Miteinanders von Politik und Religion ist mithin eine beidseitige Selbstbegrenzung zur Bewahrung ihrer jeweiligen Freiheitsräume. Originäre religiöse Liberalität ist der nachhaltigste Schutz des liberal-demokratischen Rechtsstaates. Umgekehrt muss dieser auch „gebotene religiöse Lernprozesse stimulieren, indem er als Kulturstaat durch gelassene Liberalität verhindert, als Kulturkampfstaat erlebt zu werden.“[21] Religion kann und darf also nicht auf eine Wertagentur der zur Fundamentalpolitisierung neigenden politischen Gesellschaft[22] reduziert werden. Vielmehr ist eine konstruktive gesellschaftliche und politische Wirkung der Religion gerade von den ihr eigenen Erfahrungen der Selbsttranszendenz[23] zu erwarten. Jedenfalls ist es eine hinsichtlich aller Weltreligionen plausible Arbeitshypothese für das Forschungsdesiderat der sozialen, religiösen bzw. theologischen, psychologischen und politischen Bedingungen religiöser Liberalität, dass Privatisierung und Introversion religiöser Überzeugungen nicht etwa Radikalität infolge säkularistischer Defizienzerfahrungen bewirken, sondern, ganz im Gegenteil, ein Transzendenzparadox religiöser Liberalität festzustellen ist: Während man prima facie meinen kann, eine Religion sei desto liberaler, je weltoffener und politisch engagierter sie ist, scheint eine Bedingung religiöser Liberalität vielmehr in starker Transzendenzorientierung zu bestehen, die weltlichen Fragen Eigengesetzlichkeit und Freiheit lassen kann.[24]

In diesem Zusammenhang gilt es noch weitere, nicht minder wichtige Paradoxien zu reflektieren.[25] So sind Politik und Religion offenbar in den Bedingungen ihrer Trennung eng miteinander verbunden. Umso bedeutsamer ist es, in welcher Weise diese Paradoxie entfaltet, das heißt auf unterschiedliche Identitäten und Perspektiven bezogen wird.[26] Dabei ist wiederum zu bedenken, dass die Selbstbeschränkung der Politik im liberalen Konstitutionalismus eine in eingangs angedeuteteter Hinsicht historisch voraussetzungsvolle Entwicklung ist. Betonte man einfach ihre normative Vorbildlichkeit, so ergäbe sich das Paradox, anderen Funktionssystemen eine funktionssystemspezifische Selbstbeschränkung nahe zulegen und also die Entgrenzung einer Begrenzung zu empfehlen. Die Entfaltung dieser Paradoxie könnte in der Entdeckung isomorpher Selbstbeschränkungen in verschiedenen sozialen Funktionssystemen, möglicherweise sogar in der Wirtschaft, bestehen.[27] Dieses erst noch zu entwickelnde Forschungsparadigma kann hier nur kurz angedeutet werden; doch seine Bedeutung dürfte unzweifelhaft sein.

[1] Vgl. das Nachfolgende in Karsten Fischer: Die Zukunft einer Provokation. Religion im liberalen Staat, Berlin: Berlin University Press 2009.

[2] Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983.

[3] Dieter Grimm: Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin: Berlin University Press 2009.

[4] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation 1967, in Ders.: Der säkularisierte Staat. Sein Charakter, seine Rechtfertigung und seine Probleme im 21. Jahrhundert, München: Carl Friedrich von Siemens Stiftung 2007, 43-72.

[5] Stephen Holmes: Passions and Constraints. On the Theory of Liberal Democracy, Chicago/London: The University of Chicago Press 1995: 100, 131.

[6] Ebd.: 152.

[7] José Casanova: Europas Angst vor der Religion, Berlin: Berlin University Press 2009.

[8] Rolf Schieder: Wieviel Religion verträgt Deutschland? Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001: 89.

[9] Hermann Lübbe: Politische Theologie als Theologie repolitisierter Religion, in: Jacob Taubes (Hg.): Der Fürst dieser Welt. Carl Schmitt und die Folgen, München: Wilhelm Fink 21985, 45-56: 50.

[10] Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000: 84.

[11] Niklas Luhmann: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000: 127.

[12] Holmes, Passions and Constraints, a. a. O. (Fn. 5): 207.

[13] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, 143-169: 166.

[14] Holmes, Passions and Constraints, a. a. O. (Fn. 5): 135, 163.

[15] Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, a. a. O. (Fn. 13): 148.

[16] Cass R. Sunstein: Legal Reasoning and Political Conflict, Oxford/New York: Oxford University Press 1996.

[17] Holmes, Passions and Constraints, a. a. O. (Fn. 5): 135 f.

[18] Ebd.: 174 ff. Vgl. die konträre Beurteilung bei Michael Th. Greven: War die Demokratie jemals „modern“? Oder: des Kaisers neue Kleider, in: Berliner Debatte Initial 20 (2009), 3, 67-73: 68 f.

[19] Friedrich Wilhelm Graf: Moses Vermächtnis. Über göttliche und menschliche Gesetze, München: C.H. Beck 2006: 87.

[20] Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, a. a. O. (Fn. 4): 72.

[21] Graf, Moses Vermächtnis, a. a. O. (Fn. 19): 87.

[22] Michael Th. Greven: Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, Opladen: Leske + Budrich 1999.

[23] Hans Joas: Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg: Herder 2004.

[24] Vgl. ausführlich Fischer, Die Zukunft einer Provokation, a. a. O. (Fn. 1): 185 ff.

[25] Zur demokratietheoretischen Bedeutung von Paradoxien vgl. Michael Th. Greven: Bildung und Demokratie – zwischen Utopie und Praxis, in: Vorgänge, H. 4/2009, 4-18.

[26] Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg: Carl-Auer Verlag 2004: 88. Vgl. Niklas Luhmann: Tautologie und Paradoxie in den Selbstbeschreibungen der modernen Gesellschaft, in Ders.: Protest. Systemtheorie und soziale Bewegungen, hg. v. Kai-Uwe Hellmann, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997, 79-106.

[27] Diesen Hinweis verdanke ich Kai-Uwe Hellmann.

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