Publikationen / vorgänge / vorgänge Nr. 189: Der ungeliebte Liberalismus

Niedergang oder Renaissance des Neoli­be­ra­lis­mus?

Die Folgen der Finanzkrise;

aus: vorgänge Nr. 189, Heft 1/2010, S. 43-52

Am 17. Juli 2008 veröffentlichte die Financial Times Deutschland unter dem Titel „Das war’s, Neoliberalismus“ einen Gastkommentar von Joseph Stiglitz, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Columbia University, welcher mit folgenden Worten endete: „Der neoliberale Marktfundamentalismus war immer eine politische Doktrin, die gewissen Interessen diente. Sie wurde nie von ökonomischer Theorie gestützt, ebenso wenig von historischen Erfahrungen. Wenn diese Lektion jetzt gelernt wird, wäre das ein Hoffnungsschimmer hinter der dunklen Wolke, die momentan über der Weltwirtschaft hängt.“[1] Als die US-amerikanische Investmentbank Lehman Brothers knapp zwei Monate später zusammen- und die Finanzmarktkrise damit für alle Welt sichtbar ausbrach, wurde vielen Menschen schlagartig bewusst, dass die Liberalisierung der Märkte, die Deregulierung des Bankwesens und die Privatisierung öffentlichen Eigentums das Desaster vergrößert, wenn nicht gar verursacht hatten. Hier soll untersucht werden, ob der Marktradikalismus wirklich am Ende ist, ob es Erfolg versprechende Alternativkonzepte gibt oder sich der Neoliberalismus nicht bereits wieder von dem Krisenschock erholt und gute Chancen hat, weiterhin die Hegemonie, d.h. die öffentliche Meinungsführerschaft auszuüben.

Die ewige Wiederkehr des Gleichen oder neue Krisenursachen?

Um die globale Finanz- und Weltwirtschaftskrise dieser Tage erklären sowie ihre Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen begreifen zu können, muss man das Wesen und die spezifischen Charakterzüge des Gegenwartskapitalismus berücksichtigen. Strittig ist allerdings, ob der Kapitalismus selbst oder der Neoliberalismus für das Krisendesaster verantwortlich gemacht werden muss. Das ist keine akademische Frage, sondern hat erhebliche Konsequenzen für die zu entwickelnde Gegenstrategie. Ursächlich für die schwerste Wirtschafts- und Finanzkrise seit dem Zweiten Weltkrieg sind nicht bloß der Kapitalismus als solcher und die ihm eigene Tendenz zur Überakkumulation bzw. Überproduktion im Rahmen „normaler“ Konjunkturzyklen, sondern auch seine jüngsten Strukturveränderungen. Anknüpfend an die Charakterisierung früherer Entwicklungsphasen dieser Wirtschaftsordnung als „Handels-“ und „Industriekapitalismus“ ist meist von „Finanzmarktkapitalismus“ die Rede.[2] Typisch für ihn sind Hedgefonds, Private-Equity-Gesellschaften und Spekulationsblasen unterschiedlicher Art.

Während der US-amerikanische Nobelpreisträger Paul Krugman die Analogie zur 1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise nicht scheut[3], hält der Bremer Finanzwissenschaftler Rudolf Hickel den Vergleich mit dieser für wenig hilfreich, weil sich „Elemente eines neuen Krisentyps“ erkennen ließen: „Die zyklische und strukturelle Krise wird durch die Finanzmarktkrise überlagert.“[4] Dadurch komme es sowohl in den Vereinigten Staaten von Amerika wie in der Bundesrepublik Deutschland zu einem sich wechselseitig verstärkenden Absturz der Wirtschaft. Häufig erschien die Finanzmarktkrise jedoch als separates Geschehen, völlig losgelöst von den Krisenerscheinungen in anderen Wirtschaftsbereichen. „In vielen Analysen der Finanzkrise wird der Zusammenhang mit der Entwicklung und Restrukturierung der Realwirtschaft der vergangenen Jahre außer Betracht gelassen, also die Ausrichtung auf Wettbewerbsfähigkeit, Standortpolitik und Shareholder-Value – so als hätte die mit diesen Ausdrücken verbundene neoliberale Strategie gar nichts mit der Krise zu tun.“[5]

Was den Zeitgenoss(inn)en im ersten Moment als Wiederkehr der Großen Depression erschien, wird inzwischen beinahe zu einer gewöhnlichen Rezession verniedlicht. Auch fachkundige Kommentatoren wie der frühere Weltbankdirektor Moisés Naím tun heute so, als sei (fast) gar nichts passiert.[6] Das Münchner Nachrichtenmagazin Focus erschien am 1. März 2010 denn auch unter dem Titel „Die Welt nach der Krise“, obwohl es konjunkturelle Erholungsphasen wie die gegenwärtige auch während der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 gab, bis der Zusammenbruch österreichischer und deutscher Großbanken 1931 das Krisenfiasko verschärften.

Eine zentrale Ursache für die globale Finanz- und Weltwirtschaftskrise 2008/09 war die durch staatliche Reformen gestiegene Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung, wie Claus Schäfer (WSI) theoretisch und empirisch belegt.[7] Da die seit der Jahrtausendwende drastisch gesunkene Lohnquote nach Ausbruch der Krise wieder etwas anstieg und zuerst die Gewinne und Aktienkurse vieler Unternehmen sowie die Kapital- und Vermögenserträge einbrachen, sprach Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), allen Ernstes von einem sozialen Egalisierungseffekt der (Finanz-)Krise, obwohl sich am Ende die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zuletzt wegen der Krisengewinnler vertiefen dürfte. Entscheidend ist schließlich, wer die Zeche zahlt: Während die das Krisendebakel wesentlich mit verursachenden Hasardeure und Spekulanten mittels des beim Bund angesiedelten „Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung“ (SoFFin) aufgefangen werden, müssen die Mittelschicht, Arbeitslose und Arme jene Suppe, die Banker und Börsianer der gesamten Bevölkerung eingebrockt haben, vermutlich einmal mehr auslöffeln. Wenn die privaten Banken den für sie bürgenden Staat zur Kasse bitten und ihn die Vermögenden immer weniger mitfinanzieren, wird für die sozial Benachteiligten und die wirklich Bedürftigen kaum noch Geld übrig bleiben.

Versagt haben nicht bloß die Banken, das Spitzenmanagement und ihre politischen Kontrolleure in Regierung und Verwaltung, sondern auch die Massenmedien als öffentliches Korrektiv,[8] weil sie interessensmäßig eng damit verquickt und fast ausnahmslos von der neoliberalen Pseudophilosophie und der offiziösen Marktmythologie beseelt sind. Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Storz haben den massenmedialen Umgang mit der Finanzmarktpolitik analysiert und daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass sich der Wirtschaftsjournalismus hierzulande selbst in einer tiefen Krise befindet. Obwohl es kompetente, prominente und allgemein zugängliche Warnungen vor den Finanzmarktrisiken gab, wollten Wirtschaftswissenschaft, Fachpublizistik und Regierungspolitik laut Arlt und Storz von den Krisengefahren nichts wissen, weil dies dem neoliberalen Mainstream zuwidergelaufen wäre: „Der tagesaktuelle deutsche Wirtschaftsjournalismus stand dem globalen Finanzmarkt gegenüber wie ein ergrauter Stadtarchivar dem ersten Computer mit einer Mischung aus Ignoranz und Bewunderung, ohne Wissen, wie er funktioniert, ohne Ahnung von den folgenreichen Zusammenhängen, die sich aufbauen; im Zweifel schloss man sich der vorherrschenden Meinung an.“[9]

Beschönigungen, Beschwichtigungen und falsche Schuldzuweisungen

Unmittelbar nach dem Ausbruch der Finanzmarktkrise ergossen sich über die Neoliberalen selbst in solchen Medien eher Spott und Häme, die ihre Hegemonie begründet und gesichert hatten. Als hätte die Wirtschaftsredaktion der Zeit nicht selbst jahrelang das Hohelied von Standortwettbewerb, Senkung der „Lohnnebenkosten“, Privatisierung und Deregulierung gesungen, statt gesellschaftskritischen Stimmen auch bloß ansatzweise Gehör zu schenken, mokierte sich Susanne Gaschke in der Hamburger Wochenzeitung unter dem Titel „Die Neunmalklugen“ über die „Gehirnwäsche“ durch „Propagandisten der regellosen Marktwirtschaft“, hießen sie nun Hans-Werner Sinn oder Horst Köhler.[10] In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung schrieb Nils Minkmar: „Die Liberalen müssen sich mit dem faktischen Kollaps ihrer schönen, als Wissenschaft getarnten Ideologie auseinandersetzen und sich fragen, wie das eigentlich kommt, dass Unternehmer und Finanzhelden, die doch in den letzten Jahrzehnten so herrlich ungestört arbeiten konnten, mit ihrem Geld nicht ausgekommen sind und nun bei den Finanzministern quengeln wie Kleinkinder vor den Schokoriegeln an der Supermarktkasse.“[11]

Hatten sie die neoliberale Theorie und Terminologie jahrelang kritiklos übernommen, verfielen manche Medien jetzt in den umgekehrten Fehler, sie für ein Relikt der Zeit vor dem Kriseneinbruch zu halten und gar nicht mehr ernst zu nehmen. „Durch die Neigung zur medialen Überzeichnung plötzlicher politischer Kehrtwendungen entstand vorübergehend der Eindruck, als würden marktliberale Strategien und Programme fortan keine Rolle mehr spielen und sich stattdessen vollkommen neue Gestaltungsoptionen ergeben.“[12]

Dass bürgerliche Journale, ja selbst manche Boulevardmedien und große Nachrichtenmagazine unmittelbar nach Ausbruch der Finanzmarktkrise wieder das Wort „Kapitalismus“ verwendeten, nachdem sie es jahrzehntelang wie der Teufel das Weihwasser gemieden und meistenteils durch „Soziale Marktwirtschaft“, den ordoliberalen Kosenamen für dieses Wirtschaftssystem, ersetzt hatten, war ein nicht zu unterschätzender semantischer Erfolg für die seit Jahrzehnten schwächelnde Linke. Zwar gelang dieser keine Entmythologisierung des Marktes, aber immerhin eine bis heute anhaltende Enttabuisierung des Kapitalismusbegriffs. Vor der gegenwärtigen Banken-und Finanzmarktkrise wäre es überhaupt nicht denkbar gewesen, dass die führende Lokalzeitung einer westdeutschen Metropole mit dem Zitat „Den Kapitalismus bändigen“ aufgemacht hätte, wie das der Kölner Stadt-Anzeiger am 10. März 2010 tat, als er über ein von ihm veranstaltetes Lesergespräch mit den beiden Unionspolitikern Jürgen Rüttgers und Horst Seehofer berichtete.[13]

Die meisten Debattenbeiträge zu möglichen Krisenursachen bleiben allerdings an der erscheinenden Oberfläche, statt bis zu den Wurzeln der globalen Finanz- und Weltwirtschaftskrise vorzustoßen. In vielen Printmedien, die Kerstin Bund berücksichtigte, dominierte anfänglich ein nicht zuletzt durch „Nahaufnahmen verzweifelter Aktienhändler“ und entsprechende Fotos von 1929 erzeugter Alarmismus.[14] Wenn die globale Finanz- und Weltwirtschaftskrise nicht einfach ignoriert oder in ihrer zentralen Bedeutung für das gesellschaftliche Leben relativiert wird, begreift man sie meistens entweder als eine Art Naturkatastrophe, die wie eine Sturmflut über die Weltwirtschaft hinweggefegt ist, oder als Folge des Versagens einzelner Personen, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht geworden, sondern der „Verlockung des Geldes“ erlegen sind. In diesem Zusammenhang wurden vor allem der Größenwahn des Spitzenmanagements, die Gier der Boni kassierenden Investmentbanker und der Börsenspekulanten sowie der Geiz von Großinvestoren für die Misere verantwortlich gemacht.

Dieter Rucht hat auf der Grundlage von ihm gesichteter Zeitungsartikel fünf Deutungsmuster herausgearbeitet. Von der Naturalisierung („Finanz-Tsunami“) und Moralisierung („Größenwahn und Gier“) des Geschehens über die mangelnde bzw. mangelhafte Regulierung der Banken reichten die (Fehl-)Interpretationen bis zur These des Missmanagements von „Nieten in Nadelstreifen“ und eines heilsamen Schocks für den (lernfähigen) Kapitalismus. Welche dieser Sichtweisen sich durchsetzt, entscheidet seiner Überzeugung nach mit darüber, welche Konsequenzen gezogen werden. Ruchts Prognose hat sich bisher bestätigt und dürfte weiterhin zutreffen: „Die diskursiven Koordinaten werden sich deutlich, die regulativen Koordinaten nur leicht zu Lasten der Neoliberalen verschieben, während sich ‚die Politik‘ für eine Weile als Retter in der Krise feiern lässt.“[15]

Neoliberalismus in der Krise – Krise des Neoliberalismus?

Zumindest einen historischen Moment lang sah es ganz so aus, als liefen die neoliberale Hegemonie und die Marktideologie ernsthaft Gefahr, durch eine Welle der Systemkritik fortgespült zu werden. So sprach Jürgen Habermas in einem Zeit-Interview von der „Selbstzerstörung des Neoliberalismus“ und verlangte nach einem „Gezeitenwechsel“, wie er sich ausdrückte: „Ich hoffe, dass die neoliberale Agenda nicht mehr für bare Münze genommen, sondern zur Disposition gestellt wird. Das ganze Programm einer hemmungslosen Unterwerfung der Lebenswelt unter Imperative des Marktes muss auf den Prüfstand.“[16]

Schon zu Beginn des Krisendesasters gab es Stimmen, die davor warnten, das Kind mit dem Bade auszuschütten, und den Neoliberalismus gegen Vorwürfe, die Finanzmarktkrise verschuldet zu haben, in Schutz nahmen. So bestritt Gerd Held in einem Leitartikel der Welt, dass Geldgier und Größenwahn die Bankenkrise ausgelöst hätten, ohne allerdings nach deren Systembedingtheit zu fragen, und gelangte zu dem Schluss: „Nicht der Kapitalismus ist in der Krise, sondern der Versuch, die realwirtschaftlichen Zwänge zu umgehen.“[17] Man hätte nach Helds Ansicht offenbar nur den exzessiven Handel mit Derivaten und Zertifikaten unterbinden oder besser steuern müssen, um alle Probleme umgehen oder meistern zu können. Held sah nämlich in dem Krisendebakel weder ein Argument für die kapitalismuskritische Linke noch ein Menetekel für den Aktionärs- und Spekulationskapitalismus, sondern einen schlagenden Beweis für die Unverzichtbarkeit der Marktökonomie: „Die Bankenkrise führt uns vor Augen, wie sehr wir das Kapital brauchen und wie wenig uns die ganze Kritik an den ‚Heuschrecken‘ weitergeholfen hat. Der Kapitalismus kehrt zurück in die Gesellschaft. Damit könnte auch die öffentliche Debatte aus der langweiligen Selbstgefälligkeit des ‚Sozialen‘ herausfinden: Sozial braucht Arbeit, Arbeit braucht Kapital.“[18]

Während selbst Norbert Röttgen, damals Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, in einem Zeitungsinterview durchaus ein Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystems konzedierte,[19] markierte der hessische Ministerpräsident Roland Koch nur wenige Tage später in einem Gastbeitrag für die auflagenstärkste Tageszeitung seines Bundeslandes die politisch-ideologische Verteidigungslinie des Liberalkonservatismus, als er unter der Überschrift „Versagt hat nicht die Marktwirtschaft“ das bestehende Wirtschaftssystem verteidigte, die globale Finanzkrise auf staatliche Regulierungsdefizite zurückführte und energisch bestritt, dass ein Systemdefekt vorliege. Im Unterschied zu den angelsächsischen Neoliberalen hätten die deutschen Ordoliberalen den Staat stets als Schiedsrichter und Schutzmacht der Marktteilnehmer betrachtet, führte Koch aus. Nunmehr schlage die Stunde der Freiburger und nicht der Chicagoer Schule, sähen sie doch ihre Auffassung bestätigt, wonach er dem Kapitalismus zwar im Bedarfsfall politische Nothilfe leisten, diesen aber nicht reglementieren soll: „Wie in jeder Katastrophe darf der Staat retten, aufräumen, wiederaufbauen. Dann aber muss er wieder heraus aus den wirtschaftlichen Prozessen des Tages und zurück in die Schranken des Regelwerkes.“[20] In dieselbe Kerbe schlug Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, als er postulierte, dass in der Sozialen Marktwirtschaft „grundsätzlich nicht verstaatlicht“ werde: „Der Staat muss sich wieder zurückziehen, wenn er seine Funktion als Nothelfer erfüllt hat. Er kann weder Wirtschaft noch Banken führen.“[21]

Zwar schien es vorübergehend, als erlebe der (Wohlfahrts-)Staat eine gewisse Renaissance und als neige sich die Ära der forcierten Privatisierung von Unternehmen, öffentlicher Daseinsvorsorge und sozialen Risiken ihrem Ende zu. Dieter Rulff hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass die Weltfinanzwirtschaftskrise den (Sozial-)Staat keineswegs stärkt, sondern schwächt, weil ihn nicht bloß die Verluste drücken, die Broker, Banker und Börsianer verursacht haben, sondern weil er auch kaum die unsozialen Spätfolgen des Fiaskos wie Massenarbeitslosigkeit und -armut beseitigen kann.[22] Mit der von Peter Sloterdijk, Roland Koch und Guido Westerwelle entfachten Diskussion über die Grenzen des Steuer- wie des Sozialstaates, über die „Enteignung“ der Leistungsträger durch den Fiskus und die Faulheit der Transferleistungsbezieher/innen wird bei einer steigenden Staatsverschuldung und kaum noch handlungsfähigen Kommunen die nächste Runde des Sozialabbaus vorbereitet.

Perspektiven des Neoliberalismus: Totgesagte leben länger!

Was gegenwärtig stattfindet, ist keineswegs der Untergang des Neoliberalismus, seinem öffentlichen Abgesang zum Trotz. Kaum hatte die Finanzmarktkrise das Konzept des Neoliberalismus widerlegt und seine Meinungsführerschaft in der Öffentlichkeit erschüttert, wehrten sich führende Repräsentanten dieser Richtung gegen angebliche Verteufelungsbemühungen und gingen zum argumentativen Entlastungsangriff bzw. zur ideologischen Gegenoffensive über. Thomas Straubhaar, Michael Wohlgemuth und Joachim Zweynert beispielsweise drehten den Spieß um, indem sie Staats- bzw. Politikversagen zur entscheidenden Krisenursache erklärten und behaupteten, dass „einige der heute als ‚neoliberal‘ gebrandmarkten Grundprinzipien die aktuelle Krise hätten vermeiden oder mildern können und auch zur Vermeidung oder Milderung der unter gegenwärtigen Rahmenbedingungen schier unvermeidlichen künftigen Krisen einen wichtigen Beitrag leisten sollten.“[23]

Statt nachhaltig Lehren aus dem Krisenfiasko zu ziehen, tun neoliberale Professoren, Publizisten und Politiker/innen gern so, als hätten sie immer schon prophezeit, dass die Blase an den Finanzmärkten irgendwann platzen würde. Die meisten Ideologen der Marktfreiheit weisen heute jede Mitschuld am Banken- und Börsenkrach von sich, sprechen in Anlehnung an John Maynard Keynes jetzt zum Teil selbst vom „Kasinokapitalismus“ und erwecken damit den Eindruck, sie hätten womöglich eher als Globalisierungs- und Kapitalismuskritiker/innen vor dessen schlimmen Auswüchsen gewarnt.[24]

Sehr geschickt nutzen prominente Neoliberale auch die TV-Talkshows und andere öffentliche Bühnen, um „der Politik“ den Schwarzen Peter zuzuschieben. Entweder wird das Desaster auf die Fehlentscheidungen einzelner Personen (Spitzenmanager, Investmentbanker) oder auf das Versagen des Staates und seiner Kontrollorgane (Politiker, Finanzaufsicht) reduziert.

All das unterstreicht nur die fehlende Bereitschaft der handelnden Personen, einen Neuanfang zu wagen, sowie die Machtlosigkeit ihrer Kritiker/innen, personelle, inhaltliche und programmatische Alternativen zu erzwingen. Zwar befindet sich der Neoliberalismus in einer Legitimationskrise, wie Roland Tichy früh erkannte,[25] seinen dominierenden Einfluss auf die Massenmedien und die öffentliche Meinung sowie die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse hat er bisher jedoch weder hierzulande noch im Weltmaßstab eingebüßt. Obwohl die Finanzmarktkrise von den angelsächsischen Musterländern einer „freien Marktwirtschaft“ ausging, ist die neoliberale Hegemonie in der Bundesrepublik, der Europäischen Union und den USA vielmehr ungebrochen.

Marktradikale, die nach dem Bankrott ihrer Liberalisierungs-, Deregulierungs-und Privatisierungskonzepte eigentlich in Sack und Asche gehen müssten, hatten politisch und ideologisch schon bald wieder Oberwasser. Tatsächlich waren sie nie gegen Staatsinterventionen ganz allgemein, sondern nur gegen solche, die Märkte, unternehmerische Freiheit und Profitmöglichkeiten beschränken. Demgegenüber sind selbst massive Eingriffe wie das praktisch über Nacht unter aktiver Mitwirkung von Spitzenvertretern des Bankenverbandes und der betroffenen Finanzinstitute geschnürte 480-Mrd.-Euro-Paket zur Rettung maroder Banken ausgesprochen erwünscht, wenn hierdurch die Börsen stabilisiert und die Gewinnaussichten der Unternehmen verbessert werden. Dabei handelt es sich um einen marktkonformen Staatsinterventionismus im Sinne der Monopolwirtschaft und privaten Großbanken, die selbst entsprechende Konzepte vorgeschlagen und teilweise gemeinsam mit den zuständigen Ministerien entwickelt haben. Insofern erscheint die Freude über einen „neuen Staatsinterventionismus“ und „post-neoliberale“ Regulationsformen als verfehlt oder zumindest verfrüht, denn die Finanzkrise brachte eben (noch) keineswegs das Ende von Privatisierung, Liberalisierung und Deregulierung mit sich, sondern gab der Staatsintervention nur eine andere Stoßrichtung.[26] „Zu befürchten ist, dass es mittelfristig zu neuen Sparrunden bei den Staatsausgaben und neuen Privatisierungsschüben kommen wird, die vor allem zu Lasten der Bildungs- und der Gesundheitseinrichtungen gehen werden.“[27] Konzepte wie das des Public Private Partnership (PPP) könnten angesichts leerer Staatskassen und zunehmender Verschuldung vor allem der Kommunen sogar größere Bedeutung gewinnen.

Selbst ein sachkundiger Kritiker des Neoliberalismus wie Robert Misik macht sich womöglich Illusionen hinsichtlich der Vitalität bzw. Flexibilität dieser Weltanschauung, Lebensweise und politischen Zivilreligion, weil er offenbar glaubt, dass zumindest im öffentlichen Bewusstsein eine Rehabilitation des Keynesianismus und des Staatsinterventionismus erfolgt sei: „Dass sich der Neoliberalismus durch das Wirtschaftsdesaster erledigt habe, in das die Marktideologie die Welt führte, ist heute weitgehender Konsens, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, dass wir heute zwar nicht mehr mit dieser Ideologie konfrontiert sind, aber immer noch mit ihren Folgen: diejenigen, die mit Slogans wie Shareholder Value die Märkte ausplünderten, vergreifen sich jetzt ein zweites Mal – diesmal an den Staatskassen.“[28] Aus dem hier von Misik genannten Grund wird auch die neoliberale Ideologie nach kurzer Latenzzeit vermutlich eine Renaissance erleben, denn ein durch die Abfederung der Krisenfolgen finanziell ausgebluteter Staat bietet genügend inhaltliche Angriffsflächen, um den Marktradikalismus stärker als früher inhaltlich zu profilieren. Die kritische Auseinandersetzung damit findet jedoch kaum noch statt, wie auch die Alternativen dazu bisher unzureichend entwickelt sind.[29]

Stellt man die Frage, was nach dem Neoliberalismus kommt, sollte man die beiden Perspektiven eines sich radikalisierenden und eines seriöser auftretenden, noch subtiler agierenden Marktfetischismus nicht übersehen. In der wechselhaften Geschichte des Neoliberalismus, wie sie David Harvey nachgezeichnet hat,[30] war ein Marktradikalismus à la Milton Friedman nur selten mehrheitsfähig; er gefiel sich aber gerade dann in einer geistig-politischen Märtyrerrolle, wenn ihm die Kritik ins Gesicht blies. Vielleicht treten die Protagonisten des Neoliberalismus (fast ausnahmslos Männer) künftig weniger forsch und lärmend in Erscheinung, weil sie nicht mehr auf eine kritiklose Bewunderung durch die Massenmedien treffen. Obwohl prominente Neoliberale mehr Nachdenklichkeit vortäuschen und versprechen, für mehr ökologische Nachhaltigkeit sorgen zu wollen,[31] sind ihre Rezepte freilich weder realitätsnäher noch sozial gerechter als früher.

Überlegt man, wohin sich der Neoliberalismus nach Überwindung der Weltwirtschaftskrise entwickeln könnte, drängt sich als neues Paradigma der Staat als ökonomischer Nothelfer auf. Hans-Jürgen Bieling weist in diesem Zusammenhang darauf hin, „dass das Leitbild des um die Katastrophenschutzfunktion erweiterten Wettbewerbsstaates nicht nur der politisch-prozeduralen Organisation des staatlichen Krisenmanagements entspricht, sondern auch durch die diskursiven und materiellen Bedingungen der gesellschaftlichen (Krisen-)Reproduktion, also durch die bestehenden Machtverhältnisse gestützt wird.“[32] Da sich ökonomische Katastrophen politisch leichter mit autoritären Methoden bekämpfen lassen, wird aus dem liberalen Nachtwächterstaat à la Adam Smith möglicherweise in Zukunft ein neoliberaler Feuerwehrstaat à la Carl Schmitt.

Weder dürfte sich der Neokeynesianismus noch einmal als konsensuelles Rezept zur Krisenprävention durchsetzen, wie der Ruf nach einer Renaissance des Monetarismus beweist,[33] noch der Neoliberalismus seine Schlüsselposition als die Gesellschaftsentwicklung prägende Wirtschaftstheorie und Sozialphiliosophie in absehbarer Zeit einbüßen. Denn die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik steht den Interessen mächtiger Kapitaleigentümer ebenso nahe wie die Doktrin, wonach der Markt das optimale Regulierungsinstrument bildet und die sozialstaatliche Abfederung ökonomischer Existenzrisiken der Effizienz des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses zuwiderläuft.

Sowohl die Börsen wie auch Bankaktien und die neoliberale Ideologieproduktion befinden sich längst wieder im Aufschwung. Das für den Gegenwartskapitalismus kennzeichnende Kasino im Finanzmarktbereich wird derzeit nicht etwa – wie es z. B. die globalisierungskritische Organisation attac verlangt – geschlossen, sondern mit Steuergeldern saniert und modernisiert. Enttäuscht wurde nicht bloß die Hoffnung auf einen Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, sondern auch die Hoffnung auf das Ende der neoliberalen Hegemonie im Geistesleben.

Reichlich naiv ist die Hoffnung, der Neoliberalismus habe seine Macht über das Bewusstsein von Millionen Menschen verloren, nur weil sie um ihr Erspartes fürchten und mit ihren Steuergeldern ein Mal mehr die Zeche für Spekulanten und Finanzjongleure zahlen müssen. Da die gegenwärtige Krise als Drohkulisse herhalten muss und als Disziplinierungsinstrument fungiert, will derzeit keine für einen grundlegenden Politikwechsel nötige Proteststimmung aufkommen. Freilich stellt sich die Frage nach einer neuen Wirtschaftsordnung nur, wenn die alte versagt und keinen Rückhalt in der Bevölkerung mehr hat. Gleichwohl bleibt zu hoffen, dass die globale Finanzmarktkrise zur Überwindung der neoliberalen Hegemonie und zur Rehabilitation einer gemeinwohlorientierten, demokratischen und sozialen Staatsintervention beiträgt.

[1] Joseph Stiglitz, Das war’s, Neoliberalismus, in: Financial Times Deutschland v. 17.7.2008.

[2] Vgl. dazu: Paul Windolf (Hrsg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von Produktionsregimen, Wiesbaden 2005 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 45).

[3] Vergl. Paul Krugman, Die neue Weltwirtschaftskrise, Mit einem Nachwort von Irwin L. Collier, Frankfurt am Main/New York 2009.

[4] Rudolf Hickel, Ein neuer Krisentyp. Export- und finanzmarktgetriebener Kapitalismus, Kapitalmacht und ordnungspolitische Umsteuerung, in: Hermannus Pfeiffer (Hrsg.), Land in Sicht? – Die Krise, die Aussichten und die Linke, Köln 2009, S. 33.

[5] Alex Demirovic, Kehrt der Staat zurück? – Wirtschaftskrise und Demokratie, in: PROKLA 4/2009, S. 596.

[6] Moisés Naím, Es ist nicht geschehen. Krise? Welche Krise? Sechs Experten-Voraussagen, die nicht eingetroffen sind, in: Frankfurter Rundschau v. 27./28.2.2010.

[7] Vgl. Claus Schäfer, Aus der Krise in die Krise? – WSI-Verteilungsbericht 2009, in: WSI-Mitteilungen 12/2009, S. 683 ff.

[8] Vgl. Thomas Barth, Finanzkrise, Medien und dezentrale Korruption, in: Elmar Altvater u. a., Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Hamburg 2009, S. 68 ff.

[9] Hans-Jürgen Arlt, Wolfgang Storz, Wirtschaftsjournalismus in der Krise. Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik, Eine Studie der Otto Brenner Stiftung (OBS-Arbeitsheft 63), Frankfurt am Main, März 2010, S. 8.

[10] Siehe Susanne Gaschke, Die Neunmalklugen. Was haben sie uns nicht alles erzählt über den überlegenen Markt und die Wertlosigkeit des Staates – und was hört man nun? Dröhnendes Schweigen, in: Die Zeit v. 16.10.2008.

[11] Nils Minkmar, Brüder, zum Abgrund. Die Krise des Kapitalismus müsste eigentlich die Stunde der Linken sein. Doch die zieht sich in den Wahnsinn zurück, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung v. 23.11.2008.

[12] Hans-Jürgen Bieling, Neuer Staatsinterventionismus? – Brüche und Kontinuitäten im marktliberalen Diskurs, in: Widerspruch 57 (2009), S. 41.

[13] Siehe Christian Hümmeler, Tobia Peter, Den Kapitalismus bändigen. Lesergespräch: Ministerpräsidenten Rüttgers und Seehofer warnen vor neuer Krise und fordern Regulierung, in: Kölner Stadt- Anzeiger v. 10.3.2010.

[14] Siehe Kerstin Bund, Zwischen Alarmismus und Aufklärung. Der Ton wird ruhiger, die Bilder bleiben dramatisch: Wie Zeitungen und Zeitschriften über die Finanzkrise berichten, in: Die Zeit v. 13.11.2008.

[15] Dieter Rucht, Tsunami oder innere Reinigung. Es gibt verschiedene Deutungsmuster der Finanzkrise, in: Frankfurter Rundschau v. 18.11.2008.

[16] Nach dem Bankrott. Der Privatisierungswahn ist an sein Ende gekommen. Nicht der Markt, sondern die Politik ist für das Gemeinwohl zuständig: Ein Gespräch mit dem Philosophen Jürgen Habermas über die Notwendigkeit einer internationalen Weltordnung, in: Die Zeit v. 6.11.2008.

[17] Gerd Held, Mehr Kapitalismus wagen. Jetzt kann der Markt zeigen, dass er kein Schön-Wetter – System ist, in: Die Welt v. 19.9.2008.

[18] Ebd.

[19] Vgl. Der Kapitalismus versagt. CDU-Wirtschaftsexperte Norbert Röttgen fordert die Abkehr von der Marktgläubigkeit – und Konsequenzen von den Banken, in: taz v. 18./19.10.2008.

[20] Roland Koch, Versagt hat nicht die Marktwirtschaft, in: FAZ v. 22.10.2008.

[21] Unser Modell hat Zukunft. Angesichts der Finanzkrise reden alle von der Rückkehr der Politik. Der Fraktionsvorsitzende der Union sieht das anders: Die Politik war für Volker Kauder nie weg, in: Die Zeit v. 30.10.2008.

[22] Dieter Rulff, Totgesagte leben länger, in: taz v. 20.4.2009.

[23] Siehe Thomas Straubhaar, Michael Wohlgemuth, Joachim Zweynert, Rückkehr des Keynesianismus: Anmerkungen aus ordnungspolitischer Sicht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 20/2009, S. 21.

[24] Vgl. Hans-Werner Sinn, Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist, Berlin 2009.

[25] Vgl. Roland Tichy, Aufschwung ohne Zustimmung. Die Ursachen der neoliberalen Legitimationskrise, in: Die Politische Meinung 454 (2007), S. 16 ff.

[26] Vgl. dazu: Mario Candeias, This party is so over …Krise, neuer Staatsinterventionismus und grüner New Deal, in: ders., Rainer Rilling (Hrsg.), Krise. Neues vom Finanzkapitalismus und (von) seinem Staat, Berlin 2009, S. 21 ff.

[27] Alex Demirovic, Kontinuität und Krise. Die Reorganisation des neoliberalen Kapitalismus, in: Mario Candeias, Rainer Rilling (Hrsg.), Krise, a.a.O., S. 48.

[28] Robert Misik, Fehlen Werte? – Wie die Ego-Ideologie der Neoliberalen und der Wertejargon der Neokonservativen zusammenspielen und uns die Weltwirtschaftskrise einbrockten, in: Neue Gesellschaft/Frankfurt Hefte 4/2009, S. 7.

[29] Vgl. hierzu: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak, Kritik des Neoliberalismus, 2. Aufl. Wiesbaden 2008; dies. (Hrsg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Wiesbaden 2008.

[30] Vgl. David Harvey, Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Zürich 2007.

[31] Vgl. z.B. Meinhard Miegel, Exit. Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2010.

[32] Siehe Hans-Jürgen Bieling, Neuer Staatsinterventionismus? – Brüche und Kontinuitäten im marktliberalen Diskurs, in: Widerspruch 57 (2009), S. 48.

[33] Vgl. Otmar Issing, Zu viel Geld ist gefährlich. Die keynesianische Politik produziert hohe Staatsschulden und neue Finanzblasen. Der Monetarismus wird eine Renaissance erleben, in: Die Zeit v. 4.3.2010.

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