Publikationen / vorgänge / vorgänge 190: Die Erosion der Demokratie

Gleich - gleicher - ungleich?

Feministische Perspektiven auf die Krise der Demokratie;

aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 73-81

Im Zentrum feministischer Analysen zu Erosionstendenzen der Demokratie stehen weder die Konsequenzen der Globalisierung noch der massenmediale Wandel oder die Ökonomisierung bzw. Postdemokratisierung moderner Gesellschaften. Aus feministischer Perspektive liegt die Wurzel vieler demokratischer Probleme tiefer: Sie resultieren aus einem unterkomplexen Gleichheitsverständnis, das Eingang in eine Vielzahl politischer Institutionen und Entscheidungsverfahren gefunden hat und das die Funktionalität und Stabilität moderner Demokratie zunehmend gefährdet, da es die gleiche Integration aller Bürgerinnen und Bürger in den politischen Prozess erschwert.

Das in diesem Kontext von vielen Feministinnen kritisierte „einfache“ Gleichheitsverständnis[1] kommt heute nur noch selten so klar zum Ausdruck wie in den Worten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal[…]“. Es prägt jedoch zweifelsohne (und in vielerlei Hinsicht auch aus gutem Grund) jegliche Form moderner Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Entscheidungsformen. Nach Ansicht feministischer Autorinnen geht die Annahme der Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger in modernen Gesellschaften heute weit über die Anerkennung gleicher Rechte und Pflichten hinaus – und damit zu weit. Die mangelnde Berücksichtigung, teilweise sogar theoretische Leugnung, der grundlegenden Verschiedenheit der Menschen im Kontext politischer Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten sei nicht mehr nur Ausdruck der Rechtsgleichheit aller Bürgerinnen und Bürger, sondern führe auch zur Diskriminierung von Differenz. Diese diskriminierenden Elemente des modernen Gleichheitsverständnisses seien zwar kein neues Merkmal demokratischen Handelns am Beginn des 21. Jahrhunderts – sie würden durch Pluralisierungs- und Modernisierungsprozesse jedoch in ihrer Bedeutung verstärkt.

„Equality [is] conceived as sameness“, kritisiert entsprechend Iris Marion Young (Young 1989: 250). Das emanzipatorische Streben nach der politischen Gleichheit aller Bürger (und später auch Bürgerinnen) sei in der modernen Staatstheorie und politischen Praxis in einem schleichenden Prozess zunehmend mit dem Ideal des Gleichseins verwoben worden. Heute bestehe ein impliziter, aber nicht notwendiger Zusammenhang zwischen den Idealen der Inklusion und Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger, ihrer Gleichbehandlung und der Annahme der Generalisierbarkeit ihrer Interessen. Wer öffentlich agiere, solle von seiner individuellen und kulturell geprägten Lebenssituation abstrahieren und einen allgemeinen Standpunkt einnehmen, der alle partikularen Perspektiven und Erfahrungen transzendiere. „But such an impartial general perspective is a myth“, urteilt Young mit dem Verweis auf die Prägekraft und Vielfalt von Identitäten und identitätsstiftenden Gruppen in modernen Gesellschaften (Young 1989: 257; vgl. auch Young 1987).

Der Rückzug vieler Bürgerinnen und Bürger aus dem politischen Leben, die Politikverdrossenheit und damit verbundenen Responsivitätsprobleme moderner Demokratien können aus feministischer Perspektive also als Reaktionen auf politische Institutionen und Entscheidungsmechanismen, deren universalistisches Gleichheitsverständnis in immer stärkerem Kontrast zu den sich pluralisierenden Lebensweisen stehen, interpretiert werden.[2] Während lange Zeit vor allem Frauen trotz der rechtlichen Gleichstellung Zurückhaltung gegenüber dem demokratischen Leben geübt haben, wirken sich die subtilen Ausgrenzungsmechanismen der „einfachen“ Gleichheit in pluralistischen Gesellschaften auch auf die politische Situation vieler Männer aus. Wenn Bürgerinnen und Bürger nicht den Eindruck haben, in ihrer (vorpolitischen) Verschiedenheit[3] anerkannt und berücksichtigt zu werden, dann ziehen sie sich aus dem politischen Prozess zurück – sofern in diesem nicht gerade die gruppenspezifischen Interessen verhandelt werden. Diese Entwicklung wurde in den letzten Jahren angesichts der schwindenden Bedeutung von Klassenunterschieden im „postsozialistischen Zeitalter“ und dem wachsenden Einfluss pluralistischer Identitäten verstärkt sichtbar (vgl. Pateman 2001: 10f.).

Vor dem Hintergrund dieser These erscheint die Rekonzeptionalisierung von Gleichheit und Ungleichheit aus feministischer Perspektive als eine Existenzbedingung moderner Demokratien. Im Folgenden werden zwei Ansätze vorgestellt, wie ein modernes Gleichheitsverständnis aussehen könnte.

Diffe­ren­zierte Gleichheit

Nicht nur Feministinnen haben differenzierte Gleichheitsbegriffe ausgearbeitet. Schon Mitte des 20. Jahrhunderts – also rund zwei Jahrzehnte vor der Veröffentlichung der ersten gleichheitskritischen Arbeiten der Neuen Frauenbewegung[4] – legte der britische Soziologe Thomas Marshall (1992 [1947]) in seinen Studien zum „demokratischen Wohlfahrtskapitalismus“ die einflussreiche Unterscheidung zwischen dem rechtlichen, dem politischen und dem sozialen Gleichheitsaspekt vor, wobei die drei Begriffsdimensionen der Gleichheit aus heutiger Perspektive auch mit dem demokratischen Selbstverständnis einer politischen Gemeinschaft in Verbindung gebracht und als in einem interdependenten Spannungsverhältnis zueinander stehend rekonstruiert werden können (vgl. Schwinn 2001). Der rechtliche Aspekt der Gleichheit bezieht sich dabei auf das für moderne Gesellschaften zentrale Ideal der gleichen Rechte und Rechtsprechung für alle Gesellschaftsmitglieder. Politische Gleichheit hingegen kommt nicht nur durch gleiche Beteiligungsrechte zum Ausdruck, sondern besteht, wenn de facto alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen die Herrschaftsordnung bestimmen, kontrollieren und legitimieren. Der soziale Aspekt der Gleichheit bezieht sich bei Marshall auf die angemessene Verteilung sozialer und materialer Güter und Fähigkeiten als Bedingung für politisches Handeln in einer Gesellschaft (Schwinn 2001: 218f.).

Auch wenn Feministinnen nur selten explizit zwischen diesen drei Gleichheitsaspekten differenzieren, prägt eine entsprechende oder ähnliche Unterscheidung ihre Argumentationen doch immer dann, wenn sie auf das Ungenügen gleicher Rechte zur Erreichung politischer Gleichstellung verweisen (z.B. Fraser 2001). Dass die formale Anerkennung von Frauen als vollwertige Mitglieder demokratischer Gemeinschaften bislang nicht ausgereicht hat, um ihnen gleiche Lebenschancen und politische Teilhabe wie den männlichen Bürgern zu sichern, ist dabei unumstritten. Noch immer haben auch politische Institutionen nach Ansicht der überwiegenden Mehrzahl der Feministinnen ein Geschlecht und tragen zur (Re-)Produktion geschlechtsspezifischer Rollen und Verhaltensmuster bei (Sauer 2001: 52; vgl. auch Holland-Cunz 1999: 128f.). In dieser Situation liegt nicht nur ein zentrales Gerechtigkeitsdefizit moderner Gesellschaften begründet (Young 1990), sie stellt angesichts der Integrationsprobleme moderner Gesellschaften auch zunehmend ein funktionales Problem dar.

So viel Einigkeit unter Feministinnen über diese Annahmen und Beobachtungen besteht, so unterschiedlich sind die theoretischen Konsequenzen, die sie daraus ziehen. Während die so genannten „gleichheitsorientierten“ Wissenschaftlerinnen davon überzeugt sind, dass Geschlechtsunterschiede in der gesellschaftlichen Praxis letztendlich keine Rolle spielen und lediglich temporäre Förderungsmaßnahmen für Frauen ergriffen werden müssten, fordern „Differenztheoretikerinnen“ die dauerhafte und institutionalisierte Berücksichtigung der Verschiedenheit von Männern und Frauen im demokratischen politischen Prozess (vgl. Fraser 2001: 67; Holland-Cunz 1999: 123f.; Kreisky 2004). Beide Perspektiven sollen im Folgenden beispielhaft anhand der gleichheitskritischen Arbeiten von Anne Phillips und Iris Marion Young beleuchtet werden.

Ungleich­heit aufgrund fehlender Rollen­muster – die gleich­heits­the­o­re­ti­sche Position

Mit ihrem Plädoyer für „faire Repräsentation“ machte die britische Politikwissenschaftlerin Anne Phillips in den 1980er Jahren auf Gerechtigkeitsprobleme in den westlichen Demokratien aufmerksam. Phillips kritisierte vor allem die mangelnde Inklusivität des demokratischen Prozesses in westlichen Gesellschaften als ein gleichheitstheoretisches Problem. Nicht nur die Interessen von Frauen kämen in der politischen Entscheidungsfindung nicht angemessen zum Ausdruck, sondern auch Minderheitspositionen fänden häufig zu wenig politische Beachtung. Dieser de facto Ausschluss von Teilen der Bürgerinnen und Bürger bzw. ihrer Interessen sei nicht die Konsequenz rechtlicher Exklusionen, sondern resultiere aus gewohnheitsmäßigen Denk- und Diskussionsmustern und der ungleichen Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen in den Entscheidungsgremien. Gleichheit bzw. Ungleichheit sind hier also das Resultat von gleicher bzw. ungleicher Sichtbarkeit im und Einflussnahme auf den politischen Prozess.

Um die Pluralität moderner Gesellschaften angemessen im demokratischen Prozess abzubilden, müsste die Vielfalt der Meinungen und Lebensformen (auch wenn sie in keinem direkten Bezug zur politischen Entscheidungsfindung stehen) stärkeren Eingang in die politischen Institutionen finden. Daher plädiert Phillips (wie auch viele andere differenztheoretische Autorinnen (vgl. Kreisky 2009: 29f.)) für eine vorübergehende – bis zur Beseitigung der ungleichen Einflussmöglichkeiten andauernde – quotierte Besetzung repräsentativer Gremien. Frauen und andere gesellschaftliche Gruppen sollen nicht nur gemäß ihrer ideologischen Positionierung, sondern auch proportional zu ihrer zahlenmäßigen Relevanz in den Parlamenten vertreten sein. Neben der bereits existierenden „Politik der Ideen“, also dem institutionalisierten Ausdruck inhaltlicher Positionen, die über Wahlkämpfe vermittelt werden und die wesentlich entlang der Parteilinien verlaufen, fordert sie einer „Politik der Präsenz“ in den Parlamenten und in anderen Repräsentationsgremien. Diese „zweite Dimension politischer Repräsentation“ sei heute notwendig, da die historisch gewachsene Verortung von Parteien auf dem Rechts-Links-Spektrum die Interessen der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr zufrieden stellend widerspiegeln könne (Phillips 1995: 42).

Phillips will durch die quotierte Repräsentation die Gerechtigkeit repräsentativer demokratischer Systeme auf der symbolischen Ebene stärken und somit mittelfristig zur Revitalisierung der Demokratie beitragen (Phillips 2001: 237f.). „Because the modern age makes identity more problematic (much less taken for granted), it also makes recognition far more important to people’s well-being; and if your way of life is not recognized as of equal value with others, this will be experienced as a form of oppression“ (Phillips 1995: 40). Dabei ist sie sich im Klaren darüber, dass die zum Bevölkerungsanteil einer Gruppe proportionale Repräsentation nur in Bezug auf einige wenige Merkmale verwirklicht werden kann. Eine faire Auswahl der Quotierungsmerkmale, die die jeweiligen Gleichheitsdefizite ausgleiche, hält sie jedoch für möglich. Allerdings müsse für jeden Staat spezifisch analysiert und ausgehandelt werden, welche Gruppen diese politischen Sonderrechte erhalten sollen (Phillips 1995: 469f.).

Befürchtungen, wonach Quotierungen zu einer Überpolitisierung von Gruppendifferenzen (statt zu gesellschaftlicher Integration), zu der übermäßigen Berücksichtigung von Partialinteressen und zur Erosion fundamentaler Repräsentationsprinzipien führen könne, antizipiert Phillips. Solche negativen Konsequenzen ihres „fairen Repräsentationsmodells“ will sie durch die Betonung der ideen- und nicht gruppengeleiteten Entscheidungsfindung ausschließen. Nur weil sie gruppenspezifisch ausgewählt wurden, könnten und müssten die Repräsentanten laut Phillips keine homogenen oder statischen Gruppeninteressen vertreten (Phillips 1995: 167). Frauen müssten also bei Abstimmungen nicht zwingend die Interessen der Mehrheit der Frauen vertreten – ihre Anwesenheit allein genüge schon zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit.

Die quotierte Repräsentation ohne gruppenspezifische Mandate ist für Phillips also der Schlüssel zu einer gerechteren Gesellschaft ohne das Manko ungleicher Einflussmöglichkeiten einzelner Bevölkerungsgruppen. Ihre implizite These, wonach die mangelnde Artikulation verschiedener Interessen und Lebensperspektiven das wesentliche Gerechtigkeitsproblem in modernen Demokratien ist und die Überzeugung, dass dieses durch bloße Präsenz verschiedener gesellschaftlicher Gruppen in den politischen Entscheidungsgremien gelöst werden könne, ist jedoch umstritten. Viele Feministinnen teilen zwar Phillips Repräsentationskritik, bemängeln sie aber als zu zaghaft und fordern eine stärkere Abkehr von liberalen Repräsentationsmodellen und dem Ideal der universalen Gleichheit (vgl. Holland-Cunz 1998: 98). Sie halten demokratietheoretische Überlegungen wie diejenige von Iris Marion Young für zielführender, die eine weit reichende Umorganisation der politischen Öffentlichkeit und eine Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten in modernen Demokratien vorsehen.

Ungleich­heit durch Unter­drü­ckung – die diffe­renz­the­o­re­ti­sche Position

Auch Iris Marion Young fordert Sonderrechte für diskriminierte Gruppen: „[…] where differences in capacities, culture, values and behavioral styles exist among groups, strict adherence to a principle of equal treatment tends to perpetuate oppression or disadvantage. The inclusion and participation of everyone in social and political institutions therefore sometimes requires the articulation of special rights that attend to group differences in order to undermine oppression and disadvantage“ (Young 1989: 251). Allerdings strebt sie nicht in erster Linie Quoten in repräsentativen Organen, sondern eine umfassende Gleichheit des Zugangs zu der politischen Öffentlichkeit an, da dieser besonders stark durch die unterschiedliche Präsenz und Anerkennung der formal gleichberechtigten Gesellschaftsmitglieder verzerrt sei.

Young schließt damit an die Öffentlichkeitskritik von Carole Pateman (1988; 1989) an, die anhand einer ideengeschichtlichen Analyse des Kontraktualismus die in den Gesellschaftsverträgen vorgesehene Trennung zwischen der öffentlichen und der privaten Sphäre als zentrale Ursache für die bis in moderne Gesellschaften fortwirkende Diskriminierung von Frauen identitifiziert. „The dichotomy between the private and the public is central to almost two centuries of feminist writing and political struggle; it is, ultimately, what the feminist movement is about“ (Pateman 1989: 118). Durch den politischen Nichteingriff in den privaten Raum werde das Andauern der Unterdrückung der Frauen ermöglicht und zugleich durch die geschlechtsneutrale Beschreibung der öffentlichen Strukturen, die traditionell männlich dominiert sind, verschleiert.

In „Justice and the Politics of Difference“ (1990) präzisiert Young diese Analyse der subtilen Unterdrückungsmechanismen, die das Fortbestehen von Ungleichheit zwischen den Mitgliedern verschiedener sozialer Gruppen trotz ihrer rechtlichen Gleichstellung ermöglichen. Sie unterscheidet dabei zwischen „five faces of oppression“, unter denen vor allem viele Frauen gleich in mehrfacher Hinsicht zu leiden hätten (Young 1990: 48ff.): ökonomische Ausbeutung, die Ausgrenzung einzelner Menschen oder Gruppen aus dem gesellschaftlichen Leben, Machtlosigkeit, kulturimperalistische Praktiken und willkürliche Gewalt. Formalisierte Unparteilichkeit (in der Terminologie Marshalls: die ausschließliche Beachtung des rechtlichen Aspekts der Gleichheit) könne angesichts der häufig subtil wirkenden Unterdrückungsmechanismen nicht zu einer gerechten Gesellschaft führen, da dann die Werte und Interessen der zunächst privilegierten Gruppen als Standards gesetzt würden, deren Ansprüche aus kulturellen, geschlechtlichen, ökonomischen oder sozialen Gründen nicht alle Bürger und Gruppen erfüllen können. Die Gleichbehandlung aller Gesellschaftsmitglieder führe somit zu einer Verfestigung bestehender Ungleichheiten. An die Stelle des bislang in der politischen Theorie dominanten „ideal of assimiliation“ müsse deshalb das „ideal of diversity“ (Young 1990: 158) treten, wonach Gruppendifferenzen im politischen Prozess anerkannt und in diesen eingespeist werden.

Um das „Ideal der Vielfalt“ umsetzen zu können, will Young die Vertretung einzelner Bevölkerungsgruppen und ihrer Interessen verbessern. Dabei strebt sie keine proportionale Repräsentation an, sondern will über eine partizipationsorientiertere Gestaltung des demokratischen Systems, z. B. durch die Einführung von Nachbarschaftsversammlungen wie auch Benjamin Barber (1984) sie fordert, die Perspektiven bislang unterdrückter Gruppen stärker in den öffentlichen Prozess einspeisen: „This principle of group representation, finally does not necessarily imply proportional representation […]. With the principle I argue for here, however, I am concerned with the representation of group experience, perspectives, interests. Proportional representation of group members may sometimes be too little or too much to accomplish that aim.“ (Young 1990: 187)

Zur Realisierung einer angemessenen „Gruppenrepräsentationen“ fordert sie eine Reihe von Maßnahmen: So sollen die Mitglieder der unterdrückten Gruppen, u. a. durch öffentliche Gelder, darin unterstützt werden, sich selbst politisch zu organisieren. Sie sollen in demokratischen Foren zusammentreffen, strittige Fragen diskutieren, Stellungnahmen formulieren und sie in Nachbarschaftsversammlungen vorstellen. Zudem sollen benachteiligte Gruppen Vetomacht in Hinblick auf politische Maßnahmen erhalten, die sie direkt betreffen. Beispielsweise könnte demnach keine Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch im Parlament verabschiedet werden, der die weiblichen Mitglieder nicht zugestimmt haben (Young 1990: 184).

Young fokussiert in ihren theoretischen Analysen also auf die sozialen und politischen Gleichheitsaspekte – wobei sie zwischen diesen meist nicht explizit unterscheidet. Eine inklusive politische Öffentlichkeit, die durch konventionelle und unkonventionelle Partizipationsformen gebildet wird, ist in ihrem Werk eine notwendige Bedingung für eine gerechte Gesellschaft (vgl. Young 2001). Zu Wort kommen in dieser Öffentlichkeit
– und das ist in Bezug auf die Frage nach dem Bezugspunkt politischer Gleichheit bedeutungsvoll – vor allem die Äußerungen identitärer Gruppen. Die Gruppe tritt also bei Young partiell an jene Stellen, an denen in anderen Theorien die Rede vom Individuum ist. Diese Ersetzung bildet für die Autorin eine Brücke, mit deren Hilfe das Dilemma zwischen dem Plädoyer für die Anerkennung von Differenz bei gleichzeitiger Ablehnung ungleicher Machtverhältnisse zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft in Bezug auf ihren politischen Einfluss überwunden werden soll. So sind Gruppen bei Young als identitäre Gemeinschaften und nicht als Interessensverbände definiert. Durch ihren Zusammenschluss und das gemeinsame Handeln in der Öffentlichkeit können differierende Identitäten gleichberechtigt in den öffentlichen Diskurs eingehen, ohne dass befürchtet werden müsse (hier wird Youngs Anbindung an die deliberative Demokratietheorie deutlich), dass die Anerkennung der Gruppendifferenzen ungerechte Ergebnisverzerrungen zur Folge hat.

Gerechte Gleichheit ist für Young also im Gegensatz zu Phillips nicht das Resultat einer proportionalen Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen, sondern die gelungene Verbindung rechtlicher und sozialer Aspekte vor dem Hintergrund des Maßstabes des gleichen politischen Einflusses aller Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinschaft. Von einem „einfachen“ demokratischen Gleichheitsverständnis unterscheidet sich diese Perspektive durch eine weit reichende, institutionalisierte Stärkung gesellschaftlicher Gruppen, deren Stimmen bislang zu wenig Gewicht im politischen Diskussions- und Entscheidungsprozess haben – vor allem jenseits der gewählten Entscheidungsgremien.

Fazit

Vor dem Hintergrund der grundlegenden Kritik an den ungleichen Einflussmöglichkeiten vieler Bürgerinnen und Bürger in modernen Demokratien ist es aus feministischer Perspektive kaum verwunderlich, dass immer mehr Menschen auf die Nutzung anspruchsvoller politischer Partizipationsformen verzichten und vielleicht sogar als politikverdrossen gelten mögen, während zugleich die Wertschätzung der Demokratie als Staatsidee auf hohem Niveau verbleibt (vgl. Westle/Niedermayer 2009; Huth 2004). Die Partizipationsenthaltung und andere „Erosionsprozesse“ der Demokratie, die seit einigen Jahren in der Politikwissenschaft intensiv diskutiert werden, können demnach im Wortsinne als Verschleiß-oder Abtragungsprozesse verstanden werden – die zu Tage bringen, mit welchen Defiziten die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Bezug auf die faktische Gleichstellung aller Bürger im politischen Entscheidungsprozess behaftet sind.

Beim Nachdenken über mögliche Ursachen der demokratischen Krise und Reaktionsmöglichkeiten darauf ist feministische Literatur angesichts der darin enthaltenen Reflexionen über (Un-)Gleichheit als normative und praktische Erfolgsbedingung demokratischen Handelns also durchaus lesenswert. So scheint sich das Problem der mangelnden Gleichheit wie ein roter Faden beispielsweise durch alle vier Arten von „Bedrohungen der Demokratie“ zu ziehen, die Brodocz, Llanque und Schaal (2008) in ihrem gleichnamigen Sammelband identifizieren. Die darin diskutieren Risiken der „Entgrenzungen“, „Leistungsgrenzen“, „funktionalen Selbstblockaden“ und „normativen Selbstüberforderungen“ der Demokratie stehen allesamt in enger Verbindung zu Fragen der gleichen Anerkennung, gleichen Einflussnahme und gleichen Beteiligung aller Adressatinnen und -adressaten politischer Entscheidungen (vgl. Brodocz et al. 2008a: 16ff.). Die Arbeiten sowohl gleichheits- als auch differenztheoretisch argumentierender Autorinnen, die in diesem Aufsatz beispielhaft anhand der zentralen Aussagen von Anne Phillips und Iris Marion Young dargestellt wurden, können auch angesichts der scheinbar „überlebenswichtigen Weltprobleme“ wichtige Denkanstöße geben (Holland-Cunz 1999: 121). Feministische Theoriebildung ist also entgegen aller anders lautenden Rufe am Beginn des 21. Jahrhunderts ganz und gar nicht marginal geworden.

Dass die Diskussion über Gleichheit und Differenz dabei noch längst nicht zu einem befriedigenden Ende gekommen ist, zeigt die vielfältige Kritik, die an den Arbeiten von Phillips und Young geübt wurde (vgl. Ritzi 2010). So warnt beispielsweise Nancy Fraser eindringlich vor einer „Pattsituation“ bzw. „theoretischen Sackgasse“, die aus einer übertriebenen Polarisierung von Gleichheit und Differenz zu resultieren drohe (Fraser 2001: 73ff.). Statt einseitig für oder gegen die Anerkennung der Verschiedenheit von Lebensentwürfen, Einstellungen und kulturellen Werten in modernen Gesellschaften zu plädieren, verweist sie auf die Bedeutung einer kritischen Theorie der Anerkennung, die die Differenz auf den Prüfstand ihrer Konsequenzen für die soziale Gerechtigkeit stellt und somit an Fragen der ökonomischen (Un-)Gleichheit rückbindet.

Unabhängig davon, wie man Frasers Theorie der Anerkennung oder die Arbeiten von Young, Pateman und Phillips im Einzelnen bewertet, spielt der Begriff der Gleichheit eine Schlüsselrolle in der Analyse der „Erosionstendenzen“ moderner Demokratien – und er sollte dies auch in Bezug auf Gegenmaßnahmen zu diesen Entwicklungsprozessen tun.

[1] Im Kontext feministischer Arbeiten entspricht die Terminologie „einfache“ bzw. „komplexe“ Gleichheit nicht den gleichlautenden Begrifflichkeiten von Michael Walzer (1983). Stattdessen wird die politische Nichtbeachtung von Differenz als (zu) „einfache Gleichheit“ kritisiert und entsprechende Gegenkonzepte werden z. T. als Vorstellungen „komplexer“ bzw. „differenzierter“ Gleichheit bezeichnet.

[2] So spricht beispielsweise die Tatsache, dass Frauen trotz der formalen Gleichstellung noch immer in schwächerem Umfang politisch partizipieren als Männer dafür, dass sie sich trotz der hohen Wertschätzung der Demokratie weniger mit den demokratischen Institutionen identifizieren können als es bei Männern der Fall ist (vgl. für empirische Daten zur Partizipationsintensität den ersten Gender-Datenreport des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Corneließen 2005)).

[3] Die Pluralisierung politischer Einstellungen steht naturgemäß in einem engen Verhältnis zu den demokratischen Entscheidungsprozessen und führt folglich nicht zur Entpolitisierung der betroffenen Bürgerinnen und Bürger.

[4] Die „Entdeckung“ des Feminismus wird häufig auf das späte 18. Jahrhundert datiert, als beispielsweise Olympe de Gouges eine „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ (1791) publizierte. Nach der Durchsetzung der Rechtsgleichheit von Frauen und Männern wurde nach dem Beginn des 20. Jahrhunderts viele Jahre lang kaum feministische Theoriebildung betrieben. Aus diesem Grund wird die feministische Bewegung, die in den 1960er Jahren entstand, häufig als „Neue Frauenbewegung“ bezeichnet (für einen metatheoretischen Überblick vgl. Holland-Cunz 1998: 19 ff.).

Literatur

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Corneließen, W. (Hrsg.) 2005: Gender-Datenreport. 1. Datenreport zur Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bundesrepublik Deutschland im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Im Internet verfügbar unter http://www.bmfsfj.de/Publikationen/genderreport/root.html, zugegriffen am 12. April 2010

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