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Die Verfassung der Demokratie

Das Spannungsverhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Souveränität

aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 82-91

I. Einleitung

Dass das (vermeintliche) Spannungsverhältnis von Demokratie und Rechtsstaat kein rein akademisches ist, ließ sich kürzlich auf recht anschauliche Art und Weise in Brüssel beobachten. Während des EU-Gipfels Ende März zur Rettung des finanziell angeschlagenen EU-Mitglieds Griechenland ließ Bundeskanzlerin Angela Merkel verlauten, dass sich Deutschland im Rahmen des Rettungsversuchs für Griechenland aus Angst vor Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht strengstens an die europäischen Verträge zu halten gedenke. Diese, so die Kanzlerin, schlössen eine gemeinschaftliche Nothilfe für Griechenland definitiv aus. Wie die Süddeutsche Zeitung dokumentierte, schlug daraufhin „der Regierungschef eines südeuropäischen Landes mit besonders hohen Schulden vor, doch mal darüber nachzudenken, ob sie nicht die Richter am Verfassungsgericht austauschen könne. Beobachter berichten“, so die SZ weiter, „den Deutschen habe es doch tatsächlich für einige Augenblicke die Sprache verschlagen“ (Süddeutsche Zeitung vom 27./28. März, S. 2).

Die Vorstellung, man könne und solle unliebsame Richterinnen und Richter austauschen, um den politischen Willen durchzusetzen, ist keineswegs so absurd, wie er heute und gerade aus bundesdeutscher Sicht zunächst anmutet. Noch in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts drohte der damalige US-Präsident Franklin D. Roosevelt damit, die Zusammensetzung der Richterschaft am US-Supreme Court zu verändern, wenn dieser nicht den Widerstand gegen seine New-Deal-Reformgesetzgebung aufgebe. Der so genannte „Court-Packing Plan“ sah vor, die Anzahl der Richter von 9 auf bis zu 15 zu erhöhen, um so eine Mehrheit im widerspenstigen Obersten Gericht für den New Deal herzustellen. Dass es am Ende nicht dazu kam, ist nur einer rechtzeitigen Änderung der Rechtsprechung des Supreme Court zu verdanken, die sich noch heute im geflügelten Wort vom „switch in time that saved nine“ widerspiegelt.

Auch in der Bundesrepublik erinnert man sich an manches Lamento von Regierungsvertretern, die nach verlorenen Prozessen in Karlsruhe zumindest den heimlichen Wunsch erkennen ließen, die Zusammensetzung der Karlsruher Richterbank nach ihren Wünschen beeinflussen zu können. Und auch der gerade demissionierte Horst Köhler ließ es sich zur Amteinführung des neuen Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts Mitte Mai 2010 nicht nehmen, das Gericht eindringlich daran zu erinnern, dass es nicht als „Ersatz für Politik“ gedacht sei und dass es eine „Anomalie demokratischer Politik“ darstelle, wenn das Gericht „rechtspolitisches Agenda-Setting“ betreibe (Köhler 2010: 4).

Diese eher anekdotischen Evidenzen verweisen auf ein grundsätzliches demokratietheoretisches Problem, das heute noch so aktuell ist wie vor mehr als 200 Jahren, als der US-Supreme Court zum ersten Mal ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte: die so genannte „counter majoritarian difficulty“ (vgl. klassisch Bickel 1986) – das Problem also, dass in modernen Demokratien demokratisch nur schwach legitimierte Verfassungsrichter den Willen der – meist direkt legitimierten – politischen Mehrheit konterkarieren können. Während die Anhänger einer starken Rechtsstaatlichkeit argumentieren, dass ohne den konstruktiven Beitrag von Verfassungsgerichten die Demokratie deutlich schlechter funktionieren würde, als sie es derzeit tut, verweisen die Gegner einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit auf die angesprochene grundlegende demokratietheoretische (und legitimatorische) Problematik einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit. Demokratische Verfahren verlören, so diese Kritiker, mehr und mehr ihren Wert, wenn wichtige Entscheidungen nicht mehr von den gewählten demokratischen Repräsentanten, sondern von nur indirekt gewählten Richterinnen und Richtern getroffen würden. Aus einem ‚Regieren mit Richtern‘ (so der Buchtitel des Politikwissenschaftlers Alec Stone Sweet (Stone Sweet 2000)) sei mehr und mehr eine „Regierung der Richter“ geworden, der Einhalt zu gebieten sei.

Aber trifft diese Kritik tatsächlich zu? Ist es für Demokratien wirklich problematisch, wenn nur schwach legitimierte Richterinnen und Richter über die Inhalte der Politik mitbestimmen? Und unter welchen institutionellen und faktischen Gegebenheiten ist dies überhaupt der Fall? Diesen Fragen will der vorliegende Beitrag in fünf Schritten nachgehen. Zunächst soll kurz danach gefragt werden, inwiefern überhaupt ein Spannungsverhältnis zwischen Rechtsstaat und Demokratie bzw. zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Mehrheitswillen vorliegt. In einem zweiten Schritt wird dann genauer die Legitimationsfrage von Verfassungsgerichten in modernen Demokratien untersucht, bevor drittens etwas genauer betrachtet wird, was Verfassungsgerichte zum Funktionieren von Demokratien beitragen. Nach der Bestimmung eines optimalen Verhältnisses zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und politischem Prozess wird schließlich fünftens ein Blick auf die stattfindenden Transnationalisierungsprozesse geworfen und danach gefragt, welcher Zukunft sich die (nationale) Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber sieht.

II. Rechtsstaat und Demokratie – ein Spannungs­ver­hält­nis?

Ob man zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ein Spannungsverhältnis erkennt oder nicht, hängt in erster Linie davon ab, zu welchem Demokratieverständnis man neigt. Versteht man unter „Demokratie“ (lediglich) die Herstellung allgemeinverbindlicher Entscheidungen durch Mehrheitsentscheid, so ist in diesem Modell naturgemäß wenig Platz für starke rechtsstaatliche Eingriffe und ein aktives Agieren rechtsstaatlicher Akteure. Verfassungsgerichte haben in diesem Modell höchstens die Aufgabe, das Funktionieren des demokratischen (Mehrheits-)Verfahrens selbst zu überwachen und zu gewährleisten. Die Annullierung von Gesetzen, die auf formal korrektem Wege zustande gekommen sind, erscheint aus dieser Sicht als „undemokratisch“. Begreift man Demokratie hingegen als ein System, das den Prozess partizipativer Willensbildung im Rahmen allgemeiner Grundrechte gewährleistet, die für jeden Bürger in gleicher Weise gelten, löst sich der vermeintliche Gegensatz von Rechtsstaat und Demokratie – zumindest auf der konzeptionellen Ebene – weitestgehend auf. Die Verfassung und ihre Normen benennen idealtypisch jene Rechte, die sich die Bürger eines demokratischen Gemeinwesens gegenseitig zuerkannt haben und die auch durch demokratischen Mehrheitsbeschluss nicht ohne Weiteres eingeschränkt werden dürfen. Die Entscheidung darüber, ob ein Mehrheitsbeschluss diese gegenseitig eingeräumten Rechte verletzt, kann schon rein logisch nicht dieser gleichen Mehrheit überlassen werden – sie erfordert vielmehr eine externe Instanz, einen „Hüter der Verfassung“, der unabhängig von politischen Mehrheitsverhältnissen überprüfen kann, ob eine Rechtsverletzung und ein Verstoß gegen die Verfassung vorliegt oder nicht.

Diese Aufgabe ist in liberalen Demokratien in der Regel Verfassungsgerichten übertragen. Hierin liegt die besondere Logik liberaldemokratischer Institutionen: Der Schutz der Rechte und Verfahren, die die liberale Demokratie definieren, wird nicht den politischen Instanzen selbst übertragen, sondern einem externen Schiedsrichter, der selbst nicht Teil des politischen Spiels ist. Verfassungsgerichte sind damit wichtige demokratische Akteure: Sie kontrollieren von einer Metaposition aus das Funktionieren der demokratischen Institutionen und bestimmen im Konfliktfall über ihre Geltung. Fragen des Wahlrechts, der Geltung politischer Freiheits- und bürgerlicher Abwehrrechte und die Bestimmung der Reichweite der Grundrechte – um nur einige Beispiele zu nennen – sind somit legitime Gegenstände verfassungsgerichtlicher Überprüfung und Supervision.

Dies bedeutet nicht, dass das Agieren von Verfassungsgerichten in der Praxis konfliktfrei oder unumstritten wäre; es zeigt aber, dass die Vorstellung, Rechtsstaatlichkeit im Allgemeinen und Verfassungsgerichtsbarkeit im Besonderen seien ein Fremdkörper in einer Demokratie, zurückgewiesen werden kann.

Das theoretische Argument wird durch einen Blick in die Empirie gestützt. Es gibt zu Beginn des 21. Jahrhunderts praktisch kein politisches System, das wir als Demokratie bezeichnen würden, das nicht zugleich eine rechtsstaatliche Demokratie ist. Auch die Verfassungsgerichtsbarkeit hat einen „Siegeszug“ angetreten, der seinesgleichen sucht: In nahezu allen zeitgenössischen Demokratien existieren entweder Oberste Gerichte, die neben ihrer normalen Tätigkeit auch mit der Auslegung der Verfassung und der Beilegung verfassungsrechtlicher Streitigkeiten beauftragt sind („amerikanisches Modell“), oder aber spezialisierte Verfassungsgerichte, die ausschließlich über verfassungsrechtliche Fragen und Verfahren entscheiden („europäisches Modell“). Selbst Großbritannien, die Mutter der Parlamentssouveränität, hat im Jahr 2009 ein Oberstes Gericht institutionalisiert, das zwar nach wie vor keine Normenkontrollkompetenz besitzt, aber doch faktisch Rechtsakte an den (ungeschriebenen) Grundsätzen der Verfassung überprüfen kann (wie dies bislang schon die Lordrichter des House of Lords getan haben). Moderne demokratische Systeme weisen also faktisch immer beide Komponenten auf: die partizipative und die rechtsstaatliche.

III. Die Legiti­ma­ti­ons­frage

Gleichwohl ist nicht von der Hand zu weisen, dass Verfassungsgerichte über eine nur geringe Input-Legitimation verfügen. Ihre Richter werden – anders als Abgeordnete oder Präsidenten – nicht direkt von den Bürgern gewählt, sondern mittels mitunter für den Bürger undurchsichtiger, indirekter Verfahren. Nicht ohne Grund wird auch in der Bundesrepublik in regelmäßigen Abständen darüber diskutiert, wie die Wahl der Bundesverfassungsrichter „demokratischer“, also vor allem transparenter und öffentlicher gestaltet werden könnte. So würde es sicher die Input-Legitimation des höchsten deutschen Gerichts erhöhen, wenn die Wahl der vom Bundestag zu bestellenden Richter nicht mehr durch den Richterwahlausschuss, sondern durch das Plenum des Bundestages erfolgen würde – wie dies im Grundgesetz eigentlich auch vorgesehen ist. Dies scheint letztlich aber eine eher marginale Frage zu sein. Viel wichtiger für die Input-Legitimation des Gerichts ist es, dass seine Richter mit 2/3-Mehrheit gewählt werden müssen. Dieses Erfordernis sorgt dafür, dass sich die beiden großen Volksparteien CDU/CSU und SPD auf geeignete Kandidaten einigen müssen – und verhindert so Parteigänger der einen oder anderen Seite im Gericht.

Über die Diskussion des Wahlverfahrens wird häufig vergessen, dass sich Legitimation nicht nur über entsprechende Input-, sondern auch über Outputleistungen generieren kann (siehe zu dieser Unterscheidung klassisch Easton 1965). Gerade dem Bundesverfassungsgericht gelang es in den nun fast 60 Jahren seines Bestehens, sich über die Akzeptanz seiner Urteile in der Bevölkerung allmählich eine hohe institutionelle Legitimation zu verschaffen, die auch bei einzelnen strittigen Urteilen nicht prinzipiell in Frage gestellt wird. Die Zustimmungs- und Vertrauensraten des Bundesverfassungsgerichts sind heute sogar um ein Vielfaches höher als die der politischen Akteure Bundesregierung, Bundestag oder jene der politischen Parteien. Lediglich die Bundespräsidenten konnten in der Vergangenheit mit ähnlich hohen Vertrauenswerten aufwarten (vgl. Abbildung 1).

Für das Bundesverfassungsgericht ist diese hohe empirische Legitimation eine seiner wichtigsten Handlungsressourcen. Verfassungsgerichte sind auf die Durchsetzung ihrer Urteile durch andere – politische – Akteure angewiesen. Diese Durchsetzung gelingt ihnen umso besser, je höher die Zustimmungsraten zu ihrer Arbeit in der Bevölkerung sind. Rationale politische Akteure können es sich unter diesen Umständen nicht ohne Weiteres leisten, Urteile des Gerichts zu ignorieren oder zu unterlaufen.

Betrachtet man die Veränderung der Zustimmungsraten über die Zeit, könnte man zu dem Schluss gelangen, dass die wachsenden Zustimmungswerte für das Bundesverfassungsgericht auf Kosten der Zustimmung für die politischen Akteure gingen. In den 1970er und 1980er Jahren lagen die Zustimmungsraten für das Bundesverfassungsgericht, den Bundestag und die Bundesregierung nahezu gleichauf (vgl. Kneip 2009: 201); erst Mitte der 1980er Jahre stieg die Zustimmung für das Gericht, während die für Regierung und Parlament zu sinken begann. Verringerte sich also möglicherweise das Verrauen in die Politik gerade durch das erfolgreiche Agieren des Bundesverfassungsgerichts?

XXXXX Grafik
Abbildung 1: Vertrauen in das Bundesverfassungsgericht und politische Akteure (2006)

Eine solche monokausale Schlussfolgerung griffe zweifellos zu kurz. Verfassungsgerichtliches Eingreifen per se kann die Akzeptanz legislativer oder exekutiver Entscheidungen weder erhöhen noch verringern. Gleichwohl könnte ein häufigeres Annullieren von Gesetzen durch das Bundesverfassungsgericht dazu geführt haben, dass sich in der Öffentlichkeit der Eindruck verfestigte, die politischen Akteure machten ihre Arbeit schlecht – wodurch sich mittelbar auch deren empirische Legitimation hätte verringern können. Allerdings zeigt sich empirisch, dass das Bundesverfassungsgericht im Zeitverlauf keineswegs häufiger in „die Politik“ eingriff und Normen annullierte. Betrachtet man die Annullierungsquote (also den Anteil von Annullierungen an allen Verfahren), lässt sich kein signifikanter Anstieg über die Zeit feststellen. Allenfalls ist denkbar, dass bestimmte „spektakuläre“ Verfahren (wie zuletzt jene um die Hartz-IV Berechnung, die Online-Durchsuchung oder das Luftsicherheitsgesetz) von den Bürgern stärker wahrgenommen werden und sich so als „Niederlagen“ der Politik in der öffentlichen Wahrnehmung festsetzen.

Allerdings: Der Streit um die richtige Verfassungsauslegung ist keine Frage von Sieg oder Niederlage. Demokratietheoretisch ist es sogar zu begrüßen, wenn Parlament und Regierung auf der einen und Gericht auf der anderen Seite als „Erst- und Zweitinterpret“ (Paul Kirchhof) der Verfassung gemeinsam um die richtige Auslegung von Verfassungsnormen ringen. Betrachtet man Demokratie – wie oben vorgeschlagen – als rechtsstaatliche Demokratie, ist diese Art der Arbeitsteilung nicht nur unproblematisch, sondern sogar gewollt. Das Bundesverfassungsgericht tritt schließlich nur dann auf den Plan, wenn es von anderen Akteuren eingeschaltet wird. Passiert das, zeigt dies nur, dass die mit demokratischer Mehrheit getroffene Entscheidung des Parlaments oder der Regierung verfassungsrechtlich umstritten ist. Entscheidet das Gericht tatsächlich gegen eine getroffene Regelung, tut es dies nicht gegen einen demokratischen Willen, sondern zu Gunsten der von allen Bürgern idealtypisch geteilten Grundlagen der Verfassung.

IV. Die Leistung der Verfas­sungs­ge­richte für die Demokratie

Diese demokratietheoretisch positiv gewendete Sichtweise löst aber noch nicht das Problem, dass mit ihr keine Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit benannt sind. Würden auch gewöhnliche Policyfragen durch ein Verfassungsgericht entschieden statt durch ein hierzu legitimiertes Parlament, würde die Demokratie zweifellos eher geschwächt als gestärkt; die Legitimationskette zwischen den Interessen und Präferenzen der Bürger und den Entscheidungen selbst würde brüchig. „Weniger Politik“ führte dann zugleich zu „weniger Demokratie“. Meist entzündet sich die Kritik am Agieren von Verfassungsgerichten gerade an Fällen, in denen eine Grenzüberschreitung von Seiten des Gerichts vermutet wird. Die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch, zur Vermögensteuer und zum Kruzifixstreit mögen beispielhaft für solche Verfahren stehen, in denen dem Gericht – zu Recht oder zu Unrecht – vorgeworfen wurde, „zu weit“ in die Politik hineinregiert und sich zum „Ersatzparlament“ oder zum „Gegenspieler der Politik“ gemacht zu haben. Wie aber soll man entscheiden, wie weit „zu weit“ ist? Wann muss das Gericht der Politik in den Arm fallen – und wann darf es dies unter keinen Umständen tun?

Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, liegt in der demokratietheoretisch begründeten Unterscheidung zwischen einem funktionalen und einem dysfunktionalen Agieren von Verfassungsgerichten. Vereinfacht kann man argumentieren, dass Verfassungsgerichte dann demokratiefunktional agieren, wenn sie die Funktionsfähigkeit der Kernregime einer Demokratie sicherstellen, also vor allem das Funktionieren eines demokratischen Wahlrechts, der politischen Freiheits- und der bürgerlichen Abwehrrechte. Darüber hinaus gehört zu ihrer Aufgabe, die Funktionsfähigkeit der horizontalen (und gegebenenfalls auch der vertikalen) Gewaltenkontrolle sicherzustellen. Demokratietheoretisch dysfunktional agieren sie dann, wenn sie jenseits der Sicherung dieser Kernregime in die legitime Gesetzgebungstätigkeit eines Parlamentes eingreifen.

Die Qualität eines demokratischen Systems wird geschwächt oder verringert, wenn Verfassungsgerichte ihre Kompetenzen auf Kosten der Legislative und der Exekutive überdehnen. Ebenso nachteilig für die Qualität einer Demokratie ist der umgekehrte Fall, wenn ein Gericht die ihm demokratietheoretisch zugewiesenen Funktionen nicht erfüllt und Beschädigungen der Kerninstitutionen durch andere politische Akteure hinnimmt, ohne dagegen zu intervenieren. Dieser Gedanke ist alles andere als trivial: Er verdeutlicht, dass Verfassungsgerichte sowohl durch ihr Agieren als auch durch ihr Nichtagieren demokratiefunktional oder – dysfunktional handeln können. Anders gesagt: Verfassungsgerichte handeln nicht schon dann „demokratisch“, wenn sie sich weitgehend „aus der Politik heraushalten“. Im Gegenteil: Eine Nichtintervention bei angeblich „politischen Fragen“ kann ebenso demokratiedysfunktional wirken wie eine Intervention bei tatsächlich primär „politischen Fragen“.

Von dieser Warte aus betrachtet sollte richterliche Zurückhaltung umso stärker verlangt werden können, je weiter sich der zu entscheidende Rechtsstreit von den Kerninstitutionen der Demokratie entfernt. Insbesondere die Ausgestaltung der sozioökonomischen Grundlagen einer Gesellschaft muss dem demokratischen Prozess, den dort agierenden Akteuren und letztlich der freien Meinungs- und Willensbildung des demokratischen demos überlassen bleiben – soweit die Verfassung hierzu keine konkreten Vorgaben postuliert.

V. Gibt es ein optimales Verhältnis zwischen Verfas­sungs­ge­richts­bar­keit und Politik?

Diese allgemeinen demokratietheoretischen Überlegungen erlauben noch keine Antwort auf die Frage, welche institutionellen Regelungen hilfreich sein können, um das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik positiv zu gestalten. Hier sind drei Faktoren zu nennen: eine hinreichende institutionelle Unabhängigkeit des Gerichts, seine institutionelle Stärke sowie eine demokratiefunktionale Handlungsorientierung, wie sie eben beschrieben wurde.

Institutionelle Unabhängigkeit meint vor allem eine personelle Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter von politischer Einflussnahme. Insbesondere die Wahl der Verfassungsrichter ist hier von besonderer Bedeutung. Die Aussicht auf politisch und rechtsdogmatisch „neutralere“ Richter nimmt mit steigendem Mehrheitserfordernis für die Wahl der Richter zu: Sieht ein Wahlverfahren die Notwendigkeit von Supermajoritäten zur Berufung eines Richters vor (müssen also in der Regel auch oppositionelle Akteure an der Auswahl der Richter beteiligt werden), ist damit eine höhere Wahrscheinlichkeit verknüpft, dass nicht Parteigänger der jeweils regierenden Mehrheiten ins Richteramt gelangen, sondern politisch und rechtsdogmatisch gemäßigtere und in diesem Sinne neutralere Kandidaten. Das kooperative Auswahlverfahren der Richterinnen und Richter für das Bundesverfassungsgericht, das in der Vergangenheit in dieser Hinsicht überaus erfolgreich war, kann als Beleg für diese These gesehen werden.

Die größte Unabhängigkeit für die Zeit nach der Bestellung als Richter versprechen solche Institutionenordnungen, die die Amtszeiten der Richter auf eine festgelegte Zeitdauer ohne Wiederwahlmöglichkeit festschreiben. Hier besteht für Richter in der Regel kein Anreiz, Entscheidungen an den Präferenzen und Interessen politischer Mehrheiten auszurichten, die andernfalls für eine Wiederwahl vielleicht gebraucht würden.

Für die institutionelle Stärke eines Verfassungsgerichts ist entscheidend, dass es mit ausreichenden Kompetenzen ausgestattet und ein breiter Zugang zum Gericht institutionalisiert ist, dass also viele verschiedene Akteure – Verfassungsorgane, Parteien, gesellschaftliche Gruppen, Bürger – Zugang zum Gericht erhalten. Während die formalen Kompetenzen Auskunft über die potenzielle Stärke von Gerichten geben, entscheidet die Offenheit des Gerichtszugangs darüber, ob und wie häufig diese Kompetenzen überhaupt ausgespielt werden können. Ein mit starken Kompetenzen ausgestattetes Gericht, das von niemandem angerufen werden kann, wäre ebenso wirkungslos wie ein häufig angerufenes Gericht, das aber keine Kompetenzen auszuspielen hat. Demokratietheoretisch ist im Licht der hier diskutierten Fragen zu begrüßen, wenn möglichst vielen Kollektivakteuren und Individuen der Zugang zur Normenkontrolle (oder zur Überprüfung exekutiver Akte) ermöglicht wird; empirisch ist aber nicht zu vernachlässigen, dass die Öffnung des Klagerechts mitunter zu einer unter Effizienzgesichtspunkten möglicherweise nachteiligen Zunahme von Vetopunkten und -akteuren im politischen System führt.

Schließlich ist für ein gedeihliches Miteinander zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik eine demokratiefunktionale Handlungsorientierung eines Verfassungsgerichts vonnöten. Ein mit starken Kompetenzen und großer Unabhängigkeit ausgestattetes Gericht, das die Politikformulierung vollends von der Legislative auf sich selbst verlagerte, würde zweifelsohne die demokratische Qualität des entsprechenden politischen Systems verringern, statt sie zu verbessern. Nur dann, wenn ein Verfassungsgericht die demokratieimmanenten Grenzen seiner Funktionsausübung beachtet, wird es in positiver Weise auf demokratisches Regieren einwirken.

Die Verlagerung politischer Entscheidungen von gewählten politischen Akteuren auf demokratisch nur schwach legitimierte Gerichte führt also nur unter drei Bedingungen zu einer Stärkung der Demokratie: Die Gerichte müssen neutral und unabhängig von politischer Einflussnahme agieren können, über ausreichende Kompetenzen zur Sanktionierung von Verfassungsverstößen verfügen und diese zugewiesenen Kompetenzen in demokratiefunktionaler Art und Weise ausüben. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Entpolitisierung mancher Entscheidungen zu einer schleichenden Entdemokratisierung führt.

Empirisch lassen sich hinsichtlich des beschriebenen Verhältnisses zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Politik größere Varianzen erkennen. Schon im Rahmen der EU-27 lassen sich größere Unterschiede bezüglich der institutionellen Unabhängigkeit und Stärke der Verfassungsgerichte (bzw. Obersten Gerichte) der Mitgliedstaaten feststellen (vgl. hierzu Kneip 2009: 148 ff.). Gleiches gilt auch für den demokratiefunktionalen Urteilsoutput der Gerichte, wenngleich ausführliche Studien hierzu noch ausstehen. Cum grano salis wird man aber festhalten können, dass die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit nach 1945 nicht nur eine Erfolgsgeschichte für die Gerichte selbst, sondern auch für die jeweiligen nationalen Demokratien war. Weder die deutsche Demokratie nach 1945 noch die jungen Demokratien Mittel- und Osteuropas hätten sich nach 1990 ohne das positive Agieren der jeweiligen Verfassungsgerichte so schnell konsolidieren können, wie dies geschehen ist (siehe zu Mittel- und Osteuropa Sadurski 2002). Insofern stellt das 20. Jahrhundert nicht nur einen Triumph der Demokratie einerseits und des Rechtsstaats andererseits dar, sondern vor allem auch einen Triumph der institutionellen Verbindung beider, die sich in einer spezialisierten Verfassungsgerichtsbarkeit manifestiert.

VI. Ausblick: Entwertet die Trans­na­ti­o­na­li­sie­rung die (nationale) Verfas­sungs­ge­richts­bar­keit?

Fraglich ist allerdings, ob sich die Erfolgsgeschichte nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit(en) auch unter den Bedingungen zunehmender Transnationalisierungsprozesse fortschreiben lassen wird. Angesichts zunehmender Animositäten zwischen Gerichtsbarkeit und Politik in der Europapolitik und andauernder Rivalitäten zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof fragte DER SPIEGEL kürzlich gar, ob das Bundesverfassungsgericht Gefahr laufe, am Streit um Europa „zu scheitern“ (Der Spiegel 21/2010: 36 f.). Tatsächlich lässt sich heute schon beobachten, dass Teile des politischen Entscheidungsprozesses aus der nationalen Handlungsarena in inter- oder supranationale Arenen verlagert werden – und mit ihnen die Möglichkeit, Akteure auf diesen Gebieten national für ihre Entscheidungen politisch und/oder verfassungsrechtlich haftbar zu machen. Ob nationale Verfassungsgerichte unter diesen Umständen ihre machtvolle Stellung in Zukunft werden behaupten können, ist zumindest fraglich.

Zum anderen hat sich gerade im Mehrebenensystem der Europäischen Union längst ein hybrides Verfassungssystem entwickelt, in dem durch mehrere Akteure gleichzeitig mehr oder weniger offen Verfassungsrechtsprechung ausgeübt wird. Insbesondere der Europäische Gerichthof (EuGH) ist hier in Konkurrenz zum Bundesverfassungsgericht getreten und beansprucht – gestützt auf die europäischen Verträge, diese aber mitunter extensiv auslegend – Kompetenzen in Bereichen, die bislang der nationalen Gerichtsbarkeit vorbehalten waren. Es läge durchaus in der Logik einer sich immer enger verzahnenden Europäischen Union, mehr Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Gerichtsbarkeit zu verlagern, um die beschriebenen Verluste an Sanktionsmöglichkeiten supranational wieder einzuholen. Allerdings hat insbesondere der Europäische Gerichtshof bislang noch nicht bewiesen, dass er einen ähnlich dichten Grundrechtsschutz gewährleisten kann und will, wie dies die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit und insbesondere das Bundesverfassungsgericht über Jahrzehnte hinweg getan haben. Der EuGH hat seit den 1970er Jahren über die Postulierung der Suprematie und der Direktwirkung europäischen Rechts die Vertragspflichten der Mitgliedstaaten einseitig in subjektive – wirtschaftsliberale – Rechte von Unternehmen und Individuen umgedeutet, wie etwa Fritz Scharpf zu Recht kritisiert hat (Scharpf 2008: 21). Ob sich dies durch die nun in EU-Recht inkorporierte Grundrechtecharta ändern wird, ist heute noch nicht abzusehen. Immerhin besteht damit die Chance, dass sich die einseitige Bezugnahme des EuGH auf wirtschaftsliberale Grundfreiheiten zugunsten demokratischer und sozialer Grundrechte abschwächen wird. Solange ein umfassender Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene aber nicht gewährleistet ist, wäre eine weitere Verlagerung verfassungsgerichtlicher Kompetenzen der Qualität der nationalen Demokratien eher abträglich.

Problematisch wäre eine solche Verlagerung auch deshalb, weil die Legitimität und Akzeptanz verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung in der Bevölkerung nicht zuletzt davon abhängt, dass sie in einem einheitlichen öffentlichen (Diskurs-)Raum und in einer von den Bürgern geteilten politischen Kultur stattfindet. All dies ist in einem Europa der 27 zumindest von heute aus betrachtet nicht oder nur sehr rudimentär der Fall.

Allerdings ist noch nicht ausgemacht, ob sich die Entwicklung des Europäischen Rechtsraums unter allen Umständen zugunsten der europäischen Ebene fortsetzen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat sich bislang nicht materiell durch den EuGH binden lassen, sondern insbesondere mit seinen Entscheidungen zu „Solange I und II“, „Maastricht“ und „Lissabon“ auf die Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof reagiert und dieser tendenziell Einhalt geboten. Derzeit scheint relativ offen, inwieweit angebliche oder tatsächliche Harmonisierungs- und Sachzwänge, die von der EU-Ebene ausgehen, ihre Grenzen im nationalen Verfassungsrecht (und der entsprechenden Rechtsprechung) finden werden. Der besondere Änderungsdruck, dem nationale Verfassungen im Mehrebenensystem ausgesetzt sind, stellt, wie am Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts studiert werden kann, nicht sofort die Grundentscheidungen dieser Verfassungen zur Disposition, solange sich nationale Verfassungsgerichte weiter als Hüter dieser Ordnung begreifen. Die Erfolgsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit ist, so scheint es, noch lange nicht an ihrem Ende angelangt.

Literatur

Bickel, Alexander M. 1986: The Least Dangerous Branch: The Supreme Court at the Bar of American Politics. 2nd edition, New Haven, Yale University Press

Easton, David 1965: A Systems Analysis of Political Life, New York, Wiley

Kneip, Sascha 2009: Verfassungsgerichte als demokratische Akteure. Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Qualität der bundesdeutschen Demokratie, Baden-Baden, Nomos

Köhler, Horst 2010: Das Bundesverfassungsgericht ist kein Ersatz für Politik, Rede von Bundespräsident Horst Köhler am 14. Mai 2010 in Karlsruhe, www.bundespraesident.de

Sadurski, Wojciech (Hg.) 2002: Constitutional Justice, East and West. Democratic Legitimacy and Constitutional Courts in Post-Communist Europe in a Comparative Perspective, The Hague, Kluwer

Scharpf, Fritz W. 2008: „Der einzige Weg ist, dem EuGH nicht zu folgen“, Interview in: Mitbestimmung 7/8 2008, S. 18-23

Stone Sweet, Alec 2000: Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe, Oxford, Oxford University Press

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