Publikationen / vorgänge / vorgänge 190: Die Erosion der Demokratie

Editorial

Aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 1-3

Es war der Euphorie des Augenblicks geschuldet, dass nach dem Untergang der kommunistischen Regime 1989 die Demokratie als die weltweit dominierende Staatsform gefeiert und ihr dauerhafter Bestand erwartet wurde. Keine zehn Jahre später diagnostizierte Ralf Dahrendorf, dass „die Form der Demokratie, die viele von uns 1989 im Sinn hatten, in ernste und tiefe Schwierigkeiten geraten“ sei. Die Wähler würden sie als einen Konsumartikel betrachten, die Parlamente hätten einen Großteil ihrer Macht verloren, Kontrolle und Legitimität befänden sich in der Krise, die mit einer Krise des Nationalstaates einhergehe. Dahrendorf nannte diese Entwicklung „Post-Demokratie“, ein Begriff, den Jahre später Colin Crouch mit ähnlicher Diagnose popularisieren sollte und der heute zu den gängigen Krankheitsbefunden der Demokratie zählt.

Nun ist die Rede von der Krise der Demokratie fast so alt wie diese selbst. Sogar zu ihrer Hochzeit in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts war sie begleitet von Untergangsszenarien. Während für konservative Theoretiker in der Überdehnung demokratischer Partizipation und der Anspruchsinflation von Verbänden, Gewerkschaften und Transferempfängern der Keim der Unregierbarkeit angelegt war, prognostizierte ihr linkes Gegenüber einen wachsenden Legitimitätsverlust auf Grund der gesteigerten Notwendigkeit System stabilisierender Interventionen des spätkapitalistischen Staates. Beide Voraussagen sind nicht eingetreten, doch ist das kein Anlass zur Entwarnung. Denn der demokratische Staat hat zwar wider seinerzeitiger Erwartung den Einfluss der Verbände und seine Interventionen drastisch reduziert – ist nun aber gerade deshalb in eine Krise geraten, aus der herauszukommen bislang noch kein Passepartout gefunden wurde.

Auch mit dieser Ausgabe der vorgänge wird keiner präsentiert, ihr Anliegen ist vielmehr, sich anhand verschiedener Theorien und Therapien ein möglichst umfassendes Bild vom aktuellen Zustand der Demokratie zu machen.

Sandra Seubert geht der Frage nach, inwieweit die Demokratie unter transnationalen Bedingungen noch auf den Bürger als gleichermaßen Autoren und Adressaten der Gesetzgebung bauen, d. h. ihre legitimatorischen Grundlagen reproduzieren kann.

Dirk Jörke erkennt in der Theorie der Postdemokratie einen Bruch mit den bisherigen Krisendiagnosen, da ihre Analyse zwar triftig ist, ihr normativer Defaitismus aber keinen Fortschritt, keine Besserung zulässt. Den Ausweg aus diesem Dilemma sieht er in der Demokratie als normatives Leitbild eines Protestes, der sich gegen die postdemokratischen Zustände wendet.

Eike Hennig wirft den Theoretikern der Postdemokratie vor, ohne empirische Substanz ein schwarzes Bild der Demokratie zu malen, aus dem sich keine Handreichung ableiten lässt, den bestehenden Deformationen zu begegnen. Bei deren Analyse versage die Postdemokratie-Theorie.

Claus Leggewie sieht die bestehenden Demokratien für die Herausforderung des Klimawandels schlecht gewappnet und mahnt umfassende institutionelle Reformen und einen innovativen und investiven Push auf europäischer und globaler Ebene an. Um diese ins Werk zu setzen, ist eine Demokratisierung der liberalen Demokratie erforderlich.

Für Ingolfur Blühdorn korrespondiert die Postdemokratie mit einer von deren Theoretikern vernachlässigten Veränderung gesellschaftlichen Bewusstseins, dem Wandel vom Bürger zum (Politik-)Konsumenten. Dieser Wandel markiert die postdemokratische Wende, hinter der es kein normativ unterfüttertes Zurück mehr gibt. Damit sind einer nachhaltigen Politik Grenzen gesetzt, die sie, gemessen an den Erfordernissen des Klimawandels, als ungenügend ausweist.

Reinhard Heil untersucht, inwieweit die von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau aus dem Spannungsverhältnis von Demos und liberalem Subjekt entwickelte Theorie einer radikalen und pluralen Demokratie dazu angetan sind, der grassierenden Politikverdrossenheit zu begegnen.

Auf die Komplexität des Politischen sind für Arthur Benz weder Deliberation noch Reduktion die passende Antwort, diese liegt vielmehr in einer Theorie komplexer und reflexiver Demokratie, zu der die Stärkung der Bürger und Parlamente ebenso gehört wie der Leistungswettbewerb zwischen Gebietskörperschaften und Staaten und die Ermöglichung innovativer Verfahren.

Feministische Demokratietheorie, so Claudia Ritzi, gibt auf den Mangel, dass mit der staatsbürgerlichen Gleichheit der Frau keinesfalls deren politische Gleichstellung korrespondiert, zwei Antworten: eine gleichheitsorientierte, welche auf temporäre Förderung der Frauen abzielt, und eine differenzorientierte, welche die institutionelle Berücksichtigung der Unterschiede verlangt.

Sascha Kneip analysiert die Bedingungen, die das Verhältnis von Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit zu einer Erfolgsgeschichte für die Gerichte selbst und für die nationalen Demokratien haben werden lassen und gibt einen skeptischen Ausblick auf die Europäisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit.

Thomas Meyer sieht die Politik den Eigengesetzen einer vom Zwang zur Skandalisierung und Hang zur politischen Stromlinienförmigkeit geprägten medialer Öffentlichkeit unterworfen. Auch die neuen Kommunikationswege des Internets bergen nicht das demokratische Potenzial, das sich viele von ihm erwarten.

Otmar Jung widerlegt die gängigen Vorurteile gegen direkte Demokratie.

In seinem Essay analysiert Joachim Raschke die strategische Position der Grünen im Fünf-Parteien-System. Diese ist bestimmt durch die gegebene Zuordnung zu einem linken Lager und die Schwäche, weder eine Links-Strategie noch eine Lager übergreifende Strategie offensiv verfolgen zu können, zumal die ökonomische und die normative Orientierung der Anhängerschaft gegenläufig gerichtet sind.

Armin Pfahl-Traughber hält die Gleichsetzung von Antisemitismus und Islamophobie für unstatthaft, da es sich bei Letzterer um keine Diskriminierungsideologie handelt. Auch die korrektere Rede vom Antimuslimismus birgt die Gefahr einer Verharmlosung des Antisemitismus.

Konrad Ott analysiert die Fiskalpolitik der Partei „Die Linke“ und bescheinigt ihr eine fehlende normative Legitimität, rechtliche Fragwürdigkeit und im Ergebnis ein haushalts- und sozialpolitisches Scheitern.

Ich wünsche Ihnen zu dieser Ausgabe der vorgänge wie immer eine anregende Lektüre.

Ihr

Dieter Rulff

nach oben