Publikationen / vorgänge / vorgänge 190: Die Erosion der Demokratie

Totgesagte leben lange

Zum Aussagewert postdemokratischer Theorien*,

aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 26-34

„Government of the people, by the people, for the people shall not perish from the earth“

Abraham Lincoln, Gettysburg Adress vom 19. Nov. 1863

Postdemokratie bezeichnet jene Form der Herrschaft, bei der die demokratischen Institutionen formal weiterhin intakt bleiben und sich doch in der Substanz grundlegend ändern. Die Prozedur freier, gleicher, unmittelbarer, allgemeiner Wahlen zur Legitimation von Macht und Führungspersonal auf Zeit gilt weiterhin, ohne dass es jedoch tatsächlich Wahlmöglichkeiten und Selbstbestimmung für das Volk gibt. Die reale Politik wird hinter geschlossenen Türen von gewählten Regierungen und ökonomischen Eliten „gemacht“. Vordemokratische und demokratische Merkmale werden zu „vollkommen neuen, genuin postdemokratischen Aspekten kombiniert“ (Crouch 2008: 10, 13, 99).

Zweifellos: Seit dem Herbst 2008 gibt es Tage rapiden Wandels, Ereignisse überschlagen sich. Demokratie ist herausgefordert – wie früher auch oftmals schon (Heller 1930). Seit den 1990er Jahren triumphiert die Globalisierung mit ihrer Verdichtung und Zusammenfassung von Zeit und Ort. Die Welt stellt sich um. Zu Europa und Nordamerika kommen China und Indien, Brasilien klopft an. Gleichzeitig sind weite Teile der Erde vernachlässigt. Die Wanderschaft nimmt zu, „push & pull“, nur raus aus dem Weltdorf in die Slums und Kontore der wachsenden Millionenstädte, Lagos grüßt, und alles kommt in L.A. zusammen. In verschiedensten Bereichen kriselt es. Jede Krise ist tief greifend und eigensinnig genug: Im Mississippi-Delta explodiert „Deepwater Horizon“; die Beziehung der realen Finanzströme zur Produktion, der so genannten „Realwirtschaft“, rennt aus dem Ruder, wird prekär; die flaue Produktion bringt schlechte Zeiten für „überflüssige“ Massenarbeiter; Menschen mischen sich mit schlimmen Folgen und wachsenden Kosten ins Klima ein; Fundamentalismen wachsen seit dem 11. September 2001 zu ungeahnter Größe, reduzieren und liquidieren Komplexität; Weltpolitiker hantieren frei mit der Milliarde als kleinster Rechnungseinheit (bei struktureller Überschuldung nahezu aller Staaten) – also an Herausforderungen, und viele sind nachgerade ein GAU, herrscht kein Mangel. Wer hat noch den Überblick, wer kann den Ablauf ordnen, wer kann die Probleme lösen, wer geht damit „professionell“ um?

Zweifellos: Es sind schwere Zeiten für die Demokratie, die als System unter Stress am Gleichgewicht von Anforderungen, Unterstützung, Aufgaben und Leistungen festhält, und auch für Demokratien, die (von Berlusconi bis Obama) zur effizienzbedachten „leader democracy“ mutieren.[1] Nicht nur in der Bundesrepublik ist ein von Politik enttäuschter Individualismus und Pragmatismus vorherrschend.[2] Man kann kaum behaupten, dass ein aufgeklärtes Volk sich selbst beherrscht und der Politik vom Volk, durch das Volk, für das Volk zum Primat über Wirtschaft, Finanzen und menschliche „Laster“ verhilft. Gab es das jemals? Es wird gewählt, so oder so, Misstrauen prägt den Bezug der Politiker zum Volk sowie den des Volkes zu Politikern und Parteien. Man/Frau wählt, meist, wenngleich abnehmend und wechselnd. In der Bundesrepublik geschieht nun, was andere Demokratien länger schon exerzieren und, daran sei erinnert, in der deutschen Geschichte stieg die Wahlbeteiligung nicht nur mit Brandts Wagnis, sondern auch mit dem Aufstieg der NSDAP und in den dumpfen Tagen des „CDU-Staates“. Gesetzt wird heute nicht mehr auf das Gemeinwesen, sondern auf eigene Fähigkeiten. An sich vertraut man der Demokratie, wendet sich aber von ihren politischen Einrichtungen ab, zufrieden ist man mit funktionalen Instituten wie Polizei und Justiz. Es mehren sich (ausgehend von den USA) Tendenzen, sich eine bessere Welt zu kaufen und sog. „gated areas“ mit eigenen Systemen einzurichten.

Der Anspruch (auch die Leistung) der Demokratie ebenso der Glaube an das Lernvermögen dieses Herrschaftssystems besteht darin, dass evolutionär mit immer neuen Aufgaben („positiv“) eine immer neue „Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens“ (vulgo der Demokratie) korreliert (Heller 1930: 451). Immer neu dreht es sich entsprechend einer demokratischen, politischen Entscheidung um die „Unterordnung der Lebensmittel unter die Lebenszwecke“ (Heller 1930: 461). Demokratie meint normativ wie praktisch ein offenes, gestresstes System im Gleichgewicht von Teilnahme, Teilhabe, Kritik, Unterstützung, Lernen, Kommunikation und Macht. Vor einer Idealisierung dieses Herrschaftssystems, vor seiner Vergesellschaft zum Wunschbild idealisierter Werte muss man sich hüten (Schmidt 2000: 489 ff.; Jörke 2005), beides überfordert Demokratie. Vom Ansatz her müssen gerade postdemokratische Beiträge ihre normativen wie praktischen Bewertungsmaßstäbe, die historischen Beispiele und das komparative Vorgehen klarstellen, schnell fließen sie sonst mit im breit verästelten Diskurs der normativen Demokratiekritiken.

Geht man, normativ demokratietheoretisch wie real demokratiepolitisch, von solch einer Ausgangsperspektive aus, dann kann man fragen, ob die Beiträge zur Postdemokratie ernstzunehmende Anstöße geben, um entweder über eine Erschöpfung der Demokratie nachzudenken, oder ob man sie als eine der vielen modischen Präfix-Debatten zurückweist. Hieraus ergibt sich der Aufbau: (I) Einer Rückbesinnung auf den Ursprungsmythos der Demokratie und ihr Pathos folgt (II) eine kritische Darstellung post-demokratischer Positionen, wie sie – ohne jede Bezugnahme – einmal den Verfall des Volkes im Konsumismus (Wolin 2001) und zum anderen die Befreiung von Herrschaft, Ökonomie und Öffentlichkeit vom Primat demokratischer Politik (Crouch 2008) ansprechen. Leitmotiv ist die Frage (III), ob sich Demokratie verschleißt, so dass sich Systeme wie die Wirtschaft und die Finanzen verselbständigten. Lincoln warnt vor solchen Erosionen; Wolin (2001: 9) erinnert daran mit Blick auf Tocquevilles Mahnung zur „Gleichheit in Freiheit“ bzw. seiner Warnung vor einer Allmacht der Mehrheit: „Eine mögliche Aufgabe heutiger Theoretiker besteht darin…, eine fliehende demokratische Gegenwart zurückzuholen, um neuen Formen der Despotie entgegenzuwirken.“

I. Demokratie

Demokratie ist ein umfassendes Ziel, ein immanenter Anspruch auf Rechte der Bürger und Menschen, und von Anfang an ist sie gefährdet: Der Terror der französischen Revolution, der Bürgerkrieg und die lange Geschichte der schwarzen Ungleichheit in den USA, in Deutschland die nationalliberale Einbettung in ein demokratisch verkleidetes System der „negativen Politik“ des zu Macht und Beamtenkontrolle unfähigen Parlaments (M. Weber), der Regress parlamentarischer Demokratien in Italien, Deutschland und Spanien in faschistische Regime seien beispielhaft genannt. Probleme begleiten beide Komponenten der Demokratie[3], nämlich den Souverän, „Demos“ (die Gemeinde, die freie Bürgerschaft), und die Ordnung, „Kratos“ (die geregelte Herrschaft, die Macht): Das Volk kann zu wenig aufgeklärt, in Teilen „verfassungsfeindlich“, „fundamentalistisch“, antipluralistisch sein, es kann sich zu wenig beteiligen, zu kurzfristig denken und fixiert sein auf Gratifikationen des sozialen Systems, selbst wenn Kürzungen und Umgewichtungen bedacht werden müssten. Auf Seiten der Herrschaft können sich Eliten Mehrheitsentscheidungen widersetzen, Gegensysteme zu öffentlichen Einrichtungen aufbauen, privat organisierte Systeme entziehen sich demokratischer Kontrolle, die Orientierung an kurzfristigen, maximalen Profiten kann dominieren, eine internationale Aushöhlung demokratischer Standards ist denkbar, bedeutende Reibungsverluste zwischen Machtebenen und Institutionen sind vorstellbar, demokratisch bestenfalls abgeleitet legitimierte Bündnisse können erhebliche Bedeutung gewinnen.

All dies – in immer neuen Mischungen – bestimmt demokratische Realitäten seit Geburt der Demokratien am Ende des 18. Jahrhunderts, nichts verliert sich im weltweiten Siegeslauf im 20. Jahrhundert. Man tut gut daran (dies lehrt vor allem der nordamerikanische Anfang), Demokratie als Herrschaftsordnung zu diskutieren, nicht mit jeder Problembeseitigung und Menschheitsbeglückung zu überfordern. Man ist gut beraten, an Minima festzuhalten wie verfassten Freiheitsrechten, Pluralismus, Wahlen, einer der Verfassung verpflichteten Regierung auf Zeit, Gewaltenteilung, Mehrheitsentscheidung. Segensreich ist die Bindung von Demokratie an rechtsstaatliche Konfliktlösungen durch allgemeine Verfahren und Gesetze. Trotz all dem bleibt genug an überschießendem Pathos und Ursprungsmythos.

„We the People“ (als „Wir sind das Volk“ wirken diese Worte bis in die Leipziger Montagsdemonstrationen 1989): Das ist das Pathos der Demokratie, konträr zu der von „Regentenpflicht“ durchdrungenen monarchistischen Stiftungsformel, in Opposition zu „volksdemokratisch“ entfremdeten Apparaten und Machthabern. Die einen werden Bürger, nehmen ihr Geschick in die eigene Hand, beanspruchen das Primat für demokratische Politik; den anderen, den Untertanen, werden Rechte und Pflichten aus „landesväterlicher Gesinnung“ gewährt. Die freie Bürgerschaft (nicht die Menschheit) beherrscht sich selbst. Misslingt dies[4], droht eine unaufgeklärte Herrschaft der Genossen des Volkes oder der Klasse. Ein demokratischer Souverän, das Volk mit seinen pluralistischen Organisationen, wird im Staatsgebiet zum Subjekt, bestimmt seine demokratischen Grundsätze und über Repräsentanten und Organe Form und Inhalt der Staatsmacht. Das private Eigentum z.B. kann per Gesetz in Schranken gewiesen werden. Ob und in welchem Maße der Staat liberal oder sozial zu sein hat, das entwickelt sich seit Ende des 19. Jahrhunderts zu einer politischen Grundsatzfrage (Heller 1930). Gerade der demokratische soziale Rechtsstaat startet als politisches Projekt, während sich Führer und autoritärer Staat als omnipotente Glaubensobjekte anpreisen.

Nach dem Zweiter Weltkrieg steht Demokratie (in Westeuropa und Nordamerika) positiv für Teilhabe, erfolgreiche Regierung, Konjunktur, Frieden, soziale Sicherheit und Wohlstand. Die Systemkonkurrenz mit dem Osten wird kapitalistisch und demokratisch gewonnen, am Ende 1989/90 wird sogar die Erfüllung der Geschichte beschworen. Dann aber, noch vor der Finanz- und Wirtschaftskrise ab September 2008 und vor der Eurokrise vom Frühjahr 2010, zeichnet sich ein Abschwung der „großen Erzählung“ Demokratie ab.

Postdemokratie markiert einen vorläufigen Endpunkt der neuen Skepsis gegenüber demokratischer Herrschaft. Einige Einzelpunkte dieser Wandlung seien stellvertretend angesprochen: Der Aufschwung asiatischer, autoritärer Schwellenstaaten, darunter vor allem (seit 1965) die Top-Down-Erfolge der Erziehungsdiktatur in Singapur mit der Elitenführung durch die „People’s Action Party“. Wahlen wurden nur noch als Rauchschleier wahrgenommen, hinter dem die Führung anwuchs[5]. Die Wachstums- und Umweltthematik (1972), Umweltkatastrophen (seit 1976), Ozonloch (1985) und Klimafrage. Schließlich die umfassenden Regulierungsbedürfnisse eines als „Weltrisikogesellschaft“ (U. Beck) betrachteten Globus.

Neue Regierungsformen wie (global) Governance[6], vielfältige öffentlich-private „Partnerschaften“, Staatenbündnisse und, überhöhend formuliert, eine um die bedrohten Werte und Ressourcen gruppierte (Welt)Zivilgesellschaft – all dies tritt neben das demokratische Primat der guten Regierung für ein gutes Leben. Regenbogenkoalitionen, vielfältige soziale Bewegungen und charismatisch auftretende demokratische Führer beanspruchen eine Weiterentwicklung, insbesondere eine Inter- und Transnationalisierung der Demokratie und der Bürgerrolle. Sie geben für apokalyptische Problemhierarchien, für entsprechend bedrohte Besonderheiten und einen aktivierten Staat den klassischen, abstrakten Universalismus auf und überschreiten das traditionelle demokratische Handlungsfeld von Staatsgebiet, Staatsbürgerschaft und Staatsgewalt. Demokratie verlässt die Republik, schaut auf die Welt. Gewichtige Probleme überschreiten nationale Grenzen, erreichen jeden Hinterhof, nähren gleichwohl Tendenzen zur Abschließung(NIMBY, „gated areas“). Globalisierung bezeichnet beide Tendenzen, die Öffnung wie die Schließung. Hier haben Demokrat(i)en Inklusion zu lernen. Sie starten, im Konflikt von Menschen- und Bürgerrechten, im Widerstreit von Isolation wie Schutzzoll und Öffnung wie Freihandel als Herrschaft über ein bestimmtes Gebiet und eine bestimmte Bürgerschaft. Verstand sich der Ursprungsmythos eher homogen und republikanisch, so bildet sich ab 1980 bei allen Widersprüchen im Zusammenspiel von sozialen Bewegungen, Governance, internationalen Staats- wie Interessenbündnissen und postparlamentarischer „leader democracy“ eine neue Sichtweise heraus.

Postdemokratie ist die skeptische Variante dieses Diskurses. Bestimmend wird das weltbürgerliche, ökologische und menschenrechtliche Stellvertreterhandeln der Aktivisten, globalen Risiken werden grenzüberschreitende Kooperationen von Bewegungen und Staaten gegenübergestellt. Bezogen auf „das Volk“ spielen die Rückkopplung und Wirkung dieser neuen Ausrichtung der Demokratie kaum mehr eine Rolle: Für Abraham Lincoln dagegen war im US-Bürgerkrieg (1861-65) neben der Herkunft aus dem Volk die zweifache Bindung der Regierung an und für das Volk maßgeblich. Gerade in einer Krise rechtfertigt die dichte Verbindung zum Volk das Fortbestehen der demokratischen Regierung.

Deutet dagegen das um 2000 – auch im Internet mittels Wikipedia, Krimpedia und einer eigenen Plattform – aufsteigende Wort Postdemokratie eine neue Sichtweise jenseits der demokratischen Republiken und der Minimaldefinition an? Beginnt ein „postdemokratische[s] Zeitalter“ (Crouch 2008: 99)? Taugt Postdemokratie, um aktuelle Fragen zu demokratisch ungehegt umherschweifende Heuschrecken, Finanzmonster und gierig-geile Spekulanten zu verstehen und in Regierungshandeln umzusetzen, so dass Demokratie, wie Lincoln mahnt, gerade in der Bedrängnis nicht von der Erde verschwindet?[7]

II. Post – Demokratie?

Braucht es des Anstoßes postdemokratischer Überlegungen? Ist dieser Diskurs mit seinen Deutungen und dramatischen Worten demokratisch hilfreich? Demokratiedebatten sind selbstkritisch und reflexiv, Subjekt und Objekt, Aktivität und Passivität, Entscheidung, Anforderung und Unterstützung sind keine festen Größen, sondern ergeben sich aus den Wechsel- „Spielen“ von „Problem“, „Demos“ und „Kratos“. Kurz- und langfristige, selbst- und fremdbestimmte Anforderungen, Unterstützungen und Entscheidungen ergeben eine Offenheit, durchaus mit einem Unbehagen an der Demokratie, worauf beide Seiten, das Volk und die Herrschaft, mit Reduktionen der Komplexität reagieren. Es gibt Leitwerte (im Grundgesetz sind es die Menschenwürde sowie die demokratische Sozial- und Rechtsstaatlichkeit), aber es gibt keinen festen Kurs, kein fixes Ziel (Heller 1930). Politische Herrschaft wie politische Urteile folgen und ergeben sich aus dem Zusammenspiel von Zielen, Aufgaben und Lösungen. Auf Zeit und von Wahl zu Wahl wird Vertrauen vergeben und entzogen, es ergeben sich Mischungen von Kontinuität und Wandel, von Lernen und Pathologie, von Erfolg und Niederlage. Alles gilt auf Zeit, muss sich immer neuen Erkenntnissen und Willensbildungen stellen. Es gibt (seit Rousseau) eine Faszination für Entwicklungsdiktaturen, wo Einfachheit, Entscheidung und Lernen nicht pluralistisch zerrieben werden. Die neue Form dieser Kritik ist die Kopplung von Führung und Beratung, hierauf hinzuweisen ist ein Aktivposten von Crouch (2008: 91 ff.).

Kurz, bezüglich ihrer objektiven Makroannahmen wie der lebensweltlichen Mikroaussagen gehört ein komplexes, offenes Bild der Rückkopplungen (Eastons „systematic feedback loop“) zum Kernbestand von Demokratie und charakterisiert ihren Prozess der Legitimation. Hieraus ergibt sich – lange bevor die Theorie der Postdemokratie aufkam – ein differenziertes Spektrum zur Erforschung und Beurteilung der demokratischen Komponenten.[8] Demokratie „funktioniert“, wenn sich im Schnitt ein Prozessgleichgewicht von Forderung, Unterstützung und Leistung ergibt. Zwischen Wert, der Verfassung, und Konkretisierung, der Verfassungswirklichkeit, ebenso zwischen Institutionen (an sich) und Repräsentanten wie Organisationen (für sich) wird unterschieden, wenn Krise, Erosion oder Akzeptanz einer Demokratie diskutiert werden. Eine Krise liegt vor, wenn besagtes Gleichgewicht mindestens zeitweilig nicht besteht; von Erosion wird geredet, wenn positive Bewertungen abnehmen und Zweifel an Effizienz und Lösungskompetenz anwachsen. Während weiterhin gewählt wird, bezeichnen Nichtwählen und Politikverdrossenheit Perspektiven, mit denen die abnehmende Akzeptanz der demokratischen Werte und/oder der Repräsentanten erforscht wird.

Zu diesen Diskussionen tritt um 2000 mit hohem Anspruch auf Originalität, aber ohne Anbindung an Demokratietheorien und Vorläuferdebatten (der 1960/70er Jahre) etwa zur Regierbarkeit, Transformation, Demokratisierung der Postdemokratie-Diskurs hinzu. Es ist eine weitere Post-Wortbildung, die einen Zustand „auf dem Weg“ (Jörke 2005) umschreibt, essayistisch, normativ, locker, ohne Methode, mit moderatem sozialwissenschaftlichen Aufwand und schwacher Empirie (so Offe über Crouch). Es heißt (Buchstein/Nullmeier in Postdemokratie 2006: 16 ff.), dass tabuisierte Fragen, die sich aus dem Verständnis der Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft ergeben, durch Postdemokratie kritisch aufgeschlossen werden. Diese Töne finden sich aber schon in Demokratiebeiträgen und begleiten die Demokratiegeschichte.

Zuerst wird es postindustriell (Touraine 1969, Bell 1973) mit einem neuen Blick auf Dienstleistungen und Arbeit bei nachwirkender Produktion. Dann äußert sich (zuerst in Kanada, in Quebec) eine „stille Revolution“ (Inglehart 1977) als postmaterialistischer Wertewandel, weg von Sicherheit zu Selbstverwirklichung und Altruismus. Überhöhend werden anstelle moderner, geschlossener Theoriegebäude die Formen postmodernen Wissens umschrieben (Lyotard 1979). Die „großen Erzählungen“ der Moderne, die universalgeschichtlich um einen theoretischen Zentralbegriff (Freiheit, Befreiung) zielsicher (nicht offen, wie die praktische Demokratie) zu einem Ziel führen, weichen Teileinsichten und Pragmatiken. Die Postmoderne versteht sich als „Anti-Modell des stabilen Systems“ (Lyotard). Die geschlossene Erzählung „zerstreut sich in Wolken“, wobei denotative, präskriptive, deskriptive Elemente als Splitter in den neuen Essays erhalten bleiben. Post-Debatten klingen wie Wissenschaft (vor diesem Klang warnt Wittgenstein), nur „der“ Wertewandel mit seinen Typen und Mischformen wird definiert und erforscht, kritisiert. In den 80er Jahren erfolgt, ausgehend von „postcolonial studies“, eine epistemologische Wende der Post-Debatten zur diskurstheoretischen und programmatischen Aufladung. Die Programmatik beansprucht das Eintreten für „underdogs“ mit schwacher Vertretung oder eben für tabuisierte Themen. Dafür ist man auf dem Weg, es zieht sich eine entsprechende Schwelle durch die wissenschaftlichen Gemeinden. In den Post-Debatten wird es hybrid, feste Untersuchungseinheiten, widerspruchsfreie Begriffe lösen sich auf, Ströme, globale Beziehungen, vielschichtige, ungleichzeitige, polyethnische Räume werden zum Thema. Wirklichkeit wird als soziale Konstruktion unter Beteiligung auch wissenschaftlicher Deutungen betrachtet, das Erklärungsmonopol der Wissenschaft weicht einer Deutungsvielfalt, was je wichtig gewesen ist, löst sich auf, verliert seine unterstellte essentialistische Einheit, wirkt nach, bildet Mischformen, Überlagerungen, hybride Gebilde, zu denen Grenzgänger, Nomaden gehören.

Postpositivismus, Postrealismus, Poststrukturalismus sind erkenntnistheoretische Stichworte, die das Wissen über die soziale Welt relativieren. In rasender Folge wird nun jedem Charakteristikum, das essentialistisch gewirkt hat, ein „Post“ vorgestellt: von post-kommunistisch, -marxistisch, -national, -kolonial, -imperialistisch, -feministisch, -säkular, -anarchistisch bis zu post-demokratisch reichen die sicher nicht umfassendaufgezählten Übergänge. Zu den vorherigen Post-Definitionen als einem „Danach“ in der Zeitfolge oder als einem „Danach“ mit Änderung und Geltungsverlust kommt mit viel Wortgeklingel eine erweiterte Bedeutung: das Post als Konstrukt mit Wertungen, vielfachen Verbindungen diverser Deutungen und Zeitebenen. Vor allem soll, was worin die Programmatik für „underdogs“ besteht, die eurozentristische Enge der modernen Beiträge alter, gelehrter Männer überwunden werden.

Postdemokratie, in verschiedenen Ausprägungen, verweist auf die formale Geltung der Demokratie bei ihrer gleichzeitigen Entleerung. Verwiesen wird auf Substanzverlust bei Kontinuität wichtiger formaler Minimalmerkmale, vor allem der Wahl und der delegierten Regierung auf Zeit. Die Akzente der einzelnen Beiträge sind verschieden: Crouch betrachtet auf der Makroebene die Herrschaftsseite, die unkontrollierten Medien, Firmen, Parteien und die „Politik hinter verschlossenen Türen“. Er verweist auf die unkontrollierte Einflussnahme von globalen Unternehmen, Parteien und Medien im Zusammenspiel mit der politischen Elite. Wolin hebt die demokratische Mimikry eines „democratic despotism“ hervor, unterstreicht auf der Mikroebene den Rückzug des Volkes in Konsumkultur („consumerism“). Er (2001: 570) zeichnet den „postdemocratic man“ als Typ, der sich frei fühlen möchte, wenn er geführt wird. Demokratie wird zur menschenfreundlichen Geste, die heute als Wohlfahrt eingerichtet wird (Wolin 2001: 572). Übereinstimmend betonen beide Positionen, die formal demokratisch legitimierte Macht sei faktisch nicht demokratisch; maßgebliche Machtpositionen bleiben unkontrolliert, große Teile der Wählerschaft sind nicht aufgeklärt. Jörke betont „Postparlamentarismus“ und die geringe Beteiligung vor allem der Unterschichten. Er setzt auf „global Governance“, obwohl er dort gleichzeitig große Demokratiedefizite sieht. Jörke argumentiert am ehesten wissenschaftlich, empirisch abgewogen mit einer gegenüber Crouch und Wolin begrenzten Aussagenreichweite.

III. Und jetzt? Von der Postde­mo­kratie zur Demokratie

Mit „Und jetzt?“ schließt Crouch (2008: 133 ff., bes. 155, 157). Er sieht die „Gesundheit“ der auf Gleichheit reduzierten Demokratie bedroht. Jörke (2005: 491) endet mit der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ im Nebeneinander supranationaler Demokratiedefizite und nationalstaatlich fortexistierender grundlegender demokratischer Institutionen. Wolin (2001: 569 f.) folgert von Tocqueville aus, die „totalitäre Demokratie“ (Faschismus, Stalismismus) sei passee, durchgesetzt habe sich der postdemokratische „democratic despotism“ über verführte, verkümmerte, verantwortungslose Individuen („a society of stunted individuals… emptied of political responsibility“). Ohne weit greifende normative Verweise kommt kein Postdemokratie-Beitrag aus. Gelten soll das für die ganze Welt! (Jörke ist noch am ehesten offen für Empirie.) Programmatisch sind die Beschreibungen skeptisch (Wolin), anklagender Alarm vom Ton „5 vor 12“ (Crouch). Gleichwohl werden anspornende Aktivitäten „unabhängiger Initiativen“ gefordert (Crouch 2008: 142), es geht um den Sprung aus dem schlimmen Ist-Zustand. Das bleibt ebenso widersprüchlich wie die Einordnung der Befunde als Mahnruf oder als evolutionärer Befund für ein neues Zeitalter. Wenn alle Stricke reißen, dann landen „wir“ in der Kälte der Unordnung, dafür wird die Thermodynamik beschworen: „Über lange Zeiträume hinweg müssen wir uns… auf die Entropie der Demokratie gefasst machen“ (Crouch 2008: 20). Wenn die Ursache für „Demokratiedistanz und Politikverdruss“ tatsächlich nicht im Grundsatz, sondern konkret in der Art der Politikführung begründet liegt (Embacher 2009: 128; abgeschwächt dazu Arzheimer 2002: 205 ff.), dann malt Crouchs Menetekel auf der Hand liegende, mit Alltagswissen und Alltagskommunikation vielfach korrespondierende Kritikpunkte an die Wand. Ohne größere Theoriediskussionen und Datenanalysen (Offe9) werden wohlfeile, gängige Deutungen verdoppelt. Solche postdemokratischen Konstrukte und Diskurse sind an der Abwertung von Demokratie als ständig neu herzustellender Machtpraxis beteiligt. Dies gilt auch für Sheldon S. Wolin; er betont zwar die Rolle des demokratischen Subjekts, zeichnet aber ohne jeden Handlungsspielraum ein durch und durch schwarzes Bild verkommener Konsumenten, die keine Bürger mehr sind. Keiner der vorgestellten postdemokratischen Beiträge mündet in eine diskutable Handreichung, wie im Zeichen von Globalisierung auf Seiten der Herrschaft die Kontrolle über ökonomische und politische Eliten verbessert werden kann, und wie der Souverän global lernt und gleichwohl einen demokratischen Handlungszusammenhang findet und seine lokale Lebenswelt verbessert.

Geschildert und locker verglichen werden Aspekte der demokratischen Erosion (im Westen), zwischen Präsidial- und Parlamentsverfassungen wird nicht unterschieden, die verschiedenen Geschichten und Zugänge zum Rechts- und Sozialstaat bleiben so unbehandelt wie die differenten Rollen der Parteisysteme und Wählerkulturen. In der Summe warnen die postdemokratischen Essays, Demokratie als Norm und Praxis ist auf Erden noch nicht ganz verschlissen, aber keine Deutung mündet in Analysen zum möglichen Stopp der Erosion, zur Rückgewinnung politischer Handlungsräume, zur Beschreibung kleiner, gelungener Beispiele – vielleicht in Kanada (dazu Richter im Forschungsjournal 2006: 23 ff.). Aus den Beiträgen ist folglich nichts zu lernen, wenn es um die demokratische politische Kultur in der Mischung von lokaler Begrenzung, Mitmachen und aktiver Teilnahme geht. Moderne, neben dem Individuum auch Gruppen und Kulturen fördernde liberale Vorstellungen (Kymlicka 1999) setzen solche Lernprozesse der Reflexivität voraus. Aus dieser Sicht hilft das „Post“ nicht der demokratischen Demokratiedebatte. Es endet im Zerfall (Wolin) oder mündet in Willenserklärungen und „von außen“ beschworene Hoffnungen. Der „unvermeidlichen Entropie der Demokratie“ ist anders nicht zu entgehen (Crouch 2008: 133, 142). Wie geht’s in diese „vitale Demokratie der Zukunft“: „Es muss gelingen, die Unzufriedenheit auf die wahre Ursache dieser Probleme zu lenken: die großen Unternehmen und ihr ausschließlich profitorientiertes Verhalten, das Gemeinschaften zerstört und auf der ganzen Welt die Verhältnisse instabil werden lässt“ (Crouch 2008: 151 f.). Nicht einmal über diese „wahre Ursache“ herrscht Klarheit unter den Postdemokraten: Wolin zielt auf dekadente Konsumenten, Jörke auf Bündnisse mit Demokratiedefiziten. Damit sind die Problemfelder bezeichnet: Interessen, Einstellungen, Verhalten und Institutionen. Postdemokratische Beiträge versagen bei der Analyse.

* Für Diskussion, Fragen, Kritik und Korrekturen danke ich P.L.

[1] Dazu Claudia Ritzi, Gary S. Schaal, Politische Führung in der „Postdemokratie“, in: APuZ 2-3/10: 9-15. 1923 setzt Carl Schmitt Demokratie und autoritären Staat auf Basis der Identität von Führer und Volk gleich (mit Blick auf Mussolini und Lenin). Das Volk versteht nur zugespitzte Fragen (es ist deliberationsunfähig) und antwortet mit Ja oder Nein (Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, 2. Aufl. München/Leipzig 1926). Dies steht hinter „leadership“ – Debatten.

[2] Dazu Eike Hennig, Das Unbehagen in der Mitte, in: Kommune Jg. 28., H. 1, 2010: 24-26.

[3] Vgl. Hans Vorländer, Demokratie, München 2003, S. 13 ff.; Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Frankfurt 2008. Zur Darstellung „der“ Demokratietheorien vgl. Schmidt 2000.

[4] Die antike Lehre der Staatsverfassungen kontrastiert seit Aristoteles jeder guten eine despotische Form (Schmidt 2000: 34 ff.). Es gibt die Herrschaft des Einen (Monarchie – Tyrannei), der Wenigen (Aristokratie – Oligarchie) und der Vielen. Der gleichberechtigten Bruderschaft (Politie) steht negativ Demokratie als Herrschaft jener „armen Freien“ gegenüber, die tun, was ihnen gefällt. Eine jüngere Lehre (Polybios) betrachtet Demokratie positiv im Kontrast zur Ochlokratie, der Pöbelherrschaft. Laut Rousseau (1762) würde sich nur „ein Volk von Göttern“ demokratisch regieren und sich eine „so vollkommene Regierung“ geben. Bekannt ist Churchills Urteil (1947), Demokratie sei die schlechteste Regierungsform außer allen anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert würden (dazu Schmidt 2000: 539).

[5] Vgl. Humphrey Hawksley (Democracy kills, London 2009) als Beispiel für viele.

[6] Dazu Maria Behrens (Hg.): Globalisierung als politische Herausforderung, Wiesbaden 2005.

[7] „Legt den Kapitalismus an die Leine!“ (FR vom 29.3.10: 4): Merkel fragt nach dem „Primat der Politik“, Habermas fordert „ein bisschen politisches Rückgrat“ (dazu FR vom 21.5.10: 29), während die Finanzkrise die Demokratie bedroht: „Das Parlament als Statist“: FR vom 2./3.6.10: 6/7.

[8]. Die Messung der Differenz von Ideal und Realität steht im Kern dieser Demokratieforschung. Vgl. David Easton, A Systems Analysis of Political Life, New York 1965; Gabriel A. Almond, Sidney Verba, The Civic Culture, Princeton 1963; Arzheimer 2002; Schmidt 2000: 268 ff., 294 ff., 307 ff.

[9] Claus Offe, Rez. von Crouch: FAZ vom 22. 9. 2008: 37.

Literatur

Arzheimer, Kai 2002: Politikverdrossenheit, Wiesbaden

Crouch, Colin 2008 [2003]: Postdemokratie, Frankfurt

Embacher, Serge 2009: „Demokratie! Nein danke?“, Bonn

Heller, Hermann 1930: Rechtsstaat oder Diktatur?, in: Ges. Schriften, 2. Bd, Leiden 1971, 443 -462

Jörke, Dirk 2005: Auf dem Weg zur Postdemokratie, in: Leviathan Jg. 33, H. 4, S. 482-491

Kymlicka, Will 1999: Multikulturalismus und Demokratie, Hamburg

Postdemokratie, Themenheft 2006: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen H. 4

Schmidt, Manfred G. 2000 [1995]: Demokratietheorien, Opladen

Wolin, Sheldon S. 2001: Tocqueville between two worlds, Princeton / Oxford

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