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Wo findet Demokratie ihre Bürger?

Ressourcen des Bürgerschaftlichen unter den Bedingungen der De-Nationalisierung,

aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 4-16

Die traditionelle Antwort auf die Frage „Wo findet die Demokratie ihre Bürger?“ lautet: In Nationalstaaten verstanden als territoriale Einheiten, in denen ihnen ein Rechtsstatus gewährt wird, der an Staatsangehörigkeit gebunden ist und politische Mitgliedschaft über die Teilnahme an formalen Wahlen realisiert. Die Selbstverständlichkeit dieser Antwort wird zunehmend in Zweifel gezogen: Bürger üben ihre Bürgerschaftlichkeit auch in anderen Zusammenhängen aus, physisch durch Aktivitäten, die den Nationalstaat transzendieren, und funktional in sozialen Sphären, die nicht als „politisch“ in einem engeren Sinne gelten, wie die Familie und der ökonomische Bereich.[1] Unterschiedliche Auffassungen darüber, wo man bürgerschaftliche Aktivitäten lokalisieren soll, führen zu Kernfragen der Demokratie und der Bürgerschaft heute.

Es gibt die häufige Kritik, dass die theoretische Sprache die gegenwärtigen Transformationen von Bürgerschaft nicht hinreichend einfange. Was sich vollziehe, so wird gesagt, sei eine Reinterpretation von Bürgerschaft, vorangetrieben durch Akteure einer transnationalen Zivilgesellschaft.[2] Die Neu-Erfindung des Bürgerschaftlichen („reinvention of citizenship“) verweist aus dieser Perspektive auf die Wiederaneignung von Sphären des Handelns, die lokale Knoten haben können, wie etwa die „globale Stadt“ oder durch kommunikative Netzwerke gebildet werden, die sich um globale Ereignisse wie etwa das Weltsozialforum herum intensivieren. Die Bedeutung des formalen Bürgerstatus werde verringert und informelle Formen des Bürgerschaftlichen würden sich herausbilden: Aktivitäten, Praktiken, Identitäten und Solidaritäten von Personen, die nicht Bürger in einem formalen rechtlichen Sinne sind und/oder die in Sphären handeln, die traditionelle politische Orte transzendieren.

Im Folgenden soll die Diskussion um eine Neuinterpretation des Bürgerschaftlichen mit Blick auf einen wesentlichen Konflikt analysiert werden: einer gleichzeitigen Vertiefung und Ausweitung unseres Verständnisses von Bürgerschaft. Wie deutlich werden wird, stellt ein Verständnis von Bürgerschaft, dem ein bestimmtes normatives Konzept politischer Autonomie zu Grunde liegt, ein normativ anspruchsvolles und, angesichts gegenwärtiger Entwicklungen der De-Nationalisierung, zugleich in hohem Maße herausforderndes Projekt dar. Da die Befugnis zur Rechtsetzung (Autorisierung) als wesentliches Element von Bürgerschaft betrachtet wird, ist dieses Verständnis an institutionelle Vorbedingungen geknüpft. Aber gerade diesen Bedingungen wird vorgeworfen, sich eher zu einem Hindernis denn einer Ermöglichungsbedingung der Demokratie entwickelt zu haben. Versuche, diese Hindernisse zu überwinden, sind mit dem Problem konfrontiert, zwei Dimensionen vermitteln zu müssen: Bürgerschaft als Institution und Bürgerschaft als Aktivität. Die Idee von Bürgerschaft wird ihres umfassenden und am Ende emanzipatorischen Gehalts beraubt, wenn wir eine dieser Dimensionen auflösen. Ein reduktionistischer Ansatz würde zu Konfusionen führen und den normativen Gehalt politischer Bürgerschaft verzerren. Die Frage ist, wie Begriffsentleerungen vermieden und gleichwohl transformative Potentiale eingeschlossen werden können. Es ist das anspruchsvolle und komplexe Projekt des Entwurfs einer Theorie der Bürgerschaft unter Bedingungen der De-Nationalisierung, dessen Ausgangspunkte und Thesen hier lediglich in groben Zügen skizziert werden können.

I. Bürger­schaft als Politische Autonomie

Was macht den normativen Kern moderner Bürgerschaft aus? Sind es die rechtlichen Garantien persönlicher Freiheit? Sind es die über Nationalität als Staatsangehörigkeit vermittelten Zugehörigkeitsgefühle? Diese Elemente bestimmen zwar den Rahmen, in dem sich die moderne Idee der Bürgerschaft entwickelt hat. Der normative Kern wird jedoch durch eine politische Idee der Bürgerschaft bestimmt, die sich auf ein bestimmtes Verständnis politischer Freiheit als kollektiver Selbstbestimmung bezieht. Die „Erfindung politischer Bürgerschaft“ („invention of citizenship“) geht auf die revolutionären Momente zurück, in denen die ersten modernen Verfassungen entworfen wurden.[3] Der Konstitutionalismus hat einen inhärent politischen Charakter: Sein Ziel war und ist niemals nur der Schutz individueller Rechte, sondern die Konstitution eines Rahmens, der die Realisierung öffentlicher Freiheit möglich macht.[4] In dieser Behauptung steckt nicht nur eine historische, sondern v. a. eine normative These: so sollten wir die Idee politischer Bürgerschaft verstehen, wenn wir wesentlich normative Errungenschaften der Moderne erhalten wollen.

Diese politische Idee von Bürgerschaft kommt in den Theorien von Rousseau und Kant einflussreich zum Ausdruck.[5] Die hier angelegte Konzeptualisierung von politischer Autonomie ist normativ anspruchsvoll und gerade deshalb in hohem Maße herausfordernd angesichts der Transformationen des Bürgerschaftlichen heute. Die Idee politischer Autonomie als „Selbstgesetzgebung“ impliziert, dass eine BürgerIn eine Person ist, die berechtigt ist, sich die Gesetze, denen sie unterworfen ist, selbst zu geben. Nur so kann sie Freiheit in gesellschaftlichen Beziehungen erreichen. Dies ist natürlich ein hochabstraktes normatives Ideal und es gibt viele Unterschiede zwischen Rousseau und Kant mit Blick darauf, wie es im Einzelnen auszubuchstabieren ist. Die beiden unterscheiden sich bekanntlich nicht nur hinsichtlich der Frage, ob sich selbst Gesetze zu geben heißen muss, tatsächlich über jedes Gesetz selbst abzustimmen. Kant macht zudem im Unterschied zu Rousseau eine schärfere Unterscheidung zwischen moralischen und juridischen Gesetzen, und das gibt seiner politischen Theorie einen liberalen Charakter (mit den Vorteilen und Schwierigkeiten, die damit zusammenhängen). Nichtsdestotrotz gibt es eine wichtige Gemeinsamkeit: Bürgerschaft ist ein Status, der rechtlich konstituiert ist und in einem Akt der rechtlichen Autorisierung kulminiert. Welche Praktiken auch immer man als den formellen Prozeduren der Gesetzgebung vorhergehend begreift, Bürgerschaft kann niemals nur als Praxis begriffen werden. Die Bereitschaft, soziale Beziehungen rechtlich zu regulieren, hat bestimmte institutionelle Implikationen, die nicht abgestreift werden können, ohne die Idee selbst zu überdehnen. Die grundlegende institutionelle Bedingung ist die Errichtung einer Erzwingungsgewalt, die das Recht durchsetzen kann. Die Bindung dieser rechtlichen Erzwingungsgewalt an ihren legitimatorischen Ursprung, den Willen des Volkes, macht es nicht nur nötig, das Volk als kollektive Entität zu bestimmen und sich mit Fragen des Ein-und Ausschlusses zu befassen, sondern auch Prozeduren ins Leben

zu rufen, die es erlauben, so etwas wie einen „Volkswillen“ zu ermitteln.[6]
Ein theoretischer Ansatz wie dieser, der den Prozess kollektiver Selbstbestimmung als rechtlich vermittelt begreift, scheint auf den ersten Blick gut gerüstet, um sich an Wandel anzupassen. Rechtlich kodifizierte Institutionen lassen sich als Institutionen zweiter Ordnung begreifen, in dem Sinne, dass der Prozess der Institutionalisierung selbst noch einmal reflexiv gemacht werden kann.[7] Dadurch kann er sowohl für organisatorische als auch für normative Ansprüche geöffnet werden, die sich aus einer universalistischen Moral und Forderungen nach öffentlicher Rechtfertigung ergeben. Ein Ansatz, der Demokratie und rechtliche Autorisierung so zusammenbindet, dass eine Selbsttransformation des demos prinzipiell möglich ist, müsste den idealen Reflexionsrahmen für die gegenwärtig zu beobachtenden Transformationen bieten. Aber zu dieser Schlussfolgerung sollte man sich nicht zu rasch hinreißen lassen. Rechtlich vermittelte kollektive Selbstgesetzgebung unterliegt inhärenten Beschränkungen und ist abhängig von anspruchsvollen sozialen Praktiken jenseits des Rechts.[8]

II. Bürger­schaft als Institution und als Praxis

Da Institutionen durch Praktiken lebendig gehalten werden und nicht unabhängig von den Individuen existieren, die in ihnen handeln, mag es zunächst etwas künstlich erscheinen, Bürgerschaft als Institution und Bürgerschaft als Praxis gegenüberzustellen. Aber die Unterscheidung dieser beiden Aspekte wirft ein Licht auf einige Probleme im gegenwärtigen Nachdenken über die Zukunft des Bürgerschaftlichen.

Warum ist es bedeutsam, Bürgerschaft als Institution und als Institutionen schaffend zu beschreiben? Institutionen haben eine organisatorische und eine normative Funktion: Sie sollen einerseits die Ziele, für die sie eingesetzt sind, effizient erfüllen und andererseits normative Orientierung vermitteln und auf diese Weise Individuen an sich binden. Eine Institution muss einen zweifachen Test bestehen: „making sense“ und „being fit for its mission“ (Offe 1996). Institutionen sind mit einer impliziten Moraltheorie ausgestattet und verkörpern eine bevorzugte Weise, das Leben in Gemeinschaft zu leben. Erfolgreiche Institutionen verbinden Individuen und machen sie zu „Mitbewohnern“ in einem institutionellen Regime. Um dies zu leisten, müssen sie auf Dauer angelegt sein und öffentliche Anerkennung finden.[9]

Was bedeutet es nun, Bürgerschaft als eine auf Dauer angelegte Institution zu begreifen? Der Charakter der Dauerhaftigkeit ergibt sich zunächst aus dem formalen Rechtsstatus, den eine Person gewinnt, wenn sie BürgerIn ist. Es gibt formalisierte und restriktive Prozeduren, um diesen Status anzunehmen. Für jemanden, der nicht in diesen Status hineingeboren ist, ist es nicht ohne Weiteres möglich, ihn zu erlangen, und wenn man ihn hat, hat man ihn häufig ein Leben lang.[10] Die normative Begründung hierfür ist darin zu sehen, dass Mitgliedschaftsrechte bestimmen, wer Anteil an der Volkssouveränität hat. Das Volk muss in der Lage sein zu entscheiden, wer Teil des Volkes ist. So gesehen ist es nicht nur der Staat als organisatorische Einheit, sondern auch die Demokratie als institutionell vermittelte Form kollektiver Selbstbestimmung, die Schließung verlangt, um Dauerhaftigkeit zu erreichen.

Daraus folgt freilich nicht, dass das Volk über die Kriterien der Schließung völlig frei verfügen kann. Es muss seine Praktiken der Inklusion und Exklusion entlang von Prinzipien prüfen, die es als für sich selbst bindend anerkannt hat. Betont man auf diese Weise den auf Dauer angelegten Charakter von Institutionen, wird man anfällig für den Vorwurf, die historische Genese in den Hintergrund zu drängen. Wir assoziieren Bürgerschaft heutzutage mit dem Nationalstaat, aber der Prozess der Nationalisierung von Bürgerschaft hat sich zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt vollzogen und war hoch ambivalent: einerseits ermöglichend – mit Blick auf die Schaffung eines institutionellen Gehäuses, in dem Prozesse der kollektiven Selbstbestimmung einen Ort finden können – andererseits unterdrückend – mit Blick auf ethnische Minoritäten und andere zunächst ausgeschlossene Kategorien von Personen.[11] Diese Entwicklung ist, wie es scheint, an ein Ende gekommen. Die nationalstaatliche Verfasstheit von Bürgerschaft ist konfrontiert mit Defiziten in funktionaler und normativer Hinsicht. Sowohl ihre Effektivität als auch ihre Legitimität werden in Frage gestellt. Dies führt zu einer Entfremdung der Bürger von ihren Institutionen und betrifft daher das zweite Merkmal erfolgreicher Institutionen: ihre öffentliche Anerkennung.

Öffentliche Anerkennung hat eine empirische und eine normative Dimension: Empirisch drückt sich die Anerkennung, die einer Institution entgegengebracht wird, in unbefragter Akzeptanz und tatsächlichem Befolgen der Anforderungen, die sie an Individuen stellen, aus. Institutionen etablieren Standards, die signalisieren, welches Verhalten sanktioniert wird, und welches Zustimmung erhält. Dies hat einen sozialisierenden Effekt: Regeln werden zur Gewohnheit und je mehr Individuen sie internalisieren, desto mehr erscheinen sie als selbstverständlich. Darin liegt die entscheidende Ambivalenz, die in der klassischen Institutionentheorie diskutiert und als „falsche Naturalisierung“ kritisiert wird.[12] Aus einer normativen Perspektive können Institutionen nur dann auf Befolgung rechnen, wenn sie ihren Legitimitätsanspruch rechtfertigen, und einen Legitimitätsglauben in Individuen hervorzurufen vermögen. Unter welchen Umständen kann die Institution der Bürgerschaft berechtigterweise Legitimität beanspruchen? Formell: Wenn die Prozeduren des Erwerbs vorhersagbar sind und nicht einfach umgangen werden können. Substantiell: mit Blick auf das Ethos, den normativen Kern, der Institution: Wenn sie Individuen ihre Ansprüche einsichtig machen kann, wenn sie vermitteln kann, inwiefern ihre Existenz ein Gut darstellt, das sie für Individuen bedeutsam macht. Das Gut der Bürgerschaft hat eine individuelle und eine kollektive Seite: es bezieht sich auf Ansprüche und Privilegien, die effektive Garantie von Rechten, die eine Person mit diesem Status geltend machen kann, und sie bezieht sich auf ein gemeinschaftliches Gut, dass sich als politische Lebensform, die man mit anderen teilt, realisiert.[13] Ein effektiver Legitimitätsglaube setzt voraus, dass die normative Kernidee intakt und lebendig ist und stetig in alltägliche Praktiken übersetzt wird. Man teilt ein bestimmtes Verständnis mit anderen darüber, was es heißt, ein Bürger einer bestimmten politischen Gemeinschaft zu sein, welche Rechte und Pflichten damit einhergehen.

Wenn die Kernidee von Bürgerschaft als politische Autonomie (im obigen Sinne) verstanden wird, so verlangt dies eine wechselseitige Anerkennung als freie Personen mit gleichen Rechten auf individuelle und kollektive Selbstbestimmung. Obwohl gleiche Rechte eine zentrale Voraussetzung ihrer Realisierung sind, verweist die Idee doch auf umfassendere Bedingungen.[14] Die Realisierung politischer Freiheit setzt Beziehungen der Reziprozität voraus und tatsächliche Erfahrungen der Gleichheit in sozialen Interaktionen. Diese Bedingungen bestimmen den „fairen Wert formaler Rechte“ (Rawls). Den Status „als Gleiche“ zu genießen, bezieht sich auf ein „standing“, das Personen in Beziehung zu anderen Personen haben. Um diese Dimension der relationalen Gleichheit zu explizieren formuliert Nancy Fraser den Grundsatz der „partizipatorischen Parität“. Partizipatorische Parität meint, als vollwertiger Partner in sozialen Kooperationen anerkannt zu sein: als gleicher unter gleichen am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Auf einer Basis der Gleichheit zu interagieren setzt nicht „sameness“, im Sinne von Identität voraus, sondern den gleichen moralischen Wert von Personen.[15] Der Grundsatz der partizipatorischen Parität vertieft unser Verständnis von effektiver Bürgerschaft. Über formale Rechtsgleichheit hinausgehend, bezieht es sich auf die Bedingungen, unter denen Personen tatsächlichen effektiven Gebrauch von ihren Rechten machen können.

Was verlangt dies von Institutionen? Partizipatorische Identität wird als Basis für gerechte und demokratische Institutionen eingeführt, zugleich stellen gerechte und demokratische Institutionen aber die strukturellen Voraussetzungen dafür dar, partizipatorische Parität tatsächlich zu verwirklichen. Ob Personen zu der Art von Personen werden können, die sie – normativ betrachtet – sein sollen, hängt von den aktuellen Erfahrungen ab, die sie, nicht nur, aber auch, mit Institutionen machen: Gibt es die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, wird man als berechtigt und fähig betrachtet, für sich selbst zu sprechen, oder schlagen einem Misstrauen und Bevormundung entgegen? Daraus folgt, dass die öffentliche Anerkennung und der Glaube an die Legitimität von Bürgerschaft als Institution selbst wiederum von institutionellen Arrangements abhängt, die Potentiale für Praktiken der „Verbürgerschaftlichung“ („citizenization“, wie James Tully es nennt) enthalten.

Wenn der Status relationaler Gleichheit, wie oben dargestellt, auf die Realisierung von politischer Freiheit bezogen ist, dann hat diese Gleichheit in jedem Fall eine soziale Bezugsgruppe: es ist eine Gleichheit zwischen Mitgliedern und sie geht insofern mit Exklusivität einher.[16] Die vertiefende Dimension moderner Bürgerschaft ist damit verbunden von politischer Macht tatsächlich effektiven Gebrauch zu machen. Demokratisierung ist in diesem Sinne ein Prozess, in dem es um Ermächtigung und Statusgleichheit geht, jene Voraussetzungen also, die Bürger in die Lage versetzen, tatsächlich effektive Kontrolle über die Bedingungen zu erlangen, unter denen sie leben.[17]

III. Bürger­schaft als Aktivität

Um öffentliche Anerkennung sicherzustellen, müssen Institutionen in der Lage sein, Individuen an sich zu binden und ihre Praktiken zu motivieren. Eine gewisse Ambivalenz sollte dabei freilich nicht übersehen werden. Institutionen stellen nicht automatisch und notwendigerweise eine ermöglichende Bedingung sozialer Praxis dar, sie können diese genauso gut auch beschränken durch die Logik der Verantwortungsteilung und Delegation von Zuständigkeit. So argumentiert Rousseau, wenn er dem korsischen Volk in seinem Entwurf einer Verfassung für Korsika empfiehlt, lieber die Straßen selbst zu pflastern, als diese Aufgabe an eine staatliche Instanz zu delegieren. Darin drückt sich ein Verdacht gegen die Etablierung administrativer Macht aus, die als Kette bürgerschaftlicher Aktivität und Quelle von Herrschaft betrachtet wird. Republikanische Denker legen Wert auf zivile Pflichten und das schließt die Präferenz für Bürgerdienste anstelle institutioneller Erfüllung öffentlicher Aufgaben ein. Was hier zur Debatte steht, ist das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Bürokratie im modernen Staat. Demokratie braucht Handlungsräume. Um BürgerIn zu werden, brauchen BürgerInnen soziale Kontexte, die in dem Sinne ermächtigen, dass sie individuelle Dispositionen, die Stimme zu erheben und sich einzumischen befördern. Aber dies sollte als etwas verstanden werden, das ein institutionelles Design inkorporieren kann und inkorporieren muss, gerade weil der öffentlichen Anerkennung von Institutionen eine sozialisierende Wirkung zugrunde liegt: ihre „Moralität“ wird internalisiert.

Das Verhältnis zwischen staatlicher Bürokratie und bürgerschaftlichem Engagement bleibt ambivalent und die ermöglichenden und beschränkenden Potentiale institutioneller Arrangements sind stets von Neuem kritisch zu prüfen.[18] Heute scheint die größere Gefahr der Entmutigung bürgerschaftlicher Aktivität freilich aus einer anderen Richtung zu kommen. Politische Autonomie wird durch systemische Prozesse in der ökonomischen Sphäre unterminiert, die das Ethos demokratischer Institutionen in einer Weise schwächen, dass sie die Bürger kaum noch als ihre eigenen erkennen und sich selbst nicht länger als Autoren hinter den Handlungen ihrer Regierungen betrachten können. Entzug von Vertrauen in Institutionen ist ein komplexer Prozess, der letztendlich jedoch die Struktur sozialer Beziehungen beeinflusst und die Tiefe sozialer Integration bestimmt. Eine zivile Kultur der Kooperation und der wechselseitigen Verantwortung wird von Anreizen intensivierten individuellen Wettbewerbs hintertrieben. Die alltäglichen Erfahrungen unter Bedingungen eines „neuen Geistes des Kapitalismus“ lassen ein Gefühl der Machtlosigkeit sich ausbreiten. Ohne positive Resonanz aus der Lebenswelt, ohne „Widerlager im Sozialen“ (Offe) liegt die politische Rhetorik der Aktivierung bürgerschaftlichen Engagements kraftlos über systemisch induzierten Prozessen der Transformation. Die Erfahrung, regiert zu werden, statt selber zu regieren, produziert nicht länger nur Affekte gegen die politische Elite, sondern affiziert ein System, das nicht in der Lage ist, ökonomische Macht effektiv zu steuern, im Ganzen. Das Ergebnis ist: Entfremdung von der Demokratie.

Die bisherige Argumentation impliziert die Schlussfolgerung: Wenn Demokratien auch in Zukunft Bürger finden wollen, müssen die Bürger auch irgendwo Demokratie finden. Die Herausforderung besteht darin, ein institutionelles Ethos neu zu beleben, dass Erfahrungen der Freiheit und Gleichheit in kollektiver Selbstbestimmung möglich macht und die normativen Prinzipien, die bestehende Institutionen zu verkörpern vorgeben, in institutionelle Reformen zu übersetzen. Partizipatorische Parität kann als soziale Voraussetzung politischer Autonomie begriffen werden. Sie entfaltet sich letztendlich sozialen Kooperationen des alltäglichen Lebens. Die Herausbildung von „habits of the heart“ konstituiert einen stabilen Teil der Persönlichkeit und daher können diese Haltungen politische Aktivität in einem engen Sinn überschreiten und sich auch in anderen sozialen Sphären realisieren. Bürgerschaft drückt sich in bestimmten Dispositionen und Tugenden aus und kann und sollte daher auch in Kontexten niederschlagen wie der Familie oder dem Wirtschaftsleben. Nur so kann eine politische Theorie des Bürgerschaftlichen gegen Vorwürfe der Abstraktheit verteidigt werden.[19]

An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob die hier skizzierte Vorstellung von Bürgerschaft in eine eher republikanische oder liberale Richtung tendiert. Schließlich ist es die republikanische Tradition politischen Denkens, die die Bedeutung von Gewohnheiten des Herzens betont, während die Betonung der Autonomie sozialer Sphären ein liberaler Impuls ist. Zur Notwendigkeit einer normativen Kongruenz verschiedener sozialer Sphären gäbe eine Menge zu sagen, ebenso wie zu der Frage, inwieweit sich dies mit liberalen Prinzipien verträgt und welche politischen Regulierungsmaßnahmen angebracht erscheinen. Probleme liberaler Selbstbeschränkung verfolgen Theorien politischer Bürgerschaft, die über formale Gleichheit hinausgehen wollen. Aber so viel sollte festgehalten werden: Liberale Selbstbeschränkung ist nur insofern ein Wert als sie als eine politische Praxis verstanden wird. Das bedeutet, dass es die Bürger selbst sind, die in öffentlichen Diskursen herausfinden müssen, wo die Grenzen des Privaten in speziellen Konflikten jeweils verlaufen und die Frage der (relativen) Autonomie sozialer Sphären letztlich mit Blick auf die Idee freier und gleicher Bürgerschaft beantworten müssen.

Moderne Republikaner wollen die Autonomie sozialer Sphären in der Regel auch nicht völlig abschaffen. Aber sie verweisen zu Recht auf deren Relevanz für die Reproduktion von Bürgerschaft als Aktivität. Machtbeziehungen entfalten sich meist in Sphären, die privat in dem Sinne sind, dass sie sich direkter politischer Einflussnahme entziehen. Philip Pettit etwa legt in seiner Theorie des Republikanismus auf dieses Problem einiges Gewicht. Er argumentiert für einen strukturellen Egalitarismus als Charakteristikum des sozialen Lebens in einer Republik. Bürgerschaftliches Leben setzt eine Offenheit voraus, die sich nur als Ergebnis intersubjektiver Gleichheit ergibt, die wiederum auf strukturellem Schutz vor den willkürlichen Effekten sozialer Macht basiert. Freiheit als Nicht-Beherrschung ist ein politisches Ideal, das auf der Kontrolle von Macht in der so genannten Privatsphäre basiert: der Familie und dem Arbeitsplatz.

Der systematische Schutz gegen willkürlichen Gebrauch von Macht, den liberal-republikanische Theorien wie die Pettit’sche anvisieren, verweisen auf institutionelle Strategien, um normative Kongruenz zwischen verschiedenen sozialen Sphären herzustellen. Was mit einer solchen Perspektive einhergeht, ist ein gewisser institutioneller Optimismus, der mit einem spill-over von der institutionellen Moralität zu den Praktiken des alltäglichen Lebens rechnet. Bürger werden nicht geboren, sondern gemacht, und ihre Sozialisation beginnt lange bevor sie die öffentliche Sphäre betreten. Das Argument, das aus dieser Perspektive folgt, ist, dass ein Vertiefen der Demokratie auf ein Stärken der Potentiale zur effektiven Steuerung der sozialen Sphären hinausläuft, die die Sozialisation von Bürgern beeinträchtigen können. Vorausgesetzt wird eine starke politische Gemeinschaft, in der soziale Praktiken vorhanden sind, die die Realisierung von Freiheit als Nicht-Beherrschung als ein gemeinsames Gut und Ermöglichungsbedingung politischer Autonomie sichern.

Nicht das Ziel an sich, sondern die Voraussetzungen gesellschaftlicher Integration sind es, die in Kontrast zu gewissen Ansätzen transnationaler Demokratie stehen. In Übereinstimmung mit Pettit argumentiert etwa David Held, dass politische Autonomie von institutionellen Strukturen abhängt, die in der Lage sind „to cut across all key domains of power where power shapes and affects people’s life chances with determinate effects on and implications for their political agency“ (Held 1999, 105). Dabei sind wir freilich heute mit dem verwirrenden Faktum konfrontiert, dass institutionelle Strukturen, die „fit“ für die Mission der Machtbändigung in diesem Sinne sind, ihren Rahmen ausweiten und die nationale Ebene transzendieren müssen. Das Kernproblem, das Konzeptionen transnationaler Demokratie plagt (bzw. plagen sollte), ist freilich, Wege zu finden, die notwendigen institutionellen Reformen mit dem Selbstverständnis von Bürgern als Autoren und Unterstützern dieser Prozesse zu vermitteln.

IV. Dynamiken moderner Bürger­schaft

Die vorangegangenen Reflektionen sollten deutlich machen, dass die Dynamiken moderner Bürgerschaft in zwei Richtungen weisen: eine gleichzeitige Vertiefung und Ausweitung unseres Verständnisses von Bürgerschaft. Die zentrale Herausforderung besteht darin, diese beiden Richtungen zu vermitteln, die Bedeutung von Bürgerschaft unter veränderten Bedingungen zu reinterpretieren, ohne die normative Essenz zu verwischen.

Zur ersten Richtung: Unser Verständnis dessen, was es heißt, als Gleiche zu interagieren und als vollwertige Partner in sozialen Kooperationen anerkannt zu sein, hat sich im Verlauf der historischen Entwicklung vertieft. Immer mehr Kategorien von Personen sind eingeschlossen, immer mehr substantielle Voraussetzungen werden formuliert, ein dichtes Netzwerk von Institutionen ist notwendig, um die Realisierung zu unterstützen. Aber je mehr unser Verständnis von Rechten und Pflichten und ihren sozialen Voraussetzungen sich vertieft, desto stärker wächst die Notwendigkeit, einen Sinn für Gemeinschaftlichkeit und Solidarität zwischen jenen zu schaffen, die eine politische Gemeinschaft teilen. Auf der anderen Seite weitet sich unser Verständnis von Bürgerschaft aus. Um politische Autonomie als kollektive Selbstbestimmung zu verteidigen, müssen institutionelle Strukturen sich über den Nationalstaat hinaus erweitern. Angesichts der normativen Dynamik einer universalistischen Moral können Rechte und Pflichten außerdem nicht länger so konzeptualisiert werden, als könnten sie auf die Mitglieder einer Nation beschränkt werden.

Innerhalb demokratischer Nationalstaaten haben sich Transformationen von Mitgliedschaftsregeln vollzogen und neue, transnationale Formen von Bürgerschaft haben sich herausgebildet. Es war Hannah Arendt, die die Spannungen einer Situation, in der sich eine ständige Notwendigkeit der Schließung wie der Infragestellung politischer Grenzen ergibt, eindruckvoll beschrieben hat. Es ist interessant, wie viel Gewicht sie auf das Erfordernis eines rechtlich konstituierten Rahmens legt, während sie gleichzeitig das Politische als Praxis versteht, das sich jenseits des Rahmens entfaltet. In ihrem Fall ist es die Instabilität und Flüchtigkeit des Handelns selbst, die externe Stabilisierung erfordert. Externe Stabilisierung wird durch das „Gehege des Rechts“ gewährleistet, durch Institutionen, die nichtsdestotrotz stets fragil bleiben und immer wieder aufs Neue mit einem gemeinsamen Geist gefüllt werden müssen, der durch kommunikative Praxis entsteht. In ihrer Debatte mit Karl Jaspers insistiert Arendt, dass republikanische Bürgerschaft und Weltbürgerschaft niemals ein und dasselbe sein können (Arendt 1989: 99ff.). Obwohl sie zugesteht, dass wir unter kosmopolitischen Bedingungen leben, in dem Sinne, dass die Menschheit als Ganze von bestimmten Ereignissen betroffen ist, ist sie der Auffassung, etwas wie Weltbürgerschaft sei eine Chimäre.

Das Politische ist abhängig von einer wechselseitigen Kooperation, die nah genug ist, um die Möglichkeiten gemeinsamen Handelns stets offen zu halten (Arendt 1992: 1995). Um eine lebendige Beziehung zu seinen Mitbürgern zu unterhalten, braucht es eine gemeinsame Gegenwart, und das bedeutet, dass wir in der Lage sein müssen, relevante Erfahrungen miteinander zu teilen. Nichtsdestotrotz sind zum ersten Mal in der Geschichte alle Menschen der Erde aufgrund von technischen Entwicklungen in eine gemeinsame Gegenwart gezwungen, aber dies gründet nicht in einer gemeinsamen Vergangenheit und garantiert keine gemeinsame Zukunft. Vielleicht machen wir alle dieselbe Erfahrung (z.B. Machtlosigkeit), aber wir sind fern davon, sie zu teilen. Angst vor globaler Zerstörung führt bloß zu negativer Solidarität. Positive Solidarität basiert auf gemeinsamer Verantwortung, die institutionell vermittelt ist und mit der daher politisch umgegangen werden kann. Globale Verantwortung ist unerträglich, argumentiert Arendt, und sie führt zu nichts anderem als Rebellion und Apathie. Arendts Argument bezüglich der gemeinsamen Grundlage des Politischen basiert nicht auf Abstammung oder vorpolitischer Homogenität. Der Begrenztheit der Polis ist nicht ethnisch oder kulturell begründet. Die Polis wird verstanden als Organisationsstruktur, die aus gemeinsamem Handeln und Sprechen erwächst (ebd.: 192). Sie hängt immer von der Lebendigkeit ihrer Praktiken ab, sie kann zusammenbrechen und an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit neu gegründet werden, aber sie muss irgendwo gegründet werden.[20]

Obwohl das Politische ein unbegrenzter Prozess ist, kann die Polis nicht etwas sein, was ständig in Bewegung ist. Die gemeinsame Vergangenheit, von der Arendt spricht, beginnt mit einem Gründungsakt und sie muss fortgesetzt werden in einer Praxis des Geschichtenerzählens, durch die die gemeinsamen Werte der politischen Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht werden. Dieses Geschichtenerzählen schafft eine kollektive Identität. Es ist als dynamische Form der Integration zu verstehen, die offen ist für Neuankömmlinge. Gleichwohl fürchtet sich Hannah Arendt vor einer Welt, in der alle menschlichen Erfahrungen, historischen Ereignisse und Traditionen ihres Gewichts beraubt werden und ihre Bedeutung verlieren. Sie ist, was die Anforderungen wechselseitigen Verstehens betrifft, die erfüllt sein müssen, damit die Menschheit politisch vereint sein könnte, wesentlich skeptischer, als es Jaspers war.

Aus der Arendt’schen Perspektive ergibt sich eine offensichtliche Spannung: Die Schrankenlosigkeit des Handelns, die potentiell ein endloses Netzwerk von Beziehungen stiftet, stößt sich an der prinzipiellen Notwendigkeit zur Schließung des politischen Raums. Die Schließung des politischen Raums ist ein Erfordernis der Demokratie, aber sie kann die Demokratie auch bedrohen, wenn Personen, die einen legitimen Anspruch auf Teilnahme haben, von Prozeduren der Entscheidungsfindung ausgeschlossen sind. Diskursethische Ansätze der Demokratietheorie empfehlen sich, um dieses Problem anzugehen. Die Diskurstheorie fasst im Prinzip jeden Menschen als moralisches Wesen auf, mit dem man eine Konversation der Rechtfertigung teilen kann. Wir sind verpflichtet, in eine solche Konversation einzutreten, wenn die Entscheidungen, die im Rahmen begrenzter Gemeinschaften getroffen werden, auch Außenstehende betreffen. Im Rahmen eines solchen Zugangs drängt sich freilich die Frage auf, wie der Unterschied zwischen einem allgemeinen Prinzip der Legitimität und einem Prinzip der Demokratie zu bestimmen ist. Wie Seyla Benhabib zu Recht betont, kann ein moralisches Prinzip der Legitimität nicht ohne weitere Prämissen auf das Feld politischer Mitgliedschaft übertragen werden. Eine wesentliche Prämisse dreht sich, wie skizziert, um die Idee der Autorenschaft der rechtlichen Normen, denen man unterworfen ist. Auch Habermas formuliert das Prinzip der Demokratie daher im Unterschied zum Diskursprinzip mit Bezug auf das Recht als Medium der Selbstbestimmung. In seinen jüngsten Überlegungen zu global governance ringt er mit den Beschränkungen, die sich aus dieser Prämisse ergeben. Ein Ausweg aus den Problemen der Legitimität könnte darin bestehen, die interne Verbindung zwischen Recht und Demokratie, Verfassung und Staat zu lösen. Habermas bezieht sich in diesem Zusammenhang positiv auf die liberale Verfassungstradition der „Herrschaft der Gesetze“, die eher durch eine Macht begrenzende als eine Macht konstituierende Funktion gekennzeichnet ist (Habermas 2005: 328). Sie soll besser geeignet sein, Rechtsetzungsprozesse jenseits des Nationalstaats zu beschreiben. Dabei tut sich freilich eine Spannung zu den anspruchsvollen nationalstaatlichen legitimatorischen Voraussetzungen der Rousseau- und Kantischen Tradition auf. Die Last, Entscheidungen auf irgendeine Form von demokratischer Willensbildung zurückzuführen und dadurch Legitimität zu vermitteln, hänge an einem seiden Faden und sei schon heute „bis an die Grenze des normativ erträglichen belastet“ (ebd.: 344). Habermas schlussfolgert, dass wir vor einer unkomfortablen Alternative stehen: entweder die „anspruchsvolle Idee der Verfassung einer sich selbst verwaltenden Assoziation freien und gleicher Bürger preis(zu)geben und uns mit einer soziologisch ernüchterten Interpretation der Rechtsstaaten und Demokratien zufrieden(zu)geben (…), oder die verbleichende Idee der Verfassung vom nationalstaatlichen Substrat (zu) lösen und in der postnationalen Gestalt einer politisch verfassten Weltgesellschaft wieder(zu)beleben“ (ebd.: 345). Doch es ist zweifelhaft, inwieweit wir uns, was die zweite Alternative betrifft, allein auf die Kräfte einmal eingegangener vertraglicher Selbstverpflichtung verlassen können. Es ist zweifelhaft, ob rechtliche Konstruktionen, die von politischen Eliten eingeführt wurden, genügend Loyalität erzeugen und ob „dünne Identitäten“ als Basis hinreichen für die Sozialisation zukünftiger Bürger.[21] Wie dem auch sei, es lässt sich einwenden, dass die Idee von Bürgerschaft als Autorenschaft ohnehin eine hoch abstrakte idealisierte Norm beschreibt, die bereits in unvermeidbarer Weise gedehnt wird, wenn sie auf die Institutionen moderner nationalstaatliche verfasster Demokratien angewendet wird. Warum sollte die Dehnung also an den nationalstaatlichen Grenzen halt machen? Die Frage ist schwer zu beantworten. Erinnert werden sollte hier aber zunächst an das, was nicht beliebig gedehnt werden kann: die Erfahrungen von Bürgern „Democratic states (…) require a form and level of ‚peopleness‘ that is not required in other forms of government“ (Calhoun 2002: 153). Angesichts von Diagnosen der Entfremdung, der „Auswanderung“ der Bürger und der „Entlebendigung“ von Institutionen, scheint die Frage, wo die Demokratie ihre Bürger findet, alles andere als trivial. Bei der Suche nach einer Antwort sollten sowohl legalistische als auch aktivistische Verkürzungen der Konzeptualisierung von Bürgerschaft vermieden werden.[22] Was ist nötig, damit wir uns (wieder) als Autoren begreifen können? Es geht dabei um das Bestimmen einer Schwelle tatsächlicher Teilnahme und effektiver Kontrolle, jenseits derer die Idee der Demokratie ihrer Bedeutung beraubt wird, und gleichzeitig darum, diese Idee auf die strukturellen Bedingungen zu beziehen, die die Verwirklichung einer solchen Praxis unterstützen. Das Ethos demokratischer Institutionen wieder aufzubauen, und zwar von unten nach oben, ist die wesentliche Aufgabe demokratischer Theorie und Praxis und wesentliche Bedingung dafür, dass sich Praktiken der „Verbürgerschaftlichung“ ausbreiten können.

[1] Saward 2006, Brettschneider 2007. Diese Dynamik führt zu verschwimmenden Grenzen zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten (Seubert 2010).

[2] Sassen 2008: Kap. 6, Fraser 2008: Kap. 2 und 5, Steffek/Nanz 2008, Zürn 2010.

[3] Fahrmeir 2007: Kap. 2.

[4] „In keinem seiner Ursprungländer erschöpft sich der moderne Konstitutionalismus in der Idee der Begrenzung der Staatsmacht“ (Preuss 1994:26).

[5] Rousseau [1762] (1977): 1/8, Kant [1798] (1985): 196. Vgl. andere Modelle von Bürgerschaft in Carter 2001, Kap. 7, Hutchings/Dannreuther (Hg.) 1999: Teil I.

[6] Die moralische Rechtfertigung der Schließung des politischen Raums wird von Seyla Benhabib als Paradox demokratischer Legitimität charakterisiert (Benhabib 2006: 17ff.).

[7] Für Jürgen Habermas sind Demokratie und Rechtsetzung inhärent miteinander verknüpft. Er charakterisiert rechtliche Normen als „intentionale, reflexive, auf sich selbst anwendbare Schicht von Handlungsnormen“ (1992: 142). Aus dieser Perspektive ist die Selbst-Transformation des souveränen Volkes möglich, weil die Moralität des Rechts von einem Diskurprinzip der Legitimität bestimmt wird: Eine diskursive Moral ist die Basis legitimen Rechts.

[8] Hier unterscheiden sich abermals republikanische (rousseauische) und liberale (kantische) Sichtweisen voneinander.

[9] „Institution“ ist in den Sozialwissenschaften ein notorisch umstrittenes Konzept. Ich beschränke mich hier auf drei (hoffentlich eher unstrittige) Merkmale, die Rahel Jaeggi diskutiert (vgl. Jaeggi 2009). Das dritte hier erwähnte Merkmal ist der rechtliche Charakter von Institutionen (der freilich nur für formelle Institutionen gilt).

[10] Nationalstaaten sind nach wie vor eifrig dabei diese domaine réservé zu beschützen. Obwohl z.B. die doppelte Staatsbürgerschaft seit den 90er Jahren häufiger üblich geworden ist, finden sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, meist Staaten, die die doppelte Staatsbürgerschaft tolerieren, aber nicht akzeptieren. Als einziges Einwanderungsland akzeptiert Schweden die doppelte Staatsbürgerschaft (Faist/Kivisto 2007: 7).

[11] Fahrmeir 2007, Sassen 2008: 447ff. Zum unterdrückenden Charakter von Politiken des „Nation-Building“ vgl. Kymlicka 2007 61ff.

[12] Seubert 2007. Die Macht von Institutionen und ihrer Rolle Kritik und Konsens im Gleichgewicht zu halten, wird in Luc Boltanskis Adorno Lectures neu aufgegriffen (Boltanski 2008: 82ff).

[13] Eine Gesellschaft besteht aus Individuen, die sie bilden und deren Beziehungen untereinander. Kollektive Güter wie Gemeinschaftlichkeit, Kultur und die kollektive Dimension von Bürgerschaft sind nicht reduzierbar auf individuelle Güter. Nichtsdestotrotz können sie nur als Gut beurteilt werden, wenn sie von Individuen anerkannt und unterstützt werden (vgl. Castiglione/Warren 2006: 4).

[14] Für eine Kritik an „abstract citizenship“ vgl. Brettschneider 2007). Brettschneider macht deutlich, dass es keinesfalls offensichtlich ist, wie Rawls in dieser Hinsicht gelesen werden sollte, spricht sich jedoch überzeugend für eine „starke“ Lesart aus.

[15] Die Frage, welche Anzahl von Gütern und Ressourcen nötig sind, um einen Status eines Gleichen zu genießen, bleibt bis auf Weiteres offen. Oder man sollte besser sagen, die Frage partizipatorischer Parität kommt vor jeder Frage der Verteilung. Relationale Gleichheit ist die Basis auf der Verteilungsfragen gerecht (und demokratisch) entschieden werden können.

[16] Nancy Fraser unterscheidet zwischen Partizipatorischer Parität als „process notion“ und participatorischer Parität als „outcome notion“ (Fraser 2008: 28f.).

[17] Dieser Aspekt wird von Cristina Lafont in ihrem kritischen Kommentar zu James Bohman’s „Democracy across borders“ betont (Lafont 2010: 17f.).

[18] DiesesProblemhabeichausführlicherdiskutiertin:Seubert2009(bes.Kap.7).

[19] Die Bezüge für diesen Vorwurf gehen zurück auf die Marx’sche Attacke auf das Doppelleben des Liberalismus in „Über die Judenfrage“ (Brettschneider 2007: 20).

[20] Craig Calhoun stellt in diesem Zusammenhang ebenfalls einen interessanten Bezug zu Arendt und ihrer Idee von „Gründung“ als Welt-Erschaffung her. Er interpretiert dies als kollektive Formung von Kultur, der Erzeugung von diskursiv vermittelten „social imaginaries“ und streicht heraus, dass die Verfassung als rechtlicher Rahmen ergänzt werden müsse durch einen Begriff der Verfassung als Erzeugung konkreter sozialer Beziehungen (Calhoun 2002: 152).

[21] Für eine Kritik an „dünnen Identitäten“, die in vielen kosmopolitischen Zugängen im Allgemeinen und in der Habermas’schen Konzeption von „Verfassungspatriotismus“ im Besonderen angelegt sei, vgl. Calhoun 2002: 149ff. Habermas bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine „Normwirkungshypothese“: die allmähliche Internalisierung des Geistes eines „zunächst nur deklamatorisch anerkannten Wortlauts von Vorschriften“ vermag „zirkulär selbstbezügliche Lernprozesse“ auszulösen und das Selbstverständnis von Akteuren zu transformieren (Habermas 2005: 333).

[22] Aktivistische Verkürzungen finden sich in manchen Ansätzen kritischer Demokratietheorie. Vgl. etwa die Gegenüberstellung von „modern citizenship“ und „co-operative citizenship“ bei James Tully, wobei Letzteres als dezidiert informelle Form der Wiederaneignung von Handlungssphären gedacht ist, die in der Moderne an den Staat und Korporationen delegiert wurden (Tully 2009: 22).

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