Klimaschutz erfordert Demokratiewandel
Aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 35-43
Für John Schellnhuber, zum 60. Geburtstag
Wolfgang Harich, der kommunistische Abweichler, hat bereits 1975 die Öko-Diktatur, den „starken, hart durchgreifenden Zuteilungsstaat“ und den „asketischen Verteilungsstaat“ als einzigen Weg benannt, die bedrohte Biosphäre zu erhalten. Aktuelle Klimaschutz- und Anpassungsprogramme sind weit davon entfernt, aber auch sie haben oft den Geruch des Paternalismus oder Ausnahmeregimes. Haben Demokratien nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, indem sie ihre Freiheit entweder durch ökologische Katastrophen oder durch ökologische Ausnahmeregime verlieren?
Demokratie-Audit
Der Klimawandel, der in vielen Belangen eine Heuristik künftiger Verhältnisse darstellt (Leggewie/Welzer 2009, Welzer/Soeffner/Giesecke 2010), testet auch die Zukunftsfähigkeit etablierter und neuer Demokratien. Im Westen geht man selbstverständlich davon aus, dass Demokratien im Umweltschutz erfolgreicher agieren als Autokratien, aber bislang ist empirisch nicht eindeutig belegt, ob und wie Demokratiequalität und Umweltperformanz zusammenhängen (Saretzki 2007). Wünschenswert ist ein umfassendes Demokratie-Audit (Kaiser/Seils 2005), das die umwelt- und klimapolitische Leistungsfähigkeit von Wettbewerbs- und Konkordanzdemokratien im angloamerikanischen und zentraleuropäischen Raum prüft, dabei auch die „neuen Demokratien“ in Ostmitteleuropa und in den Schwellenländern betrachtet und, da seit 1990 die scharfe Dichotomie zwischen Demokratie und Diktatur gewichen ist, auch Ein-Parteien-Systeme wie die VR China einbezieht, da sie im Bereich der Energieeffizienz neuerdings erstaunlich erfolgreich sind.
Qualität und Performanz von Demokratien werden üblicherweise gemessen a) an ihrem Input, also an der effektiven Beteiligung der Bürger und der „Responsivität“ der Volksvertreter, und b) an ihrem Output, der politischen Leistungsfähigkeit in Gestalt effektiven und effizienten Handelns der Exekutive, das auch als „politische Produktivität“ bezeichnet wird (Brusis 2008). Gute Klima-Governance besteht in einer deutlichen und nachhaltigen Verringerung der Treibhausgasemissionen durch die Verbreitung nicht-fossiler Energieträger, durch Effizienzprogramme und einen ganzen Kranz von Einspareffekten in den drei Hauptverursacherfeldern Mobilität, Ernährung und Landnutzung. Dieses ehrgeizige Programm erfordert die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger, konventionell via Wahlen, in diesem Fall aber auch über selbst initiierte Verhaltens- und Lebensstiländerungen.
Klimapolitik setzt spontan auf gesetzlich, regulativ oder über Marktanreize vermittelte Top-Down-Policies. Doch belegen die Widerstände, die beispielsweise eine Solarverordnung in der Stadt Marburg oder der qua EU-Regulierung verordnete Ersatz konventioneller Glühbirnen durch Energiesparlampen hervorgerufen hat, die Notwendigkeit, für klimaadministrative Akte nicht nur die berühmte „Akzeptanz“ anzustreben, sondern auch eine aus Einsicht und Überzeugung geborene Mitwirkung kritischer Verbraucher. In ökonomischer Terminologie heißt das: den erhofften Ergebnisnutzen (wie Kostenersparnisse und Gewinnaussichten „grünen Wachstums“) mit intrinsischem Prozessnutzen zu verbinden (Frey 2006), die in der Mitwirkung an allgemein für gut befundenen Zielen zur Sicherung weltöffentlicher Kollektivgüter liegen.
Die erwähnte Responsivität liberaler Demokratien kann klimapolitisch ebenso ein Problem sein wie die fehlende Legitimation „scharfer“ Maßnahmen. Deshalb werden äußere Herausforderungen der Demokratie neuerdings richtigerweise ergänzt durch die Betrachtung von Herausforderungen durch die Demokratie (Brodocz et. al. 2008, Latour 2008, auch schon Offe/Guggenberger 1984). Defizite liegen erstens in der globalen Entgrenzung und den Demokratiemängeln supra- und transnationaler Regulierung, zweitens im beschränkten Zeithorizont, den sich demokratische Politik üblicherweise gibt. Klimawandel erfordert zum einen ein bisher ungekanntes Maß grenzüberschreitender Kooperation, zum anderen spannt er den politischen Normalbetrieb in ein Zeitkorsett, das auf Grund der schlichten Physik des Klimawandels zunehmend enger wird.
Running out of time
Für die Abwendung des gefährlichen Klimawandels steht nicht mehr viel Zeit zur Verfügung. Binnen ein oder zwei Legislaturperioden müssen alle Staaten der Welt jene Maßnahmen implementieren, die 2020 ff. greifen müssen, damit bis 2050 (nur ein bis zwei Generationen weiter) jeder Mensch auf der Erde nicht mehr als eine Tonne Kohlendioxid pro Jahr emittiert (zum Vergleich: derzeit stößt im Durchschnitt ein US-Amerikaner jährlich ca. 19 t und ein Deutscher ca. 11 t CO2 aus). Gelingt das nicht, werden unsere Nachfahren in einer Vier- oder Mehr-Grad-Welt mit höchst unangenehmen Seiten leben müssen (WBGU 2009).
Diese neue Zeitrechnung ist eine Provokation für liberale Gesellschaften, die sich mit „der Natur“ fertig wähnten und, trotz aller Katastrophen und Rückschläge, stets einen nach vorne offenen Möglichkeitstraum vor sich liegen sahen. Die Figur der Endlichkeit (des wirtschaftlichen Wachstums, der natürlichen Ressourcen, der verfügbaren Zeit) drängt das in der Neuzeit auf „Un-Endlichkeit“ programmierte Selbstbewusstsein ebenso in die Enge wie die im Zyklus von Wahlen verhafteten Politiker. Ihr Zeitrhythmus ist kurzfristig, oft auch kurzatmig auf die jeweilige Legislaturperiode ausgerichtet und durch permanente Wahlkämpfe und langwierige Inauguralphasen neuer Regierungen weiter verkürzt. Wo sich politische Instanzen den Unternehmensrhythmen anpassen, gerät Politik zusätzlich in den Sog volatiler Quartalsbilanzen und Börsenbarometer; kongenial unterwirft sich der politische Betrieb dem Diktat monatlicher Meinungsumfragen.
Der „shortermism“ (Giddens 2009) der politischen Aufmerksamkeit kontrastiert auffällig mit den dilatorischen Methoden der Dissensbearbeitung und Kompromissfindung in politischen Verhandlungsarenen, in denen man schwer lösbare Probleme „auf die lange Bank“ schiebt und auf Zeit spielt. Darunter fallen gerade die großen Reformagenden westlicher Demokratien (demografischer Wandel, Kostenexplosion im Gesundheitswesen, Massenarbeitslosigkeit und Staatsverschuldung), die in einer Mischung aus kampagnenbezogener Hektik und permanenter Verschiebung traktiert werden. Der performative Widerspruch demokratischer Staatlichkeit (und ein Hauptgrund für den Verfall von Output-Legitimität) liegt mithin darin, dass Mega-Probleme durch nervöse politische Kommunikation latent gehalten, Lösungen dafür aber ad calendas graecas vertagt werden.
Dilatorische Politik ist nicht per se ein Übel. Zeitgewinn ist für die Bewahrung von Stabilität oftmals erforderlich, und das Ringen darum reagiert auf die Kontingenzen und Risiken moderner Gesellschaften, die ja in der Regel einfache Bescheide und klare Entscheidungen nicht erlauben (Günther 2006). Die unaufhebbare Zukunftsunsicherheit wird in Rituale der Konsensfindung und Routinen der Aushandlung überführt. Auf diese Weise geht politische Macht mit Risiken um, denn ebenso wenig wie der Markt verfügt sie über eine „systemeigene Wirkungstechnologie, die es erlaubte, Ressourcen zu dosieren und Fehler zu erkennen“ (Luhmann 2000:433). Wer die dicken Bretter inkrementeller Politik bohren will, muss hin und wieder abwarten und etwas „aussitzen“, bis sich die Dinge eventuell von selbst erledigt haben, Interessenlagen sich ändern, Gemüter sich beruhigen, Wähler vergessen oder resignieren. Aufschieben und Abwarten werden im Vertrauen darauf gerechtfertigt, die Wachstumsdynamik kapitalistischer Ökonomien und die sozialstaatliche Inklusion werde „morgen“ Gelegenheit zur Lösung von politischen Konflikten bieten, die „heute“ unlösbar scheinen.
So sind liberale Demokratien in einem Dilemma: Dilatorische und inkrementelle Strategien schützen vor den Illusionen identitärer Demokratie, die von Rousseau bis Carl Schmitt auf einen demokratiefeindlichen Dezisionismus hinauslaufen. Andererseits stellt die Kombination der ökologischen mit der fiskalischen Krise die Erbschaft der bürgerlichen Revolution mit ihrem Fortschritts- und Wachstumsoptimismus und mit ihrer Politik des Durchwurstelns in Frage. Die Absorption von Unsicherheit und die Entschärfung von Konflikten durch Zeitspiel stoßen an ihre Grenzen, wo sich Risiken, die man glaubte, durch Umverteilung bewältigen zu können, vor allem beim gefährlichen Klimawandel, in basale Gefahren zurückverwandeln. Die ungläubige Reaktion der seit den 1990er Jahren gut informierten Öffentlichkeit und die Renitenz so genannter Klima-Skeptiker zeugen von der Kränkung, die ein ganz auf Zukunftsverzehr ausgelegtes Industriesystem erfahren hat.
Dieses Dilemma ist ein Einfallstor für Demokratieskepsis und autoritäre Fantasien des „Durchregierens“. Seit längerem schon werden die „Grenzen der Mehrheitsdemokratie“ (Offe/Guggenberger 1984) thematisiert, wonach Mehrheiten nicht guten Gewissens tief greifende und irreversible Entscheidungen fällen dürfen, die a) Populationen außerhalb ihrer Grenzen massiv betreffen und b) künftigen Generationen ihre Handlungsfreiheit nehmen. Räumlich wie temporal ist die demokratiepolitisch unhaltbare Kluft zwischen Entscheidungsberechtigten und Entscheidungsbetroffenen (bzw. Autoren und Adressaten von Gesetzgebung und Rechtssprechung) gewachsen. Demonstriert wurde diese Diskrepanz an einem Umwelt- und Energiepolitischen Thema der ersten Stunde, am Ausbau der Kernenergie, weil die Entsorgung nuklearen Abfalls mit langen Halbwertzeiten und unklaren Endlagerstätten ungeahnte Konsequenzen hat. Heute stellt aber nicht nur die Irreversibilität solcher Entscheidungen ein Problem dar, ebenso schwer wiegt die Notwendigkeit ihrer rasanten Beschleunigung – jetzt muss im Blick auf den Klimawandel entschieden werden, was sein „Umkippen“ in eine Katastrophe in zehn, zwanzig oder hundert Jahren vermeiden soll.
Mängel globalen Regierens
Global-räumlich ist eine weitere Frage, wie sich Demokratien „nach ihrem Sieg“ 1990 im Rahmen demo-autoritärer Mischregime wie der Gruppe der 20 (G 20) bewähren, denen als Quasi-Weltregierung die Bearbeitung der Klima- und Finanzkrise übertragen sind. Während sich Weltmärkte und Weltgesellschaft rapide formiert haben, sind kosmopolitische Normierungen und Regulierungen nur tastend und sektoral begrenzt vorangekommen. Die demokratiepolitische Problematik besteht darin, dass herkömmliche Government-Entscheidungen nationalstaatlich verfasster Regierungen und Verwaltungen in Netzwerke grenzüberschreitender Abstimmung, Koordination und Verhandlung aufgehen, diese aber keine erkennbare demokratische Legitimation besitzen. Beteiligt sind in erheblichem Umfang private und semi-staatliche Akteure, die ebenfalls ohne formale Legitimation und Rechenschaftspflicht agieren. In dieser Mehrebenenpolitik wirken systemisch getrennte Steuerungsmechanismen zusammen: autoritative Lenkung durch staatliche Exekutiven und supranationale Governance, Koordinierungsinstanzen an der Schnittstelle privater und öffentlicher Akteure (PPP) und korporative Organe, darunter machtvolle Unternehmens- und Bankenkonglomerate.
Vor diesem Hintergrund hat sich mit der Verabschiedung der Klimarahmenkonvention (UNFCCC) auf dem Rio-Gipfel 1992 und mit dem 2005 in Kraft getretenen Kyoto-Protokoll eine Global Climate Governance entwickelt, die im Verbund mit supranationalstaatlichen Programmen, Organisationen und Protokollen einen Regime Complex der internationalen Klimapolitik bilden (Keohane/Victor 2010). Auch hier fragt sich, wie sich solche hybriden Regime legitimieren lassen beziehungsweise wie sie ohne direkte Rechenschaftspflicht legitimiert werden. Das geschieht nicht auf klassische Weise durch Wahlen und Abstimmungen, und auch, wo supranationale Organe einer parlamentarisch-ministeriellen Teilkontrolle ausgesetzt sind (wie im Fall der Europäischen Kommission), bleibt die Rede vom Demokratiedefizit. Ersatzweise treten klimapolitische Gruppen, auch Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen advokatorisch für weltkollektive Güter, für künftige Generationen oder für Gaia auf den Plan, betätigen sich vielgliedrige Bürger- und Verbrauchergruppen und mobilisieren Protestinitiativen (Leggewie 2003).
Wenn die G 8/G 20 ihre im Juli 2009 beim Gipfel in L’Aquila eingegangene Verpflichtung umsetzen wollte, die 2-Grad-Leitplanke einzuhalten, setzte das einen immensen Fortschritt freiwilliger globaler Kooperation und kosmopolitischer Mobilisierung voraus. Bis 1990 war das internationale System durch die bipolare Kontrolle zweier „Supermächte“, ferner durch regionale Hegemoniemächte und einen UN-gestützten, sektoralen oder regionalen Multilateralismus beherrscht (Keohane/Moravcik/Macedo 2009). Seither vermochten sich weder die USA als „einzige verbliebene Supermacht“ durchzusetzen, noch konnte ein von IWF, Weltbank und anderen Bretton Woods-Instanzen im Washington-Konsens formulierte Marktregulierung oder ein generalisierter UN-Multilateralismus die Lücke zu füllen. Das relative Scheitern des „Klimagipfels“ in Kopenhagen (der freilich das „Zwei-Grad-Ziel“ noch einmal bekräftigt hat) zeugt von diesem Versagen.
Neue Akteure und Konstellation der zwischenstaatlichen Politik sind seither aufgekommen. Als Erweiterung der G 7/8 ins Leben gerufen wurde das Gremium der G 20, konkret in Reaktion auf die schwere Finanzkrise 1997 in Asien und gerade in diesen Tagen mit dem Auftrag einer nachhaltigen Reform und Kontrolle des Weltfinanzsystems. Die Gruppe der 20 repräsentiert rund 85 Prozent des Weltsozialproduktes und zwei Drittel der Weltbevölkerung. Ihr Aufstieg war unvermeidlich; in einer globalisierten Ökonomie bringen Länder wie Indien und Brasilien das Gewicht ihrer multinationalen Grossunternehmen ein und Länder wie China gewaltige Währungsreserven. Wird und soll diese „bunte Truppe“ die neue, aus der Systemkrise geborene Weltregierung sein? Und wie vertragen sich liberale Demokratien westlichen Typs mit Regimen, die zum geringeren Teil Demokratien sind (wie Indien und Indonesien), zum größeren Teil aber demo-autoritäre Systeme wie die Türkei oder gar keine Demokratien wie Saudi-Arabien?
Zwar haben sich nach dem Wegfall der sozialistischen Alternative vielerorts formale Demokratie und Kapitalismus durchgesetzt, aber der für den nordatlantischen Westen typische Konnex zwischen ökonomischer und politischer Freiheit existiert in vielen G20-Ländern nicht. Mit der G 20 muss sich die Weltpolitik exemplarisch auf eine Art demo-autoritäres Mischregiment einstellen, in dem liberale Demokraten mit autoritären Herrschern ganz unterschiedlicher Couleur zusammenwirken, für die weder das demokratische Ideal noch das marktwirtschaftliche Modell des Westens noch eine Richtschnur sind. Das Gremium ist bisher eher eine Clearingstelle, aus der kein Primus inter pares herausragt, neben einem instabilen Duumvirat der USA und Chinas. Das ist kein geordneter Multilateralismus, sondern eine verschachtelte Struktur, die eher an die Anarchie der Staatenwelt im 19. Jahrhundert erinnert als an eine Matrix globalen Regierens im 21. Jahrhundert.
Was tun?
Die politischen Eliten setzen die gewohnte inkrementelle Politik fort, wo beherzte transformative Schritte notwendig (und auch möglich!) wären; und sie verharren im nationalstaatlichen Rahmen, wo globale Probleme globale Kooperation nach sich ziehen müssten. Es ist nicht so, dass für die Erfordernisse der Umwelt-, Klima- und Energiepolitik der Instrumentenkasten nicht mehr angemessen wäre, der mit den „drei G“ bestückt ist: Geld (ökonomische Anreizen), Gesetze (politisch-rechtliche Regulierung) und gute Worten (persuasive Programme). Für Die Große Transformation in eine nachhaltige und gerechte Weltgesellschaft und Weltwirtschaft mangelt es nicht an „Policies“, die Probleme liegen im politischen Prozess (politics) und in der mangelnden Übersetzung normativer Konzepte wie der Zwei-Grad-Leitplanke in ein verbindliches Abkommen (polity).
Anzustreben ist die Weiterentwicklung der Grundrechte (im Sinne von T.H. Marshall 1992) von den bürgerlichen Freiheitsrechten über politische Beteiligungsrechte und soziale Rechte für alle (Voll-)Mitglieder einer staatlich verfassten Gesellschaft in Richtung auf ökologische Grundrechte oder Staatsziele, wie sie in Art. 20a GG vorgeprägt sind: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.“
Wie können unter diesem Signum parlamentarische Demokratien ihr Business as usual überwinden und die ihnen zugetraute Überlegenheit in der Lieferung effektiven Outputs auch angesichts verschärfter Probleme unter Beweis stellen? Antworten darauf sind nicht leicht zu finden, sie liegen wohl in der Beschleunigung ihrer Prozeduren. Dazu kann man auf drei Ebenen vorgehen:
- Institutionelle Reformen: Analog zur Geschlechterpolitik ist eine Art Climate Mainstreaming anzuraten, d.h. eine Politik der Dekarbonisierung quer durch alle Ressorts und Klimaverträglichkeitsprüfungen bei allen Gesetzesvorhaben. Notwendig sind mehr interministerielle Koordination, Klima-Kabinette und neue Zuschnitte von Ministerialressorts.
- Big Push: Nur mit öffentlichen Infrastrukturinvestitionen, Marktanreizen für private Verbraucher und der massiven Konzentration von Forschungs- und Entwicklungsleistungen im Bereich der Erneuerbaren Energien können eine klimafreundliche Infrastruktur und ökologische Re-Urbanisierungsinitiativen weltweit erreicht werden, flankiert durch einen weltweiten und umfassenden Emissionshandel (WBGU 2009).
- Europäisierung und Globalisierung: Es ist angebracht, solche Reformen auf die europäische Ebene auszudehnen, zumal sich der Aufbau eines Supersmart-Grid nur europaweit und kontinentalübergreifend verwirklichen lässt. Auch ein europäischer und mittelfristig globaler Einspeisetarif für erneuerbare Energien würde zur einer effizienten Allokation von Ressourcen führen; es würde dort investiert, wo Photovoltaik-Anlagen sich wirklich lohnen, und nicht dort, wo die höchsten staatlichen Subventionen zu beziehen sind. Klimapolitik ist heute Außen- und Geopolitik, die, solange globale Abkommen an nationalstaatlichen Souveränitätsvorbehalten scheitern, „von unten“ mit subglobalen Klimaallianzen und Energieverbünden fundiert werden und sich der Hilfe internationaler Nicht-Regierungs-Organisationen bedienen kann. (WBGU 2010)
Ökologische Grundrechte, beschleunigte Gesetzgebung, Anreizprogramme und globale Kooperation bedürfen ihrerseits einer Legitimationsgrundlage, anders gesagt: einer Demokratisierung der liberalen Demokratie. Dazu sind noch mehr institutionelle Fantasie und politischer Wagemut erforderlich, etwa in folgende Richtungen:
- Deliberative Wissensregime: Was Klimawandel ist, welche Dynamiken und Folgen er haben kann und welche Vorkehrungen man dagegen wählen kann, speist sich wesentlich aus dem Sachverstand von Wissenschaftlern in globalen Wissensregimen wie dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) und anderen wissenschaftlichen Beratungsgremien. Ihnen mangelt es an Legitimität, wo sie als „Rat der Weisen“ politische Entscheidungen dezisionistisch oder technokratisch informieren; andererseits fehlt oft die sachlich gebotene Beziehung von Beratungsgremien zum effektiven Entscheidungshandeln. Grözinger (1997) hat eine aus Wissenschaftlern besetzte „konzeptive Gewalt“ (neben Exekutive, Legislative und Judikative) ins Gespräch gebracht, eine eigenständig legitimierte Vorschlagskammer, die kein Bestimmungsrecht hat und nicht als Vetoinstanz auftreten kann, Parlamente und Ministerialbürokratien aber unter Begründungszwang setzt. Wichtig ist, dass sich solche Fachkollegien dem „Laienverstand“ stellen und auch in hybriden Konstellationen die Kraft des besseren Arguments zur Geltung kommt (Böschen 2005; Schaal/Ritzi 2009).
- In der Diskussion sind ferner Wahlrechts- und Abstimmungsmodalitäten, in denen eine stärkere Zukunftsorientierung eingebaut ist; ein (problematischer) Vorschlag ist die Übertragung von Stimmen auf Eltern von Kindern in der (vermutlich irrigen) Erwartung, dass die mehrfach Stimmberechtigten dann nicht ihre unmittelbaren Gegenwartsinteressen ins Zentrum rücken, sondern die Interessen künftiger Generationen (Stiftung 2009). Public goods (weltöffentliche Kollektivgüter) können im politischen Alltagsgeschäft, das in der Regel von organisierten Interessen mit egoistischen Nutzenkalkülen und kurzfristigem Horizont beherrscht ist, besser Berücksichtigung finden, wenn Bürgerinitiativen, Nicht-Regierungs-Organisationen und soziale Bewegungen, die übergeordnete Ziele vertreten, ein weit reichendes Konsultationsrecht erhalten.
- Schließlich muss man über Reformen des Parteienwesens nachdenken. Zu konstatieren ist in der Bürgergesellschaft einerseits die wachsende Entfremdung vom Betrieb der Berufs- und Parteipolitik, anderseits wächst die Bereitschaft, in umwelt-, energie- und klimapolitischer Hinsicht „von unten“ tätig zu werden. Was (trotz des Aufstiegs grüner Parteien) fehlt, ist die adäquate Bündelung und Vertretung auf der parlamentarischen Ebene, worauf die Akteure angewiesen sind, um ein Gefühl der Selbstwirksamkeit zu erreichen, disparate Ansätze zu kommunizieren und sie in ein übergreifendes Innovationsszenario einzubauen. Das klassische pluralistische Aggregationsmuster beruhte auf zahlender Mitgliedschaft und privater und/oder staatlicher Parteienfinanzierung; es ist fraglich, ob es vor allem den Volksparteien gelingen wird, den verstreuten Keimen und Kernen, den fluiden Netzwerken nachhaltigen Wirtschaftens auch ohne feste Mitgliedschaften den notwendigen Entfaltungsraum zu bieten. Anzuknüpfen wäre hier an bestehende Kommunikationsgemeinschaften, beispielsweise in Arbeitsteams, Berufsvereinigungen, Vereinen, Schulen und dergleichen, die allerdings durch verstreute Massenmedien sehr stark verformt sind.
Fazit: Die Aussicht eines gefährlichen Klimawandels und die Maßnahmen der Klimaschutz- und Klimaanpassungspolitik setzen temporal wie räumlich die Normalform demokratischen Regierens unter Druck. Es besteht aber kein Anlass, die Problemlösungsfähigkeit autoritärer Klimaregime zu preisen. Deren Herausforderung ist eher ein Ansporn für die Modernisierung der Demokratie, ähnlich wie die bis 1990 bestehende Systemkonkurrenz mit den in keiner Hinsicht überlegenen realsozialistischen Staaten. Notwendig ist eine erweiterte Legitimationsbasis für lokale, regionale, nationale und supranationale Regime, durch die Verbesserung der Wissensgrundlagen demokratischer Prozeduren, ihre normativ fundierte und durch alternative Lebensstile gestützte Beschleunigung und die Erhöhung ihrer deliberativen Qualitäten. Mehr und im Sinne von Benjamin Barber „dickere“, nicht weniger Partizipation der Bürgergesellschaft steht somit auf der Tagesordnung.
Literatur
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Ders. 1998: A Place for Us: How to Make Society Civil and Democracy Strong. New York
Böschen, Stefan 2005 : „Reflexive Wissenspolitik: Zur Formierung und Strukturierung von Gestaltungsöffentlichkeiten.“ In: Bogner, A./Torgersen, H. (Hg.): Wozu Experten? Wiesbaden, S. 241263
Brodocz, André/ Llanque, Marcus/ Schaal, Gary S. (Hg.) 2008: Bedrohungen der Demokratie, Wiesbaden
Brusis, Martin 2008: „Reformfähigkeit messen? Konzeptionelle Überlegungen zu einem Reformfähigkeitsindex für OECD-Staaten.“ In: Politische Vierteljahresschrift, Bd. 49, H. 1, S. 92-113
Frey, Bruno/Stutzer Alois 2002: „Prozessnutzen in der Demokratie“. In: Rehbinder/ Usteri (Hg.), Glück als Ziel der Rechtspolitik, Bern, 193-209
Giddens, Anthony 2009: The Politics of Climate Change, Oxford
Günther, Klaus 2006: Politik des Kompromisses. Dissensmanagement in pluralistischen Demokratien, Wiesbaden
Harich, Wolfgang 1975: Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der ‚Club of Rome‘, Reinbek
Kaiser, André/Seils, Eric 2005: Demokratie-Audits. Zwischenbilanz zu einem neuen Instrument der empirischen Demokratieforschung. In: Politische Vierteljahresschrift Bd. 46, H. 1, S. 133-43
Robert O. Keohane/Stephen Macedo/Andrew Moravcsik 2009: „Democracy-Enhancing Multilateralism“. In: International Organization , Bd. 63, H. 1, p. 1-31
Keohane, R. O./Victor, D. G. 2010: The Regime Complex for Climate Change. The Harvard Project on International Climate Agreements. Discussion Paper 10-33. Cambridge, MA
Latour, Bruno 2008: Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer Symmetrischen Anthropologie, Frankfurt/Main
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Luhmann, Niklas 2000: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt/Main
Marshall, Thomas H. 1992: Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates, Frankfurt am Main
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Schaal, Gary S./Ritzi, Claudia 2009: Empirische Deliberationsforschung. Max Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Working Paper 09/9. Köln
Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen 2009: Generationengerechtigkeit, das Wahlrecht durch Eintragung und weitere Beteiligungsrechte von Kindern und Jugendlichen, www.generationengerechtigkeit.de/images/stories/Publikationen/positionspapiere/pp_kinderrechte.pdf
WBGU 2009: Kassensturz für den Weltklimavertrag – Der Budgetansatz, Berlin
WBGU 2010: Klimapolitik nach Kopenhagen: Auf drei Ebenen zum Erfolg, Berlin
Welzer, Harald/ Soeffner, Hans-Georg, Hiesecke, Dana 2010: Klimakulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt am Main