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Radikale und plurale Demokratie

Aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 55-63

Gegenstand des folgenden Beitrags[1] ist die von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelte Konzeption einer radikalen und pluralen Demokratie. In den beiden ersten Abschnitten des Beitrags werden der Hintergrund und die Theorie radikaler Demokratie skizziert. Der dritte Abschnitt rekonstruiert Mouffes Kritik der liberalen und deliberativen Demokratietheorie. Abschließend wird der Frage nachgegangen, inwiefern ihre Theorie in der Lage ist der gegenwärtigen Politikverdrossenheit entgegen zu wirken. Dabei wird auch erörtert, ob die radikale Demokratie dem Anspruch G. Sartoris gerecht wird, wonach der Fortbestand einer Demokratie auf Grundsätzen und Mechanismen beruhen müsse, die „den geistigen Horizont des Durchschnittsbürgers“ (Sartoris 2006:23) nicht übersteigen.

Diagnose

Mit Jörke (2006) kann man von einer Rationalisierung des Demokratiebegriffs im zeitgenössischen Diskurs sprechen. Rationalisierung bedeutet, dass sich eine Verschiebung von der input- bzw. zweckorientierten hin zur output- bzw. mittelorientierten Legitimierung von Demokratie feststellen lässt: „Politische Beteiligung wird nicht als Zweck, sondern als eines mehrerer möglicher Mittel für die Erhöhung des Rationalitätsgrades kollektiv verbindlicher Entscheidungen betrachtet“ (Jörke 2006: 257). Konzepte wie „good governance“, „effektive Problemlösung“ oder „Gemeinwohl“ bestimmen den aktuellen Diskurs. Es wird weniger gefragt, ob eine politische Entscheidung demokratisch (unter Partizipation der Bürger) zustande gekommen ist, sondern ob sie rational ist, ob sie dem Gemeinwohl zugute kommt. Diese Rationalisierungstendenz, die sich in den meisten theoretischen Überlegungen zum Demokratiebegriff findet, lässt sich unter anderem damit erklären, dass immer mehr politische Entscheidungen nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene getroffen werden. Die Einbindung der Bürger in den demokratischen Prozess wird immer aufwendiger und komplexer und setzt bei den Partizipierenden nicht wenig Wissen voraus. Zum Tragen kommt auch ein allgemeines Misstrauen gegenüber dem Volk (welches bekanntlich stets mit „Herz und Magen“ denkt, aber nie mit dem Hirn).

Der Begriff Politikverdrossenheit[2] wird unberechtigterweise gerne mit Parteienverdrossenheit gleichgesetzt und kann nur sehr eingeschränkt als analytischer Begriff gebraucht werden. Bis zum Ende der achtziger Jahre galten nicht nur die Wahlverweigerung und die Zuwendung zum rechtsextremen Spektrum als deutliches Zeichen von Politikverdrossenheit, sondern auch die „Wahl grüner und bunter Listen“ (Arzheimer 2002: 180) und allgemein das Engagement in den so genannten Neuen sozialen Bewegungen. Ab wann man von Politikverdrossenheit spricht, hängt vom jeweiligen Politikverständnis ab. Ähnliches gilt für die Rede von der Krise der Demokratie, die man aus einer anderen Perspektive durchaus als Chance begreifen kann.

Auch Chantal Mouffe, einer Hauptvertreterin der radikalen Demokratietheorie, zufolge befindet sich die liberal-demokratische Demokratie in einer schweren Krise. Sie wird nicht nur von rechten populistischen Strömungen unter Druck gesetzt, sondern es „herrscht selbst unter jenen, die dem Ruf der Demagogen widerstehen, eine ausgesprochen zynische Einstellung gegenüber Politik und Politikern, was einen korrosiven Einfluss auf die Kohäsionskraft demokratischer Werte hat“ (Mouffe 2008: 85).

Stand vor 1989 der orthodoxe Marxismus im Zentrum der radikaldemokratischen Kritik, so sind es heute die deliberative Demokratietheorie und die Politik des so genannten Dritten Weges (Beck/Giddens). Auf die radikaldemokratische Kritik des Dritten Weges kann im Folgenden nicht eingegangen werden. Kurz gesagt, im Verständnis der Radikaldemokratie steht der Dritte Weg für die vollständige Akzeptanz der neoliberalen Dogmen und für den Versuch, die Aushöhlung aller demokratischen Grundwerte als demokratischen Fortschritt zu verkaufen. Die Ideologie des Dritten Weges lässt sich mit dem Akronym TINA (There Is No Alternative) beschreiben. Es wundert wenig, dass eine solche Politik entpolitisierend wirkt. Wenn es keine Alternative zum Bestehenden gibt, gibt es auch keinen Grund für politische Partizipation. (Vgl. Mouffe 2007b)

Radikale und plurale Demokratie

Die Theorie radikaler Demokratie reagiert, wie die deliberative Demokratietheorie, auf die gesellschaftlichen Veränderungen, die allgemein mit den Begriffen Postmoderne oder Spätmoderne bezeichnet werden. Zu den radikaldemokratischen Autoren zählen unter anderem Étienne Balibar, Jacques Derrida, Ernesto Laclau, Claude Lefort, Chantal Mouffe und Jacques Rancière. Diese Autoren und Autorinnen gehen davon aus, dass sich Demokratie nicht mittels des Bezugs auf transzendentale Rechts- oder Vernunftprinzipien gründen lässt. Sie vertreten jedoch unterschiedliche, nicht auf einander reduzierbare Positionen. Die folgende Darstellung orientiert sich an den Arbeiten Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes.

Radikale Demokratie im Sinne Laclaus und Mouffes bedeutet nicht einfach direkte Demokratie oder Basisdemokratie, sondern stellt eine „Reformulierung der liberal-demokratischen Ideologie“[3] (Laclau/Mouffe 1991:224) dar. Laclau und Mouffe möchten eine linke Alternative zum gescheiterten Kommunismus und zur ebenfalls als gescheitert zu betrachtenden Sozialdemokratie aufweisen, ohne den Sozialismus vollständig aufzugeben. Sie entwickeln ihren Demokratiebegriff entlang einer Kritik des Marxismus und aus dem Marxismus heraus, weisen aber ausdrücklich darauf hin, dass der Marxismus nur „eine der Traditionen [ist], aus der heraus es möglich ist, diese neue Politikkonzeption zu formulieren“ (Laclau/Mouffe 1991: 36).

Moderne Demokratie wird durch ein Paradox, durch die unauflösbare Spannung zwischen Demokratie und Liberalismus, bestimmt. „Was also modern an der modernen Demokratie ist, das ist die Artikulation zweier heterogener Traditionen: der liberalen, die nicht notwendigerweise demokratisch ist, und der demokratischen, die nicht notwendigerweise liberal ist.“ (Marchart 2008: 11) Die wichtigsten Werte der demokratischen Tradition sind Gleichheit und Volkssouveränität, die der liberalen Tradition lauten dagegen individuelle Freiheit und Menschenrechte. Das, was die radikale Demokratie auszeichnet, ist ihr Verhältnis zu diesem Paradox: Sie versucht gerade nicht, diese beiden Traditionen miteinander zu versöhnen, sondern sieht in diesem Paradox den eigentlichen Kern der modernen Demokratie. Das Verhältnis zwischen Demokratie und Liberalismus muss immer wieder aufs Neue ausgehandelt, neu artikuliert werden.

Der Diskurs der radikalen Demokratie ist anti-essentialistisch in zweierlei Hinsicht: Weder der klassische Essentialismus – Laclau und Mouffe sprechen vom „Essentialismus der Totalität“ – noch der „Essentialismus der Elemente“, dass heißt die „postmoderne Konzeption einer Fragmentierung des Sozialen, die sich weigert, den Fragmenten irgendeine Art relationaler Identität zu geben“ (Laclau/Mouffe 1991: 28), können Grundlage demokratischer Politik sein. Beispiele für Essentialismen der Totalität sind der Marxismus und Francis Fukuyamas Versuch, die Demokratie in der menschlichen Natur zu gründen. Zwar ist dem Marxismus spätestens seit Kautsky klar, dass die Arbeiterklasse, um sich als Klasse bewusst zu werden, auf die Vermittlung von Intellektuellen angewiesen ist, diese Vermittlung hatte jedoch eine „epistemologische Basis: sozialistische Intellektuelle lasen in der Arbeiterklasse deren objektive Bestimmung“ (Laclau/Mouffe 1991: 134). Die „Arbeiterklasse“ hat eine Identität (an sich), derer sie sich nur noch bewusst werden muss (für sich). Francis Fukuyama geht davon aus, dass die Demokratie diejenige Regierungsform sei, die der menschlichen Natur am ehesten entspricht. Aus diesem Grund sei die Demokratie überall auf der Welt auf dem Vormarsch. Fukuyama gründet damit die Demokratie in der (objektiven) Natur des Menschen.

Beispiele für Essentialismen der Elemente sind der postmoderne und der liberale Pluralismus. Beide gehen von einer vollständigen Gleichberechtigung aller Elemente aus und verlieren dabei die Machtverhältnisse aus den Augen.

Verfehlt wird von all diesen Essentialismen das eigentliche Wesen der Gesellschaft, ihre antagonistische Natur, durch die der Kampf um den „leeren Ort der Macht“ (Lefort) auf Dauer gestellt wird. Beide Essentialismusformen denken Gesellschaft als Totalität, entweder als organische Totalität (die Gesellschaft ist ein Ganzes und jeder hat in diesem Ganzen einen Platz) oder als Totalität der Elemente (die Gesellschaft ist nicht mehr als ihre Teile).

Auch wenn in einer Demokratie niemand von sich behaupten kann, über die „Macht der Gründung“ zu verfügen, bleiben Machtverhältnisse für demokratische Gesellschaften konstitutiv. Die Idee einer machtfreien Gesellschaft lehnen Laclau und Mouffe ab; Aufgabe radikaler Demokratie sei es nicht, auf eine machtfreie Gesellschaft hinzuarbeiten, sondern Machtformen zu entwickeln, die mit den demokratischen Werten vereinbar sind (vgl. ebd.). Das, was wir als soziale Objektivität wahrnehmen, ist immer ein Produkt von Machthandlungen.[4]

Die Theorie radikaler Demokratie versteht die Identität eines Individuums als von den Machtverhältnissen bestimmt, in denen es sich bewegt. Die Macht konstituiert die Identitäten überhaupt erst, das heißt, es gibt keine vorgängigen Identitäten, keine Essenz, die sich repräsentieren ließe. Jeder Akteur verändert im Moment seines Eintritts in einen Diskurs seine Identität. „Wenn beispielsweise eine ‚rassische‘ oder kulturelle Minorität ihre Identität unter neuen sozialen Verhältnissen behaupten will, wird sie neue Situationen einberechnen müssen, die unausweichlich diese Identität transformieren.“ (Laclau 2002: 58)

Die gesellschaftstheoretische Grundannahme von Laclau und Mouffe lautet, dass so etwas wie die Gesellschaft nicht existiert (vgl. Laclau/Mouffe 1991: 143) und deswegen auch nicht objektiv repräsentiert werden kann. Die Nichtrepräsentierbarkeit und die Undurchsichtigkeit des Sozialen avancieren zu den Bedingungen von Demokratie selbst (vgl. Laclau 2002: 125-149). Gäbe es Gesellschaft als solche, als objektiv beschreibbare, so gäbe es keine Politik, da sich dann in letzter Konsequenz alle politischen Fragen auf epistemologische Fragen reduzieren ließen: „da es einen Grund des Sozialen vor jeder sozialen Auseinandersetzung gibt, setzt sich am Ende derjenige mit dem richtigen Wissen durch. Politik ist dann nicht eine Sache radikaler Konstruktion, sondern vielmehr die dialektisch-sokratische Betrachtungsweise dessen, was essentiell ist.“ (Laclau/Mouffe 1991: 30) Gegen diese – in der Theorie lange überholte, aber alltagspraktisch noch sehr lebendige – Vorstellung argumentieren Laclau und Mouffe diskurstheoretisch.

Das Denken von Laclau und Mouffe ist, über den Umweg des Marxismus, eher von Hegel als von Kant geprägt. Sie distanzieren sich zwar von Hegel, ihr Subjekt- und Gesellschaftsbegriff ist aber eindeutig dialektischer Natur. Mit den beiden Namen Kant und Hegel ist das Feld der Auseinandersetzung bereits benannt. In nuce kann man sagen, dass in den an Kant orientierten Theorien ein Subjekt „als vorpolitische Kategorie dem eigentlichen politischen Geschehen, über dessen angemessene institutionelle und rechtliche Einbettung nachgedacht werden soll, vorausgesetzt wird“ (Flügel-Martinsen 2008: 127). Hegel versteht dagegen das Subjekt nicht als etwas Zeitloses, sondern als das Produkt sozialer Strukturen.

Im Verständnis Laclaus und Mouffes sind Diskurse das Produkt von Artikulationen. Eine Artikulation ist eine „politische Konstruktion von ungleichen Elementen“ (ebd.). Die Artikulation erzeugt einen Diskurs, in dem die Elemente in einem notwendigen Verhältnis zueinander stehen; sie legt fest, was sich sagen lässt und was nicht. Eine durch die Artikulation erzeugte diskursive Totalität bestimmt zwar alle in ihr enthaltenen Momente, sie ist aber lediglich eine mögliche Artikulation. Kein Diskurs ist in der Lage, die Identität seiner Momente auf Dauer vollständig festzulegen. Auch wird eine Gesellschaft immer von unterschiedlichen Diskursen bestimmt. Laclaus und Mouffes Diskursbegriff ist sozusagen in der Mitte zwischen den beiden Essentialismusformen angesiedelt. Ein Diskurs etabliert auf der einen Seite einen Verweisungszusammenhang, der alle seine Elemente bestimmt, also totalisiert, auf der anderen Seite ist es zufällig, wie der Diskurs artikuliert wird.

Eine Artikulation wird hegemonial, wenn es ihr gelingt, immer weitere Bereiche der Gesellschaft ihrem Deutungsmuster zu unterwerfen. Hegemoniale Diskurse geben der Gesellschaft ein Zentrum, das heißt sie erwecken den Anschein, dass sie in der Lage sind zu sagen, was die Gesellschaft wirklich ist beziehungsweise was ihr fehlt. Laclau und Mouffe sprechen von hegemonialen Knotenpunkten, ein Konzept, das sie von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan übernommen haben. Ein hegemonialer Knotenpunkt ist ein Zentrum, von dem aus alle anderen Elemente des Diskurses ihre Bedeutung erhalten.

Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Der Signifikant Solidarnosc(Solidarität) avancierte in Polen vom Namen einer Gewerkschaft, die die besonderen Interessen der Arbeiter vertrat, zum Ausdruck des Verlangens beinahe aller Polen. Bedingung dafür, dass dieser Signifikant weiten Teilen der polnischen Gesellschaft ein Zentrum geben konnte, ist seine zunehmende Entleerung. Zwar stand Solidarnoscanfangs für das Verlangen einer bestimmten Gesellschaftsgruppe, aber der Anteil der Bevölkerung, der sich mit diesem Signifikanten identifizieren konnte, nahm stetig zu (Kirchen, Intellektuelle …). Mit dieser Ausweitung verliert der Signifikant zunehmend an konkreter Bedeutung. Der entleerte Signifikant Solidarnosc steht zuletzt nicht mehr für die Bestimmung dessen, was genau Solidarität ist, sondern für die allgemeine Ablehnung von allem Unsolidarischen. Geeint wurde die Solidarnosc-Bewegung nicht durch den Bezug auf etwas allen Gemeinsames, sondern durch die gemeinsame Ablehnung des bestehenden Systems aus den unterschiedlichsten Gründen. Es ist nicht notwendig, eine positive Bestimmung von Solidarität zu entwickeln, wenn man weiß, was unsolidarisch ist.

Mouffes Kritik der delibe­ra­tiven Demokra­tie­the­orie (Habermas) und des Konsti­tu­ti­o­na­lismus (Rawls)

Deliberation und Demokratie gehören seit der Antike zusammen. Die deliberative Demokratietheorie ist eine Reaktion auf das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich durchsetzende „aggregative Modell“ (Joseph Schumpeter) von Demokratie. Das Aggregationsmodell versucht, mit den Herausforderungen der Massendemokratie umzugehen; es geht davon aus, dass „mit der Entwicklung der Massendemokratie“ die „Volkssouveränität, wie sie im klassischen Demokratieverständnis verstanden wurde, inadäquat geworden“ (Mouffe 2008: 86) sei. Der Fokus verschiebt sich vom Volk auf die Partei. Das aggregative Modell verfährt deskriptiv und nicht normativ, es geht davon aus, dass Begriffe wie „Allgemeinwillen“ oder „Gemeingut“ in pluralen Gesellschaften an Relevanz verlieren und auf „[p]opulare Partizipation in der Entscheidungsfindung“ (ebd.) möglichst verzichtet werden sollte. Das Erzielen von Interessenskompromissen ermögliche eher Stabilität und Ordnung als Versuche, einen Konsens bezüglich des Gemeinguts zu erreichen. Auf den mit diesem Modell einhergehenden Verlust der normativen Dimension reagierten unter anderen zwei der bekanntesten politischen Theoretiker, Jürgen Habermas und John Rawls.

Der an Kant orientierte Subjektbegriff ist Laclau und Mouffe zufolge nicht nur allgemein ein Schwachpunkt der liberalen Demokratietheorie, sondern er bestimmt auch das politische Denken von Rawls und Habermas. Deren Subjekt- und Gesellschaftsbegriff sei defizitär, er habe mit der Lebenswelt der Menschen nur wenig zu tun. Die liberale Demokratietheorie basiert auf Rationalismus, Individualismus und einem abstrakten Universalismus. Im liberalen Szenario werden politische Akteure als rationale Individuen betrachtet, die nur in ihrem Eigeninteresse handeln – bestenfalls eingeschränkt durch Moralität. Das von den Leidenschaften gesäuberte Reich der Politik wird als Feld konkurrierender Interessen konzipiert.“ (Mouffe 2007a: 42)

Die deliberative Demokratietheorie im Ausgang von Habermas reagiert auf die mit dem Aggregationsmodell einhergehende Entfremdung der Bürger von der Demokratie. Einerseits akzeptiert die deliberative Demokratietheorie den weltanschaulichen Pluralismus als unhintergehbar, andererseits gibt sie aber den Glauben an einen moralischen Konsens nicht auf. Rawls argumentiert dagegen konstitutionalistisch, das heißt, er geht davon aus, dass bestimmte Grundsätze dem demokratischen Prozess vorhergehen und diesem überhaupt erst seine Legitimation verleihen. Die Ideen von Freiheit und Gleichheit sind in diesem Verständnis notwendige Voraussetzung für die Demokratie, die genaue Ausarbeitung dieser Ideen ist Aufgabe der politischen Theorie. Rawls und Habermas versuchen beide auf unterschiedliche Art und Weise, die liberale (Freiheit) und demokratische (Gleichheit) Tradition miteinander zu versöhnen.

Habermas kritisiert Rawls‘ Ansatz als undemokratisch, da Prinzipien in die Verfassung Eingang finden, die nicht der demokratischen Kontrolle unterworfen sind. Habermas argumentiert prozeduralistisch: dem demokratischen Prozess werden keine Prinzipien vorausgesetzt, sein Verlauf muss aber bestimmten Verfahrensprinzipien gerecht werden. Reiner Prozeduralismus, so Rawls‘ Kritik, weist jedoch keine „konstitutionellen Grenzen“ auf, verbindlich ist das, „was eine Mehrheit (oder sonst eine Vielzahl) beschließt“ (Rawls 1985: 226f.). Gegen diese Willkürgefahr setzt Habermas den rationalen Diskurs: Recht kann nur dann demokratisches Recht sein, wenn es „die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden“ (Habermas 1986: 12) kann. In einem solchen rationalen Diskus wird geprüft, „ob eine strittige Norm die Zustimmung aller findet oder finden könnte“ (Habermas 1994: 134). Für Habermas stehen Rechtsstaat und Demokratie nicht im Widerspruch zueinander, sondern hängen direkt voneinander ab, er begreift individuelle Rechte und Volkssouveränität als gleichursprünglich. Rawls wie Habermas geht es nicht einfach um das Erreichen eines Konsenses, verstanden als Übereinstimmung, erzielt werden soll vielmehr ein rationaler Konsens.

Die Deliberation ist in ihrer Reichweite eingeschränkt, da sich nicht alle gesellschaftlich relevanten Fragen mittels des Bezugs auf eine allgemeingültige Rationalität beantworten lassen. Was man beispielsweise unter einem guten Leben versteht, ist von subjektiven, nicht verallgemeinerungsfähigen, Prämissen abhängig. Grundlegende politische Fragen, genau wie moralische Fragen, sind dagegen unabhängig von ihrem Kontext nach Habermas rational beantwortbar. Die deliberativen Theorien folgen dem Aggregationsmodell insofern, „dass unter modernen Bedingungen eine Pluralität von Werten und Interessen berücksichtigt werden und auf Konsens bezüglich dessen, was Rawls umfassende Vorstellungen religiöser, moralischer oder philosophischer Natur nennt, verzichtet werden muss“ (Mouffe 2008: 92). Dieser Verzicht verunmöglicht es aber nicht, politische Fragen, die verallgemeinerungsfähig sind, rational zu beantworten. „Gesetzt, die Prozeduren der Deliberation sichern Unparteilichkeit, Gleichheit, Offenheit und die Abwesenheit von Zwang, so werden sie die Deliberation in Richtung verallgemeinerungsfähiger Interessen führen, auf die sich alle Teilnehmer einigen können, was legitime Ergebnisse produziert.“ (Ebd.)

Mouffe betrachtet es als eine Schwäche dieser Theorien, dass sie zwar den Wertepluralismus anerkennen, gleichzeitig aber versuchen, einen (kommunikativen) Bereich auszuweisen, in dem dieser keine Gültigkeit besitzt, und es deswegen möglich ist, einen echten Konsens zu erzeugen. Rawls unterscheide zwischen Öffentlichem und Privatem, Habermas zwischen Prozedur und Substanz respektive zwischen Moral und Ethik. Beide versuchen so den Bereich des Politischen vor dem Wertepluralismus zu schützen. Keiner von ihnen kann diese Trennung aber wirklich aufrechterhalten. Beide Autoren, so Mouffe, verfehlen das paradoxe Wesen der modernen Demokratie: Sie versuchen, die Spannung zwischen „der Logik der Demokratie und der Logik des Liberalismus“ (Mouffe 2008: 95) aufzuheben. Die Theorie radikaler Demokratie kennt dagegen keinen Bereich, der dem Wertepluralismus entzogen wäre, weder Prozeduren noch Prinzipien. Dem Bereich des Politischen ist nichts vorgängig, es gibt nichts, das als normatives Reservoir dienen könnte. „Aus dieser Perspektive betrachtet hängt das Zugehörigkeitsgefühl zur Demokratie und der Glaube an den Wert ihrer Institutionen nicht davon ab, dass ihnen ein intellektuelles Fundament gegeben wird. Sie sind in ihrer Natur dem näher, was Wittgenstein ‚Das leidenschaftliche Sich-entscheiden für ein Bezugssystem‘ nennt“ (Mouffe 2008: 99).

Wirkung

Kann die/der Durchschnittsbürger/in die Theorie radikaler Demokratie verstehen? Vielleicht – wahrscheinlich aber nicht. Wäre ein Nichtverstehenkönnen ein ernsthafter Einwand gegen die radikale Demokratie? Sicher nicht. Für den Laien sind die radikale Demokratie und die Demokratietheorien von Habermas und Rawls unverständlich, die Prinzipien, um die es geht, sind dagegen jedem geläufig. Der liberale politische Philosoph Richard Rorty schreibt: „Diskussionen über allgemeine philosophische Fragen können nicht der Gegenstand der täglichen Politik sein; dies bedeutet jedoch nicht, dass sie unwichtig wären; denn das, was wir für unsere Antworten auf diese Fragen halten, prägt unsere tieferen Einstellungen gegenüber der öffentlichen Kultur und dem politischen Handeln.“ (Rorty nach Mouffe 2008: 49). Ziel der radikalen Demokratie ist es nicht nur, die Bürger stärker in den Prozess der politischen Entscheidungsfindung einzubeziehen, sondern die Etablierung eines neuen Politikverständnisses. Dazu muss sich aber nicht nur das Politikverständnis der Bürger verändern, sondern auch das ihrer Repräsentanten. Gegenwärtig zeichnen Konsens statt Dissens, geschlossene Reihen statt innerparteilicher Diskussion, pragmatisches Handeln (Sachzwanghandeln) statt politischem Gestaltungswille die heutige Politik aus. Der Demokratiebegriff bestimmt in nicht geringem Umfang, was als politisch machbar begriffen wird und was nicht, was politisch legitim ist und was nicht. Eine andere Demokratie muss nicht nur gelebt, sondern auch gedacht werden.

Bedingt durch die zunehmende – von der Radikaldemokratie bejahte – Pluralisierung wird es jedoch immer schwerer, ein hegemoniales Projekt zu etablieren. Das ist auf der einen Seite positiv, da so die Bedrohung der Demokratie durch den Totalitarismus geringer wird, auf der anderen Seite wird dadurch jede politische Veränderung erschwert und der status quo zementiert. Laclau und Mouffe haben auf die „Politikverdrossenheit“ keine Antwort, die sich in ein Wahlprogramm schreiben und einfach umsetzen ließe. Sie sind aber der festen Überzeugung, dass eine andere Art von demokratischer Politik möglich ist und dass sich dafür zu kämpfen lohnt.

[1] Für Hinweise und Kritik danke ich der Projektgruppe Radikaldemokratie des Heidelberger Instituts für Kulturforschung (www.radikal-demokratie.de  insbesondere Carsten Bünger, Jan Müller, Jan Schäfer, Felix Trautmann, Andreas Wagner, Marc Ziegler) und Matthias Schönberg.

[2] Vgl. zum Begriff „Politikverdrossenheit“ und den ihm zeitlich vorausgehenden Konzeptionen Arzheimer 2002.

[3] Ideologie wird von Laclau in einem nicht pejorativen und weiten Sinne verstanden: Sie „ist eine Dimension, die zur Struktur jeder möglichen Erfahrung gehört“ (Laclau 2002: 191; vgl. Laclau 2007: 39).

[4] In Habermas‘ Modell ist das Ausüben von Macht generell undemokratisch. Je weniger machtbestimmt eine soziale Beziehung ist, desto demokratischer ist sie. Laclau und Mouffe gehen dagegen davon aus, „dass es die Machtbeziehungen selbst sind, die das Soziale konstituieren“ (Mouffe 2007a: 44).

Literatur

Arzheimer, Kai 2002: Politikverdrossenheit. Bedeutung, Verwendung und empirische Relevanz eines politikwissenschaftlichen Begriffes, Wiesbaden, VS-Verlag

Flügel-Martinsen, Oliver 2008: Grundfragen politischer Philosophie. Baden-Baden, Nomos

Habermas, Jürgen 1986: Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?, in: Ders.: Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt am Main 1991, Suhrkamp, 9-30

Habermas, Jürgen 1994: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtstaats, Frankfurt a. M., Suhrkamp

Jörke, Dirk 2006: Wie demokratisch sind radikale Demokratietheorien?, in: Heil, Reinhard / Hetzel, Andreas (Hg.). 2006: Die unendliche Aufgabe – Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie. Bielefeld, transcript, S. 253 -266

Laclau, Ernesto 2007: Ideologie und Post-Marxismus, in: Nonhoff, Andreas (Hg.) (2007): Diskurs radikale Demokratie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld, transcript, S. 24-39

Laclau, Ernesto 2002: Emanzipation und Differenz, Wien, Turia und Kant

Laclau, Ernesto / Mouffe, Chantal 1991: Hegemonie und radikale Demokratie: zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, Passagen

Marchart, Oliver 2008: Äquivalenz und Autonomie. Vorbemerkungen zu Chantal Mouffes Demokratietheorie, in: Mouffe, Chantal, 2008: Das demokratische Paradox. Wien: Turia und Kant, S. 7-14

Mouffe, Chantal 2008: Das demokratische Paradox, Wien, Turia und Kant

Mouffe, Chantal 2007a: Pluralismus, Dissens und demokratische Staatsbürgerschaft; in: Nonhoff, Andreas (Hg.). 2007: Diskurs radikale Demokratie Zum politischen Denken von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Bielefeld, transcript, S. 41-53

Mouffe, Chantal 2007b: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion, Frankfurt a. M., Suhrkamp

Rawls, John 1985: Justice as Fairness. Political not Metaphysical, in: Philosophy and Public Affairs, S. 223-251

Sartori, Giovanni 2006: Demokratietheorie, Darmstadt, WBG

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