Gewöhnung an die Mediokratie?
Aus: vorgänge Nr. 190, Heft 2/2010, S. 92-99
Es gibt Begriffe, Thesen und Theorien, die schon durch den bloßen Ablauf der Zeit an Gewicht und Interesse verlieren, durch die Gewöhnung an sie und die Zustände, auf die sie sich beziehen, obgleich sie fortwirkend Beunruhigendes zum Inhalt haben. Auch Gegebenheiten, die untragbar sind, aber ungerührt aller Kritik trotzen, können denselben Effekt auslösen wie hart gesottene Skandalpolitiker, wenn diese sich nur lange genug im Sattel halten. Von einem bestimmten Zeitpunkt an scheinen sie gegen alle Kritik immun. Diese gewinnt wie zum Hohn dann womöglich auch noch den Anschein des Uneinsichtigen, borniert Gestrigen. Don’t worry, be happy. Vieles spricht dafür, dass dies für den analytische Begriff der Mediokratie und die für die Demokratie verhängnisvolle Transformation der Öffentlichkeit, die er beschreibt, in exemplarischer Weise zutrifft. Im Wissenschaftsbereich beginnt die in Wahrheit gänzlich unabgegoltene Kritik allmählich zu verstummen und wer nicht als begriffsstutziger Nachzügler erscheinen will, setzt die höchst fragwürdigen Verhältnisse, mit denen wir es im Dreieck von Politik, Massenmedien und Publikum heute zu tun haben, als eine Art unhintergehbarer Realität für alles Weitere voraus.
Hin und wieder melden sich zutiefst frustrierte Journalisten mit gepfefferten Pamphleten zu Wort, die es mitunter sogar in die Hitlisten des Verkaufserfolges schaffen, aber in ihren Wirkungen auf den Journalismus, die Politik, das Publikum eigenartig folgenlos bleiben. Ist die fundamentale Kritik an der Mediokratie zu deren festem Bestandteil geworden?
Dabei geht es ja keineswegs um Kleinigkeiten oder um einen doktrinären Purismus, der nicht kapieren will, dass mediale Aufmerksamkeit und Politikvermittlung nun einmal an die Erfüllung von Aufmerksamkeitsbedingungen geknüpft sind, die Unterhaltsamkeit groß schreiben. Es geht auch nicht darum, dass gute Politik die attraktive Selbstinszenierung nicht scheuen muss. Das Problem sitzt tiefer und es droht sich auf Kosten der demokratischen Qualität von Öffentlichkeit zu verschärfen.
Eine kopernikanische Wende
Seit geraumer Zeit sind wir Zeugen einer folgenreichen Transformation der politischen Kommunikationsverhältnisse. Die Parteiendemokratie klassischen Zuschnitts wird zur Mediendemokratie, und wer genauer hinschaut sieht: sie wird zur Mediokratie, zur Herrschaft der medialen Kommunikationsgesetze über Öffentlichkeit und Politik. Die Regeln der medialen Politikdarstellung, unterhaltsam, dramatisierend, personalisiert und mit Drang zum Bild, allesamt der Darstellungskunst des Theaters entlehnt, greifen auf das politische Geschehen selbst über. Die Selektion spektakulärer Ereignisse, die effektsichere Inszenierung der Profis, die weite Teile des Mediensystems bestimmen, regieren zunehmend auch die Politik, nicht lediglich ihre Darstellung, sondern schon den Prozess ihrer Herstellung. Während in der Parteiendemokratie die Medien die Politik beobachten sollten, damit sich die Staatsbürger eine vernünftige Meinung von ihr bilden konnten, beobachten in der Mediendemokratie die politischen Akteure und ihre Berater das Mediensystem, um zu lernen, was sie tun und wie sie sich präsentieren müssen, um auf der Medienbühne einen unangefochtenen Platz zu gewinnen. Auf diese Weise vollzieht sich eine tief greifende Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem, die deren eigene Spielregeln aushebelt. Das geschieht nicht in erster Linie durch einzelne mediale Akteure und ihre speziellen Machtinteressen, sondern durch die Regeln, denen nun alle folgen, die am Aufmerksamkeits-Markt der Öffentlichkeit erfolgreich sein wollen.
Kern der Veränderung ist eine weitgehende Überlagerung der beiden Systeme „Politik“ und „Medien“. Sie geht zu einem erheblichen Teil aus der Wirkungsweise ihrer jeweiligen Funktionsgesetze selbst hervor. Der Zweck von Politik ist die Herstellung gesamtgesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen auf demokratischem Weg. Politiksucht aus Legitimationsgründen die Öffentlichkeit, um durch Zustimmung der Meisten Legitimation zu gewinnen. In den unüberschaubar komplexen Gesellschaften der Gegenwart benötigt sie dazu die Massenmedien. In diesem Sinne ist Öffentlichkeit in der Demokratie die entscheidende Machtressource. Das große Problem der Mediokratie beginnt damit, dass die Massenmedien bei jeglicher Darstellung von Politik unvermeidlich ihrer eigenen Logik folgen, um ihrem gesellschaftlichen Funktionszweck, nämlich der Erzeugung von größtmöglicher Aufmerksamkeit für gemeinsame Themen, zu dienen und zwar umso ausschließlicher, je mehr sie am Tropf der Publikumsmärkte hängen.
Die Logik der Massenmedien unterscheidet sich von der komplexen und zeitaufwendigen Logik demokratischer Politik von Grund auf. Sie resultiert aus der Wechselwirkung von zwei aufeinander abgestimmten Regelsystemen. Das erste ist die Selektionslogik, die die Auswahl berichtenswerter Ereignisse so genannten „Nachrichtenwerten“ unterwirft. Es sind vor allem die folgenden: Personalisierung, Prominenz der handelnden Personen, kurze Dauer des Geschehens, Überraschungswert im Rahmen eingeführter Großthemen, Konflikt, Schaden, ungewöhnliche Erfolge und Leistungen, Kriminalität, räumliche, politische und kulturelle Nähe zum Betrachter. Der Nachrichtenwert eines Ereignisses gilt allen Massenmedien als umso größer, je mehr dieser Faktoren auf es zutreffen.
Das zweite Regelsystem, die Präsentationslogik, besteht aus einem Kanon von Attraktion steigernden Inszenierungsformen für das so ausgewählte Nachrichtenmaterial, um die Maximierung eines anhaltenden Publikumsinteresses zu sichern. Und zwar nicht nur beim Einschalten und Aufblättern, sondern die ganze Zeit. Es herrscht das Gesetz der spannungsreichen theatralischen Inszenierung. Deren Repertoire begrenzt sich in fast allen Medienprodukten, gleichermaßen im Print- und Funkbereich, auf wenige Grund-Modelle. Am häufigsten anzutreffen sind: Personifikation, mythischer Heldenkonflikt, Drama, archetypische Erzählung, Wortgefecht, Sozialrollendrama, symbolhafte Tat, Unterhaltungs-Artistik und sozialintegratives Nachrichtenritual.
Es ist das Zusammenwirken dieser beiden Filter, mit Variationen von Medium zu Medium, das die spezifische Logik des Mediensystems ausmacht. Ihr ist alles unterworfen, was das Mediensystem hervorbringt. Sie wirkt als eine zwingende Prä-Inszenierung, die den Zugang zu den Medienbühnen regelt, eine Art apriori der Medienkommunikation.
Das Dilemma ist offensichtlich: Politische Logik und Medienlogik passen nicht recht zusammen. Das letzte Wort hat jedoch immer die Medienlogik, denn die Politik muss auf die Medien-Bühnen, entweder durch ihre Fremddarstellung seitens der Medien, ob sie will oder nicht, oder durch eine vorauseilende Selbstdarstellung, wenn sie das Heft so gut wie eben möglich in der Hand behalten will. Auf Seiten der Politik führt die Schlüsselrolle des Mediensystems für die Erzeugung von Legitimation zur Vermehrung und zur Professionalisierung der Anstrengungen, ein Höchstmaß an Kontrolle über die Darstellung des eigenen Tuns und Lassens im Mediensystem zurückzugewinnen. Zu diesem Zweck mediatisiert sie sich mit Energie und professionellem Rat aus Leibeskräften selbst, sie wird auf weiter Strecke zum „Politainment“. Und zwar in jeder Hinsicht: quantitativ und qualitativ. Die Unterwerfung der politischen Logik unter die Medienlogik erfolgt in den Formen der Inszenierung sowie der Auswahl von Themen, Problemlösungen und Personen.
Die Selbst-Mediatisierung ist ein ironisch dialektischer Vorgang. Die Politik unterwirft sich den Regeln der Medien, aber nur um auf diesem Wege die Herrschaft über die Öffentlichkeit zu gewinnen. Und zwar nicht erst nach der getanen Arbeit der Herstellung der Politik, sondern schon ganz am Anfang, wenn es um die Frage geht, was überhaupt hergestellt werden soll, sozusagen was am Medienmarkt verkäuflich ist. Und dann – da die Herstellung der Politik ja nicht im Verborgenen abläuft – in allen Phasen ihres Produktionsprozesses.
Vorstellung des Publikums, um die es bei der Hervorbringung politischer Legitimation letztlich geht, folgt ja nicht aus der Herstellung des politischen Produkts, sondern aus seiner Darstellung, die es erst sichtbar macht – außer freilich den großen Krisen, in denen die Wirklichkeit dem Publikum an allen Filtern vorbei auf den Leib rückt. Im Normallauf kommt die Vorstellung von der Herstellung allein aus ihrer Darstellung. Der analytische Begriff Mediokratie zielt auf den Sachverhalt, dass die mediale Darstellbarkeit zunehmend die ganze Politik regiert und deren eigene Logik in Abhängigkeit davon gerät. Dies geschieht aufgrund der Überzeugungen der politischen Akteure unabhängig davon, ob die Massenmedien wirklich die große Bedeutung für die Vorstellung der Politik im Publikum haben, die sie ihnen zuschreiben. Die professionelle Selbstmediatisierung der Politik nach den Regeln der medialen Aufmerksamkeitslogik ist qualitativ und quantitativ zu einer der Hauptaktivitäten des politischen Systems geworden. In Europa scheint sie nach dem Wegfall des Systemwettbewerbs zu einer Art Ideologieersatz geworden zu sein. Sie verfügt dabei über drei basale Inszenierungsstrategien, die in wechselndem Maße mit Anteilen wirklich vollzogener Herstellungspolitik versetzt sein können. Inszenierung kann, muss aber nicht, auch der schöne Schein des Realen sein. Ihre virtuos gehandhabten Wunderwaffen sind: Event-Politik (Scheinereignisse), Image-Projektion und Scheinhandlung.
Tektonische Verschiebungen im Fundament der Politik
Es geht aber nicht nur um die Entkoppelung der Darstellung von der Herstellung, sondern um die Veränderung des politischen Gefüges im Ganzen. Die Logik der Mediendemokratie drängt im Normallauf die Parteien und andere vertikale Diskursformationen zwischen Gesellschaft und Staat auf der ganzen Linie an den Rand des Geschehens, auch wenn sie durch ihre Aktivitäten auf der kommunalen Ebene und als politisches Richtungs-Ambiente der Spitzenakteure weiterhin im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit bleiben. Die Medienlogik folgt nämlich einem hartgesottenen Präsentismus. Was zählt, ist nur das Neueste, der gegenwärtige Augenblick, ereignisgeladen. Das Jetzt reiner Echtzeit regiert Interesse und Tempo der Massenmedien. Gestern und Morgen verblassen, für lange Prozesse haben die Medien keine Zeit. Die Parteien, ja das ganze intermediäre System der Vereine, Organisationen und Initiativen, in denen Projekte und Lösungen in langen Beratungen, Verhandlungen, Kompromissen allmählich reifen, also die langsame Zeit der Demokratie selbst, finden keine Gnade vor den Gesetzen der Medienwelt.
Unter dem Druck der ultraschnellen Medienzeit mit ihrem Zwang zur jederzeitigen Sofort-Reaktion ergibt sich die Verdrängung von Mitgliederparteien und Diskurs aus dem Zentrum der Politik fast von selbst. Die schnelle Umfrage, der die passende Inszenierung der sichtbarsten Spitzenakteure auf dem Fuße folgt, ersetzt den abwägenden Diskurs, obgleich doch alle wissen, dass die rasch geäußerte Meinung vor dem gründlicheren öffentlichen Gespräch ihrerseits oft nicht viel mehr sein kann als das Echo der Medieninszenierung bei ihren flüchtigen Betrachtern.
Mit der Vorrangrolle der Medien bei der Auswahl möglicher Spitzenkandidaten vor der innerparteilichen Willensbildung der Parteien, die im Wechselspiel zwischen Medienresonanz, Wahlerfolgen und Kandidatenunterstützung geschieht, ist den politischen Parteien dann auch noch diejenige „Krönungs-Funktion“ aus der Hand genommen, die ihre zentrale Rolle mitbegründet hat und ihnen das Gewicht einer letzten Richtungskontrolle im politischen Prozess verschaffte. Nun büßen sie ihren kontinuierlichen Einfluss auf die Tagespolitik, ein Stück demokratischer Kontrolle der Politik durch die Gesellschaft, unter dem doppelten Druck von Medienzeit und Medienlogik weitgehend ein. Und auch der Parlamentarismus selbst gerät durch diese Logik in Bedrängnis. Die Fraktionen können oft nur noch nachvollziehen, was ihre Spitzen in der Medienarena längst verkündet haben – jedenfalls solange diese Erfolg damit haben.
Kein Zweifel, Inszenierungen können auch Inhalte transportieren, und zwar breiter als jede trockene Darlegung. Das wäre ihr demokratisches Potential. Für die Demokratie wirft die Ambivalenz der Inszenierungspolitik zwischen gefälliger Einladung zum Inhaltlichen und reinem Placebo in dem Maße ernste Probleme auf, wie die Unterschiede öffentlich verschwimmen und die Darstellungsregeln den ganzen politischen Prozess beherrschen.
Die vorherrschende Art der Inszenierung von Politik hat für die Republik vor allem zwei Folgen. Die eine ist die Abkoppelung der inszenierten Öffentlichkeit vom tatsächlichen politischen Geschehen, die Verselbständigung der Darstellung gegenüber der Herstellung. Sie erzeugt irreführende Vorstellungen vom Politischen und schmälert die Grundlagen der politischen Urteilsbildung beim Bürger. Die deliberative Qualität des öffentlichen Raumes wird durch seine falsche Ästhetisierung in Frage gestellt. Die andere Folge besteht in einer tief greifenden Veränderung der politischen Logik selbst. Die Marginalisierung von Parteien, Zivilgesellschaft und Parlamenten verändert und mindert die Qualität des politischen Prozess selbst. Die lange Zeit der deliberativen Demokratie hat kaum noch eine Chance in der schönen, neuen Medienwelt. Am Ende bleiben allein die strategischen Kommunikationsspitzen auf der Bühne zurück, die sich sozusagen als politische Kommunikationsunternehmer selbständig machen, unabhängig sogar von ihren eigenen Parteien. Das ist die politische Christiansen-Welt.
Viele Einzelbeispiele zeigen freilich: Politainment kann auch anders sein: inszeniert und der Sache angemessen, unterhaltsam und informativ. Und hier liegt der Unterschied zwischen der generellen Kulturkritik und der empirischen Analyse der Mediokratie. Inszenierungen können, wenn die Medienakteure es darauf anlegen, Ausdruck von Inhalten und Gründen sein. Sie können den Spannungsbogen zwischen der Medienlogik und der Logik der Politik auch so schlagen, dass sich der Inhalt in der Inszenierungsoberfläche zeigt. Damit können sie ein weit größeres Publikum erreichen als Politik pur. Indessen, dieses demokratisches Potential wird selten ausgeschöpft, denn das kostet viel Zeit und damit Geld und es verlangt außer der formalen Medienkompetenz, die schnell erlernt ist und immer Erfolg verspricht, auch noch ein tiefes Inhaltsverständnis, das selten geworden ist und vom großen Publikum womöglich dann nicht einmal erkannt und honoriert wird. Aber eine Handvoll Qualitätsjournalisten in den Print- und Funkmedien zeigt uns, dass diese Gegenwelt möglich bleibt, Inseln für die politischen Aktivbürger.
Reflexive Mediatisierung
Für die Demokratie enthält die Ambivalenz der Inszenierungspolitik auch Chancen. Angebote zur reflexiven Mediatisierung der Politik als Weg aus der Beziehungskrise zwischen den Inszenierungspartnern aus Politik und Medien machen verantwortungsvolle Qualitätsjournalisten von Zeit zu Zeit, zwar selten mit den gewünschten Folgen, aber doch als Einladung zu einem nachdenklichen Innehalten. Der Zeit-Journalist Bernd Ulrich gab ein Beispiel: „Der ökonomische Druck, unter dem Zeitungen heute stehen, hat verschiedene Wirkungen, gute wie schlechte. Für diejenigen Medien, die ihr Geld vorwiegend mit politischem Journalismus verdienen, stellt sich eine besondere Herausforderung. Denn Politik- oder Politikerverdrossenheit sind längst endemisch geworden. Wie reagiert politischer Journalismus auf die Tatsache, dass sein Gegenstand immer unpopulärer wird? Zwei Strategien werden genutzt: Entweder der politische Journalist macht sich zum Sprachrohr der Politikerverdrossenheit und der Politikerverachtung, signalisiert, dass er die Politik genauso Ekel erregend und/oder langweilig findet wie die Leser, es aber besser ausdrücken kann. Dann profitiert er eine Weile von den Zerfallserscheinungen des Politischen. Eine nachhaltige Bewirtschaftung seines Berichtsgegenstandes ist das nicht. Der als verachtungsgierig gedachte Leser (wird) zum beständigen Grund für neue Enthemmungen gegenüber dem Gegenstand.
Solche Besinnung auf die Bedingungen der Nachhaltigkeit – gleichermaßen der Demokratie und ihrer Darstellung – könnte ein Anfang der Besserung sein. Der Bildersturm ist keine Alternative – vielleicht aber die gemeinsame Arbeit der Gesellschaft an einer neuen Kultur der Massenmedien. Sie müsste die Medien auch in der Inszenierungsdemokratie zum verlässlichen Anwalt des Publikums machen, der Politik zeigen, was sich in dieser Hinsicht lohnt und was nicht und dann vielleicht doch der Inhaltlichkeit und den langsameren Prozessen auch in der medialen Inszenierungswelt noch eine Chance lassen. Eine Art reflexiver Mediatisierung also. Ganz undenkbar ist das nicht. Versuche werden immer einmal wieder gemacht. Die Inseln angemessener Synthesen von Politik und Medialität im Meer des leeren Politainment könnten wenigstens wachsen und sich vermehren. Verantwortungsbewusste Journalisten, kritischere Bürger und eine lebendige Zivilgesellschaft, die beide stützt, können einiges dazu beitragen, ebenso wie die beharrliche öffentliche Diskussion der herrschenden Zustände.
Haltet den Dieb
Freilich sind die Strategien hochmütiger Selbstimmunisierung seitens der Leitwölfe unter den Einflussjournalisten nicht nur zahl-, sondern auch einflussreicher. Eine ästhetisch drapierte Selbstimmunisierung der Medien, die sie als bloßen Zeugen statt als hauptsächlichen Anstifter der mediokratischen Wende der Politik erscheinen lässt, hat in bewährter Virtuosität soeben Frank Schirrmacher geliefert. Er erklärt, die Inszenierungslastigkeit der Politik, ihre Entleerung von den eigentlichen politischen Inhalten und dem öffentlichen Einstehen für das, was ihre Logik in der Demokratie eigentlich ausmacht, zu einem Problem zwischen Politikern und Publikum, das die Medien mit einem gewissen Bedauern allenfalls beschreiben, registrieren oder beklagen können, zu dem sie aber selbst nichts beitragen. Das Publikum will demzufolge durch geschickte Inszenierungen betrogen werden, weil es ihm auf das Politische gar nicht ankomme und die Politiker, ganz demokratische Diener ihres Herrn, dem Volke, liefern eilfertig das Bestellte.
Wider Willen legt Schirrmacher damit eines der Hauptprobleme der Mediokratie offen. Es besteht in der Kombination von zwei gänzlich in der Verantwortung der Medienakteure, letztlich der Journalisten, liegenden Verhaltensweisen. Die eine ist die Selbstverständlichkeit, mit der sie immer das letzte Wort behalten, ohne sich in der Öffentlichkeit über Irrtum und Scheitern je Verantwortung ablegen zu müssen: Sie haben immer Recht und sie haben als Gatekeeper der medienbestimmten Öffentlichkeit alle Mittel in der Hand, sich damit am Ende stets durchzusetzen. Macht korrumpiert, wie wir wissen, absolute Macht korrumpiert absolut, wie Lord Acton erkannte, und die Medienmacht des garantierten letzten Wortes verleitet zu einer kommunikativen Arroganz, der Bescheidenheit und erst recht Selbstkritik immer fremder werden. Selbst die Journalisten, die zwei Jahrzehnte lang mit dem bloßen Nachbeten der neoliberalen Parolen bis zum Supergau der Finanzmärkte auf der ganzen Linie versagten, fahren mit ihren herrischen Kommentaren und kritiklosen Berichten fort, als wäre nichts geschehen.
Es kommt hinzu, dass in der Bundesrepublik in den letzten Jahren eine Generation neubürgerlich sozialisierter Nachwuchsjournalisten die Einflusspositionen der Redaktionen besetzt hat, die mit dem Status Quo ihren tiefen Frieden geschlossen hat. Zwei miteinander korrespondierende neubürgerliche Teilmilieus besetzen die Schlüsselrollen der Kommunikationskultur des Landes. Sie werden in den Begriffen der empirischen Sozialforschung neues Bürgertum und moderne Performer genannt. Sie sind das soziale Substrat der mit viel ideologischem Überschuss befrachteten Erfindung der „neuen Bürgerlichkeit“, einer durchaus originellen Mischung aus kultureller Dichtung und sozialer Wahrheit, mit einem überaus harten Interessenskern. Das neue Bürgertum neigt zum Cocooning, zum angenehmen Leben mit Freunden und Familie, gegen jede öffentliche Zumutung. Seine unstillbaren Abstiegsängste beschwichtigt es mit forciertem Berufserfolg, demonstrativer Leistungsorientierung und einem nach unten ostentativ abgrenzenden „bürgerlichen“ Habitus. Durchaus passend dazu, dass man Sloterdijks artistischen Privatheroismus als Gloriole dazu erkürt. Die Sinn-Dichtung zur „neuen Bürgerlichkeit“ kommt von einem fest bei den modernen Performern verankerten offensiven Journalisten-Milieu, zu dem sich geistesverwandte akademische Publizisten gesellen.
Die modernen journalistisch-publizistischen Performer, aus der Art geschlagene Erben des vormaligen Bildungsbürgertums, teilen drei Merkmale: Eine herausgehobene Rolle in den Deutungsapparaten der Mediengesellschaft, privilegierte ökonomische Positionsinteressen im mittleren und gehobenen Angestelltensegment und eine Hinwendung zu kulturellen Normen und gesellschaftlichen Deutungen, die die eigenen sozialen Positionsinteressen „mainstreamen“ und gleichzeitig die linke Thematisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse systematisch entlegitimieren. Das exemplarische Outing dieses neuen Habitus verdanken wir dem Spiegel-Journalisten Jan Fleischhauer („Unter Linken“). Es scheint, als haben sich spät berufene Fraktionen von Besitz- und Bildungsbürgertum zu einer Art kleiner Kommunikations-Bourgeoisie verschmolzen. Es ist ihre Mentalität, die im Begriffe ist, die mediale Hegemonie im Lande zu erobern.
Mit Web 2.0 nun die demokratische Wende?
Ändert nun aber die Verbreitung des Web 2.0 mit seinen historisch beispiellosen Möglichkeiten der massenhaften, selbstbestimmten Partizipation an demokratischen Debatten sowie der Generierung und Verbreitung von Informationen nicht alles? Twitter, Facebook, Youtube und andere soziale Formate sind für das interaktive Mitmachen geschaffen. Alle Inhalte dieser neuen Kommunikationsformen sind nutzergeneriert, nicht mehr von machtvollen Kommunikationszentralen bestimmt und bieten die Chance zu einer beliebig weitgehenden Vernetzung. Schon haben sie mehr als einmal ihr demokratisches, sogar revolutionäres Potential unter Beweis gestellt, etwa beim Sturz des serbischen Diktators Milosevic oder beim Aufstand der Gesellschaft gegen den iranischen Wahlbetrug im Jahr 2009. Vorbei an den staatlich kontrollierten oder domestizierten herkömmlichen Massenmedien Fernsehen, Radio, Zeitungen haben sie sich als geeignetes Instrument zur horizontalen Selbstverständigung gesellschaftlicher Akteure und zur Koordinierung ihres Handelns erwiesen und damit den manipulativen Einfluss der staatlich kontrollierten Großmedien unterlaufen. Im Obama-Wahlkampf verhalf entgegen aller Wahrscheinlichkeit die beispiellose Breitenmobilisierung durch Internetkommunikation dem anfangs chancenlosen Verheißungskandidaten zu einem grandiosen Wahlsieg. Sind das die Vorzeichen eines abermaligen Strukturwandels der Öffentlichkeit, diesmal in Richtung demokratischer Massenteilhabe? Bedeutet dies das absehbare Ende der Mediokratie, auch hier in Deutschland? Auf absehbare Zeit wohl kaum. Die beschriebenen Wirkungen sind, soviel ist erwiesen, in ungewöhnlichen Zeiten unter ungewöhnlichen Bedingungen für einen begrenzten Spielraum möglich und dann tatsächlich in der Lage, die Kommunikationsstrategien der großen Massenmedien zu durchkreuzen. Wie aber bereits die Rückkehr des Übergewichts der Murdoch-Medien in den USA und die erneute Dominanz der manipulativen Netzwerke lokaler Radiostationen mit ihrem wieder gewonnenen öffentlichen Einfluss zeigen, scheint die gesellschaftliche Mobilisierung durch Netzkommunikation als demokratisches Dauerphänomen eher unwahrscheinlich. Nach kurzen Phasen ihres Aufbrandens erobert sich das mediale Establishment den öffentlichen Raum schnell und durchdringend zurück.
Hier zu Lande sind zwei Drittel der Internetnutzer lediglich an Unterhaltung orientiert und nur ein reichliches Viertel an politischen Informationen. Und selbst von diesen sind die wenigsten aktive Kommunikatoren, die übrigen sind bloß passive Konsumenten der Kommunikation der anderen. Die wirklich interaktiven, horizontal vernetzenden Kommunikationsformate, Webseiten unterschiedlicher sozialer Netzwerke und NGOs-Webblogs und Ähnliches sind in ihrer Reichweite auf jeweils kleine Zielgruppen begrenzt, die sich überdies vermutlich weitgehend mit den aktiven Nutzern der Massenmedien decken. Auch die Parteien nutzen die neuen Möglichkeiten nur zaghaft und berauben durch ihre Neigung zur Kommunikationskontrolle ihre Web-Seiten der Attraktivität für jene, die nicht ohnehin an den offiziellen Kommunikationsforen beteiligt sind. Bislang scheinen folglich zwei aus der alten Medienwelt bekannte Tendenzen auch in der neuen Welt des Web 2.0 vorzuherrschen. Zum einen die Fortsetzung der aus der massenmedial bestimmten Öffentlichkeit bekannten Kommunikationsformen mit anderen Mitteln und zum anderen die Reproduktion oder sogar noch Verschärfung kommunikativer Ungleichheiten. Die aktiven Mediennutzer sind immer besser informiert, immer einflussreicher, der schlecht informierte Rest gerät immer weiter ins Hintertreffen. Es zeigt sich, dass nicht die neuen technischen Möglichkeiten, sondern nur die Kultur ihrer Handhabung eine Veränderung erwarten ließe. Sie lässt noch auf sich warten. Die Mediokratie behauptet das Feld. Entwarnung ist nicht in Sicht.